Ganz oben in der Mordstatistik
Die Zahl der Opfer in Mexikos Drogenkrieg steigt weiter an
„Alle sollen abhauen“. „Wenn ihr unfähig seid, tretet zurück“. So hießen die Aufforderungen an die argentinischen PolitikerInnen in den Jahren 2000/2001. Ende August 2008 war die mexikanische Politikerklasse Adressat. „Que se vayan todos“, „Si no pueden, renuncien“ waren die am häufigsten skandierten und immer wieder auf Spruchbändern zu lesenden Worte während der landesweiten Demonstrationen gegen Gewalt und Unsicherheit im Land. Insgesamt gingen am 30. August mehrere hunderttausend MexikanerInnen auf die Straße. Die meisten davon in der Hauptstadt. Ganz in Weiß waren sie gekommen und mit einer Kerze in der Hand, so wie es die bürgerlichen und konservativen OrganisatorInnen vorgeschlagen hatten. Letztere wollten wohl vor allem der rechten Regierung von Präsident Felipe Calderón den Rücken stärken für seine mit einer Militarisierung ganzer Bundesstaaten einhergehenden Bekämpfung des Drogenhandels. Stattdessen kam aber mehrheitlich die Wut über den gesamten Staatsapparat zum Ausdruck. Dieser scheint weder in der Lage noch wirklich Willens zu sein, die das Land überziehende Gewaltwelle zu stoppen.
Vielfach bleibt den MexikanerInnen nur der Galgenhumor. Bevor es ihr Olympia-Team in Peking nach einer mageren Bronzemedaille am Ende doch noch auf zwei Goldmedaillen brachte, machte ein Witz die Runde. Wenigstens bei der Zahl der Drogenmorde und der organisierten Kriminalität sei das Land unangefochten die Nummer Eins. Die Medien hatten gerade hochgerechnet: Waren in 2007 gut 2.650 Menschen dem sogenannten Drogenkrieg zum Opfer gefallen, wurde diese Zahl in diesem Jahr bereits Mitte August erreicht. Dazu kam der Aufsehen erregende Fall des 14-jährigen Fernando Martí, Sohn eines bekannten mexikanischen Unternehmers. Als der Vater eine hohe Lösegeldsumme für den entführten Fernando zahlte, war dieser längst ermordet worden. Ermittlungen ergaben, dass sehr wahrscheinlich Polizei- und Sicherheitskreise die Entführer mit Informationen über die Familie Martí versorgten. Unabhängig vom konkreten Fall gehen ExpertInnen davon aus, dass die Drogenmafia im Kidnapping längst ein weiteres lukratives Betätigungsfeld entdeckt hat.
Der makabre Verbrechensrekord war im August Anlass für einen beispiellosen, von höchster Stelle initiierten „Sicherheitsgipfel“. Die GouverneurInnen aller 31 mexikanischen Bundesstaaten, der Bürgermeister der Hauptstadt, Präsident Felipe Calderón und VertreterInnen der Justiz, der Medien, der Kirchen und der Gewerkschaften unterschrieben als Ergebnis einen „Nationalen Pakt“ für Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit. Mit mehr als 70 Einzelmaßnahmen soll laut Abkommen die Sicherheitslage im Land in den nächsten Jahren drastisch verbessert werden. Viele BeobachterInnen bezweifeln allerdings positive oder entscheidende Wirkungen des Paktes. Das Wochenmagazin Proceso schrieb sogar von einem „zur Show gewordenen Scheitern“.
Trotz einzelner triumphaler Erfolgsmeldungen der Regierung machen los narcos, die Drogenhändler, dem Staat das Gewaltmonopol zusehends streitig. Vordergründig handelt es sich dabei weniger um eine Konfrontation zwischen Staat und Drogenmafia, sondern um eine immer brutaler geführte Auseinandersetzung zwischen den Drogenkartellen selbst. Dabei rollen inzwischen im wahrsten Sinne des Wortes die Köpfe, wie zuletzt im südlichen Bundesstaat Yucatán, wo elf in Drogengeschäfte verwickelte Männer enthauptet wurden. In erster Linie sind es das Juárez- und das Sinaloa-Kartell im Landesnorden, die sich im Streit um Transport-routen und Verkaufsplätze bekriegen. Doch die Drogenfehden haben sich praktisch auf das ganze Land ausgeweitet. Die ebenfalls konservative Vorgängerregierung von Vicente Fox (2000-2006) vermittelte lange Zeit den Eindruck, die Lage sei nicht so schlimm, solange sich die Kartelle gegenseitig umbrächten. Eine krasse Fehleinschätzung. Denn möglich war die Entwicklung der vergangenen Jahre nur in einem Umfeld der Straffreiheit und dadurch, dass die narcos anscheinend immer größere Teile des Polizeiapparates und der Justiz übernehmen. So liegt die Aufklärungsrate von Straftaten in Mexiko bei gerade einmal einem Prozent.
Die Calderón-Regierung hat als Antwort bisher den repressiven Weg gewählt. Der massive Einsatz des als weniger korrupt geltenden Militärs beim Vorgehen gegen die Drogenkartelle zeitigt aber nach 20 Monaten kaum Erfolge. In acht Bundesstaaten patrouillieren mehr als 25.000 Soldaten. Gemordet wird trotzdem weiterhin, oft nur wenige Straßenzüge entfernt. Kommt es zur direkten Konfrontation zwischen Armee und narcos, so steht die Drogenmafia in Punkto Feuerkraft den Soldaten in nichts nach. Offiziell verzeichnete das Militär in 2007 und 2008 fast 60 Gefallene. Die Zahl der toten PolizistInnen in diesem Zeitraum ist wesentlich höher. Dabei dürften diese meist wegen ihrer Verwicklung ins Drogengeschäft und nicht wegen dessen Bekämpfung umgebracht worden sein. Bei der vorgesehenen Schaffung neuer polizeilicher Elite-Einheiten besteht daher die Gefahr, dass sie wie in der Vergangenheit einfach von den Kartellen abgeworben werden. Höhere Strafmaße und die in den vergangenen Wochen AnhängerInnen gewinnende Forderung nach der Wiedereinführung der Todesstrafe stehen zur Zeit bei der Bevölkerung hoch im Kurs, haben aber nach Ansicht von StrafexpertInnen keine abschreckende Wirkung. Nichtregierungsorganisationen befürchten sogar, dass bei den Rufen nach höheren Strafen und schärferem Vorgehen gegen die Kriminalität die Grundfreiheiten untergehen könnten. Erst Anfang September wies amnesty international mit Blick auf Mexiko darauf hin, dass es öffentliche Sicherheit ohne Menschenrechte nicht geben kann. Negativbeispiel für den Einsatz der neuen Richtlinien auch gegen soziale Bewegungen ist die Verhängung einer absurd hohen Haftstrafe gegen Ignacio del Valle, einen der führenden Köpfe der bäuerlichen Protestbewegung aus dem Dorf San Salvador Atenco (siehe Kurznachrichten), just während auf dem Sicherheitsgipfel über „Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit“ gesprochen wurde.
Das wahre Versagen des mexikanischen Staates zeigt sich aber nicht im militärisch-polizeilichen Schattenboxen gegen die narcos. Vielmehr kann eine sich selber bereichernde politische Elite weiten Teilen der Bevölkerung keine ökonomische Perspektive bieten, geschweige denn ein Leitbild vorgeben. So ist inzwischen in Mexiko eine richtige narco-Kultur entstanden, die bei vielen nicht negativ besetzt ist. Die Kartelle verfügen unter diesen Rahmenbedingungen über eine unerschöpfliche Reservearmee. Diese ist sowohl bei den internen Abrechnungen als auch in den Auseinandersetzungen mit den staatlichen Sicherheitskräften einsetzbar. Die im September 2007 verhaftete Sandra Ávila, von der mexikanischen Bundesstaatsanwaltschaft als „Pazifikkönigin“ zum wichtigen Bindeglied zwischen mexikanischen und kolumbianischen Kartellen hochstilisiert, bestätigte diese Entwicklung: „Der narco breitet sich aus und sein Geld macht es möglich, dass ganze Dörfer und Familien auf dem Land nicht mehr hungern. Die Realität ist wie sie ist.“ Eine Realität, in der die gesamte Gesellschaft immer mehr von den narcos durchdrungen wird. Und in der das Leben nur einen sehr begrenzten Wert hat. In den Tagen nach dem Sicherheitsgipfel in Mexiko-Stadt ist die Zahl neuer Opfer im Drogenkrieg so gut wie jeden Tag zweistellig gewesen.