Gegen die Kultur des Schweigens
Paulo Freire zum Gedenken
75 Jahre alt ist er geworden. Allein sechzehn davon mußte er im Exil leben, weil die brasilianischen Militärdiktatoren ihn nach dem Staatsstreich 1964 wegen seiner so erfolgreichen Alphabetisierungsarbeit unter der armen Bevölkerung als „Subversiven“ ins Gefängnis warfen. Er hatte eine Methode der Conscientizaçâo, der politischen Alphabetisierung, entwickelt, die das Erlernen des Lesens und Schreibens mit einer kollektiven Kulturarbeit verband. Im Exil in Chile schrieb Paulo Freire sein bekanntestes, bis heute in 16 Sprachen übersetztes Buch „Die Pädagogik der Unterdrückten“. Es wurde inzwischen in aller Welt mehr als 500.000 Mal verkauft. In der Arbeit mit den Bauern in Chile war Freire erneut bestätigt worden, was schon seine zentrale Erkenntnis in Brasilien gewesen war, daß nämlich die alltägliche Erfahrung von Gewalt die Unterdrückten zum Schweigen bringt. Sie werden gehorsam und „verlernen“, die Wirklichkeit als ein Machtverhältnis zu erkennen. Anstatt die Täter bzw. die Ursachen der Ungerechtigkeit anzuklagen, fühlen sie sich ohnmächtig, internalisieren die Werte der Unterdrücker und verdrängen die eigene Leidenserfahrung.
Befreiung, soziale Gerechtigkeit, Frieden, – dieses waren die großen Themen, denen sich Freire in den Jahren beim ökumenischen Weltrat der Kirchen annahm, wo er von 1971 bis 1980 arbeitete. Von hier aus konnte er die jungen, gerade an die Macht gelangten Befreiungsbewegungen in Afrika bei ihren Alphabetisierungskampagnen unterstützen. In Nicaragua, aber auch in verschiedenen Ländern Asiens, war er Berater von Bildungsministerien und sozialen Bewegungen. Insbesondere die Erfahrungen in Afrika beeindruckten Freire tief, weil hier die traumatisierenden, entfremdenden Auswirkungen kolonialer Systeme im sozio-kulturellen Kontext multiethnischer Gesellschaften sehr deutlich wurden. Wie später auch in Nicaragua versuchte Freire, mit den staatlichen Bildungsinstitutionen die Freiräume für eine Demokratisierung der Erziehung zu nutzen und hierbei gleichzeitig die Anerkennung und Förderung interkultureller bzw. autonomer Bildungsansätze zu ermöglichen. „Die Briefe aus Guinea Bissau“ geben einen tiefen Einblick in den Konflikt Zentralstaat versus Multiethnizität und die große Verantwortung, die die Erziehung in der Vermittlung und Förderung des Dialogs hat.
Diese zweite Epoche Freires Wirkens endete 1980, als er nach der Redemokratisierung Brasiliens erneut eine Einreisegenehmigung in sein Land erhielt. Er lebte von jetzt an in Sâo Paulo und widmete sich vornehmlich bildungspolitischen Fragen, unterrichtete an verschiedenen Universitäten und war von 1989 bis 1991 Bildungsminister von Sâo Paulo, dem bevölkerungsreichsten brasilianischen Bundesland. Insbesondere in seiner hohen politischen Funktion machte Freire durch seine menschliche Haltung im Umgang mit alltäglichen, bürokratischen Problemen deutlich, daß die Schule und die staatlichen Behörden in einer autoritären Tradition stehen, die ihrer eigentlichen Aufgabenbestimmung entgegenstehen. Schritt für Schritt „vermenschlichte“ er die Schule, ausgehend von der Sorgfalt, mit der die Gebäude von den NutzerInnen gepflegt werden, das Hausmeister- und Küchenpersonal zu respektierten TeilnehmerInnen im Schulkollegium werden oder die LehrerInnen mehr Anerkennung durch bessere Löhne und eine engere Elternarbeit erhalten. In diesen Jahren war er unermüdlich im In- und Ausland unterwegs, um über die große Bedeutung der Lehrerperson für die Bildung von Kindern zu sprechen. Seine Bücher aus dieser Zeit konzipierte er in dialogischer Briefform, meos livros falados (meine gesprochenen Bücher), wie er diese außergewöhnlich kommunikativen wissenschaftlichen Reflexionen nennt.
Nach seinem Rücktritt von dem Regierungsamt 1991 began Freires vierte Schaffensperiode. Er setzte sich zunehmend mit Fragen zu Umwelt und Globalisierung auseinander, formulierte immer neue Kritiken am Neoliberalismus und wurde in seinem Land Brasilien zu einer ethischen Instanz. Je mehr das Diktat der Wirtschaft die sozialen Bewegungen bedrängt bzw. zerstört, desto notwendiger wird seine Stimme der Hoffnung. Eine Stimme, deren Verstummen einen großen Verlust für Lateinamerika und die Welt bedeutet.