Chile | Nummer 291/292 - Sept./Okt. 1998

Gewaltsame Versöhnung

Der Putschtag ist kein Feiertag mehr – doch wem ist damit gedient?

Eine der in den Tagen um den 11. September meistzitierten Adressen Santiagos ist die Nummer 80 der Straße Morandé. Nur: An dieser Stelle weist nichts auf einen Hauseingang hin. Morandé 80 existiert nicht, genauer gesagt: nicht mehr. Dennoch besitzt die Adresse für viele ChilenInnen einen hohen symbolischen Wert. Denn wo sich heute die Taxikolonnen an einer kahlen Wand des Moneda-Palastes entlangquälen, befand sich bis zum Wiederaufbau des Regierungssitzes nach dem Bombardement am 11. September 1973 der „Präsidenteneingang“, durch den auch Salvador Allende seinen Amtssitz zu betreten pflegte, zum letzten Mal in den Morgenstunden des Putschtages.

Claudius Prößer

Spätestens seit dem Ende der Diktatur ist Morandé 80 zu einem Stein des Anstoßes geworden. Präsident Patricio Aylwin hatte am 11. September 1990 den DemonstrantInnen, die der Opfer des Putsches und der Greuel des Militärregimes gedachten, erlaubt, Allende mit einer Kranzniederlegung an der unsichtbaren Tür zum Palast zu ehren; ein zweites Mal, als sich der Putsch zum zwanzigsten Mal jährte. Seitdem halten es die Mitglieder des Kabinetts aus Christdemokraten und Sozialisten nicht mehr für opportun, ihren Landsleuten diese Symbolhandlung zu gewähren. Vielmehr tun sie dies stellvertretend selbst, und sie riskieren damit jedes Mal von neuem gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei durch die Gruppen, die sich von dieser Verweigerungshaltung düpiert fühlen. Auch am 25. Jahrestag des Staatsstreiches.
Im Vorfeld des diesjährigen once, wie der 11. September gemeinhin genannt wird, hatte ein Ereignis für gehörigen Aufruhr im politischen Szenario gesorgt. Nach langen Jahren zähen Kampfes gegen den seit 1980 zum Gedenken an die „Befreiung vom marxistischen Chaos“ von Pinochet diktierten Feiertag wurde der Forderung der Linken nach seiner Abschaffung endlich Gehör gegeben. Einstimmig beschloß der chilenische Senat, daß dieser once zum letzten Mal als rote Zahl auf den Kalenderblättern vermerkt sein solle. Ein Triumph der Demokratie, wäre nicht Pinochet höchstselbst der Initiator dieser unerwarteten Maßnahme gewesen. Daß der General i. R. und Senator auf Lebenszeit dies nicht aus später Reue tat, liegt allerdings auf der Hand. Ein kurzfristiger Erfolg seiner Taktik läßt sich in diesen Wochen bereits beobachten: Er hat damit einen neuen Spaltpilz in den Reihen der regierenden Concertación gesät. Indem er die Abschaffung des Feiertages direkt mit dem christdemokratischen Parlamentspräsidenten Andrés Zaldívar aushandelte, gelang es ihm, den schwelenden Konflikt zwischen den Verbündeten der Democracia Cristiana und dem sozialdemokratischen Block aus Partido Socialista (PS) und Partido por la Democracia (PPD) erneut anzufachen. Für PS und PPD, die im kommenden Jahr endlich ihren gemeinsamen Spitzenmann Ricardo Lagos als Präsidentschaftskandidaten der Concertación sehen wollen, hat Zaldívar, Wunschkandidat der Christdemokraten, damit Verrat an der gemeinsamen Sache begangen. Der Ex-Diktator dürfte sich angesichts dessen genüßlich die Hände reiben.

Änderungen im Terminkalender

Außerdem bedeutet die scheinbare Normalisierung des 11. September nicht, daß der autoritären Rechten ihre Symbole abhanden gekommen sind. Als Ersatz für den umstrittenen Gedenktag wurde ein „Tag der nationalen Einheit“ als beweglicher Feiertag eingeführt. An jedem ersten Montag im September darf nun weitergestritten werden, worin denn die Voraussetzungen für eine derartige Einheit oder für die von vielen Seiten – mit unterschiedlicher Interpretation – geforderte Versöhnung bestehen könnten. Jene Institutionen und gesellschaftlichen Gruppen, die den Putsch vor fünfundzwanzig Jahren erhofft oder herbeigeführt hatten, werden auch den neuen Feiertag zu einem Jubeltag deklarieren. Und die traditionellen Feierlichkeiten im Rahmen der Streitkräfte dürften auch weiterhin am angestammten Termin zu beobachten sein.
Zumindest sorgte die Rücknahme des once bereits in diesem Jahr für bemerkenswerte Variationen im chilenischen Veranstaltungskalender. Gemeinsam mit der katholischen Kirche lud die Regierung zu einer Messe am 8. September ein, zu der auch Präsident Frei erschien, welcher wiederum davon absah, der seit Aylwins erstem Amtsjahr zur Tradition gewordenen Eucharistiefeier im Regierungspalast am 11. beizuwohnen.
Bemerkenswerterweise zogen auch Marine, Luftwaffe und Polizei ihre Gedenkfeiern vom 11. auf den 8. September vor. Das Heer wollte nicht so weit gehen, beschränkte sich allerdings in diesem Jahr auf eine Veranstaltung mit „privatem Charakter“ in der Militärakademie, zu der die Presse nicht zugelassen wurde. Auch Pinochet sah von öffentlichen Erklärungen ab. Bei Regierungsvertretern stießen diese Gesten auf sichtbares Wohlwollen. „Ein neues Zeichen der Suche nach Versöhnung“ nannte Innenminister Raúl Troncoso die ungewohnte Zurückhaltung.

Tränengas gegen Kränze

Obwohl all diese Maßnahmen auf eine Entspannung des 11. abzielten, war die Gewalt wie üblich das prägende Element des Datums. Während nach der Messe im Monedapalast der sozialistische Regierungssprecher Jorge Arrate zusammen mit anderen VertreterInnen von PS und PPD und einstigen Freunden Allendes ein Blumengebinde auf dem Gehweg vor Morandé 80 niederlegte, sammelten sich wenige hundert Meter entfernt die TeilnehmerInnen des Protestmarsches, zu dem Menschenrechtsorganisationen und die Kommunistische Partei aufgerufen hatten. Nach offiziellen Angaben nur 3500 Menschen, mit Sicherheit jedoch weniger als in den vergangenen Jahren, setzten sie sich in Bewegung, um nach dem Zug durch die Innenstadt einer zentralen Kundgebung am Mapocho-Bahnhof beizuwohnen und im Anschluß Allendes Grab und das Mahnmal für die Ermordeten und Verschwundenen zu besuchen. Wie kaum anders zu erwarten war, unternahmen einige Gruppen den Versuch, die untersagte symbolische Ehrung in der Seitenstraße des Palastes doch noch zu vollziehen. Hier kam es zum ersten Mal zum Einsatz von Wasserwerfern und Tränengasgranaten. Auch die Kundgebung wurde von der Polizei gewaltsam abgebrochen, und auf dem Hauptfriedhof spielten sich bis in die Abendstunden kriegsähnliche Szenen zwischen den altehrwürdigen Mausoleen der chilenischen Elite ab. Am Nachmittag waren bereits über hundert DemonstrantInnen festgenommen worden, es gab etliche Verletzte. Zwei jugendliche Demonstranten erlagen ihren Verletzungen wenig später.
Diese traurige Bilanz erinnert nur zu sehr an die Ereignisse der letzten Jahre. Eine neue Qualität besitzen die Vorkommnisse zur fünfundzwanzigsten Wiederkehr des Putschtages aus zwei Gründen: Einerseits überstieg die Polizeipräsenz deutlich die der vorangegangenen Male. Die Regierung der Concertación wollte offenbar keinen Zweifel daran lassen, daß sie den richtigen Weg zur Aussöhnung selbst definiert. Andererseits waren es ausgerechnet extrem gewaltbereite Jugendliche, die in mehreren Situationen den friedlichen Protestmarsch umkippen ließen. An mehreren Stellen kam es zu Plünderungen und Zerstörungen, die offensichtlich Selbstzweck besaßen und wenig politisches Bewußtsein vermuten lassen. Das Innenministerium sprach von einem Hooligan-Phänomen, nahm allerdings die OrganisatorInnen des Marsches aus der Verantwortung.
Die kommenden Jahre werden zeigen, ob das bisherige Schicksalsdatum once sich durch den symbolischen Akt der Feiertagsaufhebung seinen gewohnten Charakter einbüßen wird. Die schwindende Zahl derer, die bereit sind, für ihre Forderungen nach Gerechtigkeit auf die Straße zu gehen, aber auch die politische Entleerung der Gewalthandlungen im Rahmen des Protestes lassen befürchten, daß die Rechnung der Regierung aufgeht: Sie monopolisiert den Prozeß der „Versöhnung“ und hofft darauf, daß die überwältigende Mehrheit der ChilenInnen sich früher oder später angewidert von den chaotischen Szenen abwendet, die sie mit dem 11. September mehr als dessen eigentlichen tragischen Hintergrund assoziieren wird. Diese Mehrheit sieht Innenminister Troncoso bereits auf dem richtigen Weg: „Die kommende Regierung wird ein versöhntes Land vorfinden.“

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