Guatemala | Nummer 591/592 - September/Oktober 2023

Hoffnung auf einen zweiten demokratischen Frühling

Ex-Generalstaatsanwältin Thelma Aldana im Interview

Thelma Aldana war von 2014 bis 2018 Generalstaatsanwältin in Guatemala. Für die Wahlen 2019 sollte sie als Präsidentschaftskandidatin der Partei Movimiento Semilla nominiert werden, für die nun Bernardo Arévalo die Stichwahl gewonnen hat. Doch noch vor ihrer Registrierung beantragte die Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl gegen sie. Aldana floh in die USA, wo sie seither im Exil lebt. Das Time Magazine ernannte sie 2017 zu einer der einflussreichsten Personen der Welt und in Anerkennung ihres Kampfes gegen Korruption und Straflosigkeit wurde Thelma Aldana 2018 mit dem Right Livelihood Award ausgezeichnet.

Von Markus Plate
(Foto: Fred Ramos via wikimedia commons (CC BY-SA 4.0))

Thelma Aldana, wie ernst ist die Lage in Guatemala heute, fast 30 Jahre nach dem Ende des bewaffneten Konflikts?

Guatemala befindet sich immer wieder in einer Krise, aber diesmal ist es eine dauerhafte und sehr tiefe Krise. Consuelo Porras, die Generalstaatsanwältin, ist die Bannerträgerin eines Rachefeldzugs, den sie gegen diejenigen von uns führt, die gegen die Korruption kämpfen – ob als unabhängige Justizakteure, als unabhängige Presse, als unabhängige Menschenrechtsverteidiger*innen. Der Fall von José Rubén Zamora (dem 2022 verhafteten Herausgeber der mittlerweile eingestellten Tageszeitung El Periódico, Anm. d. Red.) ist ein Beispiel dafür wie Porras den Justizapparat nutzt, um gegen Gegnerinnen vorzugehen. Das Gleiche hat sie mit uns gemacht. Consuelo Porras wurde von der Regierung der Vereinigten Staaten auf die Engel-Liste gesetzt (eine Liste des Außenministeriums mit Individuen, die aufgrund von Korruption oder Angriffen auf die Demokratie aufgefallen sind, Anm. d. Red.) und ist somit als korrupte Amtsträgerin gebrandmarkt. In ihr haben wir also eine Vertreterin dieser dunklen Sektoren Guatemalas.

Von 2006 bis 2019 arbeitete in Guatemala die CICIG, die UN-Kommission gegen Korruption und Straflosigkeit in Guatemala. Als Generalstaatsanwältin haben Sie gemeinsam mit dem damaligen CICIG-Leiter Iván Velásquez Korruptionsnetzwerke aufgedeckt und strafrechtlich verfolgt. Wir erinnern uns an den Fall La Línea und den Sturz von Ex-Präsident Otto Pérez Molina und seiner Vizepräsidentin Roxana Baldetti. Wie müssen wir uns hier in Europa diese Netzwerke und diesen „Pakt der Korrupten“ vorstellen? Wie funktionieren sie? Was ist ihre Funktion und ihr Umfang? Wer und wie viele sind daran beteiligt?

Als wir die Untersuchungen mit der CICIG durchführten, kamen wir zu dem Schluss, dass es sich um illegale, politische und wirtschaftliche Netzwerke handelt, die tief im guatemaltekischen Staat verankert sind. Sie bestehen schon seit Jahrzehnten. Dazu gehören Korrupte aus Politik, Justiz und Behörden, von Polizei und Armee, der Oberschicht und der Wirtschaft. Wir als Generalstaatsanwaltschaft haben diese Netzwerke im Jahr 2015 zwar sehr, aber nicht ausreichend in Bedrängnis gebracht, weil wir nicht genug Zeit hatten. Ein Teil des Mandats der CICIG war es, dafür zu sorgen, diese CIACS genannten illegalen Einrichtungen und geheimen Sicherheitsapparate aufzulösen, die während des internen bewaffneten Konflikts Menschen entführt, gefoltert und getötet hatten. Diese Strukturen blieben nach Ende der Diktatur bestehen, blieben im guatemaltekischen Staat verankert und wurden zu den Korruptionsnetzwerken, von denen wir heute sprechen.

Handelt es sich bei diesem „Pakt der Korrupten“ nur um ein illegales Bereicherungsnetz oder um eine De-facto-Macht unter der Fassade der Demokratie?

Beides. Es ist ein Pakt, um zu regieren, die Demokratie zu kapern. Die Kontrolle, die sie über die staatlichen Institutionen erlangt haben, nutzen sie, um sich selbst zu bereichern, um die Ressourcen des Staates zu plündern. Und sie lenken die Politik, sie lenken die politischen Parteien, sie lenken den Kongress. Sie gehen ziemlich intelligent vor! Zuerst lassen sie Gesetze verabschieden, zum Beispiel für das Justizsystem. Sie wollen schwache Gerichte und Tribunale, und schwächen so bewusst die Institutionen. Dann machen sie sich an die politischen Prozesse. Alle vier Jahre gehen wir in Guatemala in eine Stichwahl, und wir alle wissen, dass dort zwei Korrupte zur Wahl stehen. Wir, denen uns Guatemala am Herzen liegt, sagen dann: „Lasst uns wenigsten den am wenigsten Schlechten wählen“, und der am wenigsten Schlechte entpuppt sich dann als schlimmer als derjenige, der zuvor Präsident war. Das ist die dramatische Geschichte Guatemalas.

Welche Hoffnung verbinden Sie mit Bernardo Arévalo?

Die Antikorruptionsbewegung wird vor allem von jungen Menschen zwischen 18 und 35 Jahren getragen. Sie haben es geschafft, Arévalo bis in die Stichwahl zu tragen. Es sind informierte junge Menschen, die die Situation in Guatemala begriffen haben und sich der Verantwortung stellen. Das stimmt mich hoffnungsvoll. Aber die Herausforderungen sind natürlich riesig. Der Kampf gegen die Korruption ist sicherlich zentral. Es braucht auch dringend Maßnahmen gegen Armut, gegen Rassismus und Diskriminierung. Für die öffentliche Sicherheit erwarte ich nicht nur die Durchsetzung einer demokratischen Kriminalpolitik, die auf dem Papier ja schon besteht, sondern viel mehr Gewaltprävention. Und ich erwarte mir deutliche Symbole der neuen Regierung: Eine paritätische Besetzung von Regierungsämtern mit qualifizierten Frauen und Männern, einen deutlich höheren indigenen Anteil, die Implementierung eines anerkannten Ehrenkodexes samt Nachweis fachlicher Eignung für öffentliche Ämter, begleitet von Rechenschaftspflicht und Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit. Aber die neue Regierung nimmt ja erst am 14. Januar 2024 ihre Arbeit auf. Da habe ich schon Sorgen, was der „Pakt der Korrupten“ bis dahin, zum Beispiel durch Generalstaatsanwältin Porras, noch unternehmen könnte.

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