Nicaragua | Nummer 507/508 - Sept./Okt. 2016

FREILAUFENDER TIGER

EIN KOMMENTAR VOM EX-VIZEPRÄSIDENTEN UND SCHRIFTSTELLER SERGIO RAMÍREZ ZU DEN PRÄSIDENTSCHAFTSWAHLEN IN NICARAGUA AM 6. NOVEMBER

Von Sergio Ramírez Mercado, Übersetzung: Carlos Ampié Loría

In Nicaragua bewegen wir uns auf Präsidentschaftswahlen zu, die keine echten sein werden. Selbstverständlich ist alles im Voraus entschieden worden, damit der Comandante Daniel Ortega sie zum dritten Mal hintereinander gewinnt. Es gibt keine glaubwürdigen Oppositionskandi­daten, denn diejenigen, die es waren, sind durch einen Beschluss des Hohen Gerichtshofs, welchen der Hohe Wahlrat am selben Tag umsetzte, von den Wahlen ausgeschlossen worden. Diese Wahlen werden ohne internationale Beobachter stattfinden, weil sie der Präsident der Republik höchstpersönlich für unerwünscht erklärt hat. Und ohne eine zumindest minimal glaubwürdige Wahlbehörde, da sie der Regierung unterworfen ist. Was in einem darüber hinaus zerrissenen institutionellen Gefüge des Landes noch bleibt, ist deren absolutem und allgegenwärtigem Willen unterworfen.
Weder gibt es aktuell, noch wird es auf den Straßen oder auf dem Fernsehbildschirm einen enthusiastischen kontrastreichen Wahlkampf geben, noch Meinungsumfragen, die Wahltendenzen zeigen, welche sich von einen Tag auf den nächsten ändern könnten, ebensowenig Debatten zwischen Kandidaten, die in der Lage wären, diese Umfragen zu beeinflussen. Kurz gesagt, all das, was heutzutage als etwas Normales in all den Ländern gilt, in denen das demokratische System gedeiht, und die Macht durch faire Wahlen entschieden wird. Die einzigen Massenkundgebungen werden die des offiziellen Kandidaten sein, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Staatsmitteln, und dahinter der Propagandaapparat der Regierungspartei, fähig die Straßen mit Fahnen und Plakaten zu überfluten,  und die unter offizieller Kontrolle stehenden Radio- und Fernsehsender mit Slogans und Spots. Praktisch eine einzige Partei, die in einem einzigartigen Raum Wahlkampf führt. Es ist was man in gutem nicaraguanischen Spanisch „Kampf des freilaufenden Tigers gegen einen gefesselten Esel“ zu nennen pflegt.
Das Land entfernt sich immer mehr von dem, was man das durchschnittliche Modell der politischen Entwicklung in Lateinamerika nennen könnte. Trotz ökonomischer Krisen, sozialer Unruhen und sogar institutioneller Ungewissheit, sind die demokratischen Wege (in den anderen Ländern) immer noch offen, und die Entscheidung der Wähler*innen wird respektiert. Und selbst im Falle sehr knapper Ergebnisse – so wie bei den vor kurzem durchgeführten Wahlen in Peru – stellt niemand die faire Zählung der Stimmen in Frage, und der Wahlbetrug scheint vom politischen Panorama verbannt zu sein.
Normal funktionierende Demokratie in Bezug auf Wahlen ist natürlich nicht alles, sie beseitigt nicht  per se die gravierenden sozialen Diskrepanzen, noch schiebt sie der Korruption einen Riegel vor, diesem wiederkehrenden Laster, das das gesamte System in Schach hält, wie man in Brasilien gesehen hat. Doch nirgendwo, außer in Nicaragua, ist die absolute Machtkonzentration die Tendenz, und die Demontage der Institutionen, bis sie in reine Dekoration umgewandelt sind, die morgen  ganz von den Bühnen verschwinden werden, weil sie nutzlos sind.
Unter diesem Konzept der absoluten Macht zeigt sich das Regime immer intoleranter, wie man es gesehen hat bei der jüngsten Ausweisung ausländischer Bürger, unter ihnen US-Amerikaner, die in unser Land kommen, um bürokratische Aufgaben oder akademische, soziale oder politische Recherchen oder journalistische Reportagen über Themen durchzuführen, die zu Tabus geworden sind – solche wie die Armut oder den großen Interozeanischen Kanal, oder einfach um sich an ökologischen Programmen in ländlichen Gemeinden zu beteiligen. Dies hat dazu geführt, dass drei Länder – Mexiko, die USA und Costa Rica – ihre Bürger vor den Risiken einer Reise nach Nicaragua öffentlich gewarnt haben.
Doch die regierende Elite fühlt sich sicher und zuversichtlich. Sie baut auf die Gunst der Umfragen, auf eine organisierte und unter Kontrolle gehaltene Basis, die durch den Staatsapparat zu den öffentlichen Plätzen und auch zu den Wahlurnen mobilisiert werden kann und auf einen effektiven und treu ergebenen repressiven Polizeiapparat. Auf der anderen Seite befindet sich die Opposition –  dezimiert oder als illegal erklärt – aber es gibt genügend „Parteien“, die bereit sind, gegen Abgeordnetensitze und andere Posten an dem Wahlspiel teilzunehmen, so wie es in Nicaragua seit Somozas Zeiten (Somoza-Diktatur 1936-1979, Anm. d. Red.) gang und gäbe gewesen ist.
Und vor allem die Apathie ist in Mode. Die Bedürfnisse des täglichen Überlebens haben mehr Gewicht als das Interesse für die Demokratie und der Respekt vor den institutionellen Regeln. Auf den Straßenkundgebungen, die freie und faire Wahlen fordern, versammelt sich nur eine Handvoll Leute. Die einzigen, die in der Lage waren, die ländliche Bevölkerung in großen Mengen zu mobilisieren, sind die Anführer der Bewegung, die ihr Eigentum in den vom Bauprojekt des Großen Kanals gefährdeten Regionen verteidigen. Eine Bewegung, die unter der städtischen Bevölkerung kaum Anklang findet.
Das Regime baut auch auf seine Allianz mit dem Privatunternehmertum, das gelernt hat, sich vor Comandante Ortegas heftigem Diskurs gegen den US-Imperialismus und den Kapitalismus nicht zu ängstigen. Die Goldene Regel dieser Beziehung lautet, dass die politischen Angelegenheiten von den Verhandlungstischen ausgeschlossen bleiben, an welchen die wirtschaftlichen Themen besprochen werden. die sich wiederum an dem vom Internationalen Währungsfonds empfohlenen Rahmen anpassen.
Diese politischen Maßnahmen haben es möglich gemacht, dass die staatlichen Bilanzen ein gewisses Wachstum aufweisen, dennoch ein weniger rasches als der Zuwachs an neuen Millionär; sie haben weder eine nennenswerte Reduzierung der Armut herbeigeführt, auch  nicht der Arbeitslosenquote, noch haben sie Nicaragua aus der Liste der rückständigsten Länder Lateinamerikas herausgeholt, in der wir Haiti den Schlusslichtplatz streitig machen.
Und die USA wissen, dass es hinter der feurigen Rhetorik Ortegas gar keine reale Gefahr für die Interessen ihrer hemisphärischen Sicherheit gibt. Die jüngste Ausweisung US-amerikanischer Funktionäre ist zu einem – wenn überhaupt – störenden Vorfall heruntergespielt worden. Das in Nicaragua vorhandene Modell der Abschaffung der Demokratie steht keineswegs  im Widerspruch zu der alten These Washingtons darüber, dass das, was am meisten zählt, wenn man Lateinamerika zum Fokus der Politik macht, die Stabilität ist, die besteht, bis der Vulkan ausbricht. Doch noch gibt es keine seismischen Erschütterungen, die darauf hinweisen würden, dass etwas Ähnliches sich bald ereignen könnte.
Die Stimmen sind also im Voraus gezählt. Es ist, als ob die Wahlen von November dieses Jahres bereits stattgefunden hätten.

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