Literatur | Nummer 361/362 - Juli/August 2004

“Hungere, und ich werde Dich belohnen”

Das Brot des Patriarchen ist das außergewöhnliche Erstlingswerk des Brasilianers Raduan Nassar

Er schreibt in Bildern. Raduan Nassar skizziert in seinem lyrischen Roman die konfliktreiche Jugend des Bauernsohnes André, der unter der diktatorischen Hand seines Vaters leidet. Doch André rebelliert und bricht die Macht des Patriarchen.

Saskia Vogel

Der Buchdeckel klappt zu, die Lektüre ist beendet. Der Leser fühlt sich abrupt aus der literarischen Welt des Autors Raduan Nassars entrissen. Zurück bleibt eine zunächst unbestimmte Empfindung. Das Brot des Patriarchen – dieses Buch ist etwas Besonderes. Doch woran liegt das? Woraus begründet sich das Gefühl, einen „Solitär“ der brasilianischen Literatur – um mit den Worten des Übersetzers Berthold Zilly zu sprechen – gelesen zu haben?

Auszug und Heimkehr in die Katastrophe
Die Handlungslinie ist es nicht. Diese ist einfach und in wenigen Worten zusammengefasst: Der 17jährige André ist von der heimischen Fazenda im Südosten Brasiliens geflüchtet. Es ist die Flucht vor seinem Vater, patriarchisches Oberhaupt einer christlich-libanesischen Familie. Die Handlung spielt um 1900 und setzt in einer schäbigen Kleinstadtpension ein, in die der ältere Bruder Pedro gekommen ist, um André zurückzuholen. Die Rückkehr in die Familie wird mit einem großen Fest zelebriert, das in einer Katastrophe endet. Ana, die Schwester Andrés, erscheint und tanzt in dionysischer Wildheit zur Musik. Der Vater – „von göttlicher Wut besessen“ – stürzt mit einem Säbel auf sie los und wird selbst hingestreckt.
Die unerhörte Begebenheit ist eingetreten, die Wendung – mit dem Tod des Vaters fällt das Patriarchat – vollzogen. Die Handlungslinie würde damit die entscheidenden Kriterien einer Novelle erfüllen, aber: Das Brot des Patriarchen ist ein lyrischer Roman.

Der verlorene Sohn
Denn das Buch ist vielschichtiger, hintergründiger und verwickelter. Es ist von großer Komplexität, und diese wird vor allem durch eines erreicht – den brillianten Stil. Dieser ist es, der Raduan Nassars lyrischen Roman als Solitär auszeichnet. Der Autor bedient sich einer außergewöhnlichen literarischen Bildsprache. Metaphern, Allegorien und Symbole, angereichert durch islamische und christliche religiöse Liturgie, evozieren eine dichte, poetische Prosa. Sie ermöglicht dem Leser einen intimen Blick auf längst zurückliegende Ereignisse und Gedanken des Ich-Erzählers André, alternierend zwischen verschiedenen Zeit- und Erzählebenen. Und der Leser erfährt pikante Details: Etwa vom inzestuösen Tabubruch zwischen André und seiner Schwester Ana, der „orientalischen Tänzerin“, mit der es ein Wunder war „mit unserer Vereinigung die gemeinsame Kindheit weiterleben“ zu können. Ana heißt im Arabischen „Ich“. Die Schwester ist Teil der psychisch gefährdeten Identität Andrés. Die überwältigende Liebe des Bruders zu ihr sprengt die Grenzen des Familiengefüges.

Fluchtpunkt Vater
Der Vater ist es, der die festgefügte „Kathedrale“ seiner sieben Kinder und Ehefrau zusammenhält, ein Ort voller Missverständnisse und Kommunikationslosigkeit. Die Geduld ist für den Patriarchen oberstes Gebot. In philosophischen Predigten ergeht er sich über den Sinn und die zyklische Langsamkeit der Zeit, und wirkt dabei nahezu liebevoll und verletzlich. Doch die zelebrierte Langsamkeit hat auch ihre Schattenseiten, da sie die Freiheit und persönliche Entwicklung einschränkt.
Programmatisch hierfür ist eine in die Mitte des Romans eingefügte Parabel. „Hungere, und ich werde Dich belohnen“ ist ihr übergeordneter Sinn. Die Belohnung ist das Brot. Das Brot des Patriarchen ist somit als Allegorie auf die subtil psychologische Machtausübung des Vaters zu verstehen. Gleichzeitig offenbart sich in ihr der zentrale Konflikt: André fügt sich den hierarchischen Konstellationen nicht. Er rebelliert, legt in der Familie einen Flächenbrand und dreht die Verhältnisse um. Er ist nicht mehr der demütig Bittende gegenüber dem Wohltäter, sondern versetzt „mit der verblüffenden, ungeheuren Kraft seines Hungers, dem schön- und weißbärtigen Greis einen heftigen Faustschlag.“ Doch die Loslösung vom Elternhaus misslingt. André kehrt heim und fügt sich seinem Vater zunächst erneut – bis zu dessen Tod.

Das Brot von Nassar
Raduan Nassar skizziert mit seinem 1975 in Brasilien erschienenen Erstlingswerk ein feinsinniges psychologisches Porträt der konfliktreichen Jugend Andrés. Doch die Betonung muss auf Skizze liegen. An einigen Stellen dominiert die reine Bildlichkeit über die Handlung – und verstellt dem Leser das Verständnis für das Werk. Versuchte man, den Stil Raduan Nassars in Das Brot des Patriarchen nachzuahmen, so müsste dieser Satz bis zum Ende der Rezension gehen. Oder weit darüber hinaus. „Schütteln, umdrehen und von hinten querdurch noch einmal lesen“, so könnte eine Anweisung lauten, um sich den vollen Lesegenuss zu erschließen. Gleichzeitig wecken gerade bewusst gelassene Lücken und assoziativ aneinandergereihte Szenen die Neugierde des Lesers und regen zu Interpretationen an. So sehen einige Literaturkritiker das Buch als politisch: Das Familienpatriarchat als Sinnbild für die 1975 in Brasilien herrschende Militärdiktatur, ein Regime ohne Fluchtmöglichkeit.
Raduan Nassar, Jahrgang 1935, sagte einmal in einem Interview, dass er an Das Brot des Patriarchen sein Leben lang geschrieben hätte. Tatsächlich durchlief die Genese des Buchs einen langen Prozess. Autobiographische Aspekte – der Autor ist selbst Sohn einer libanesischen Einwandererfamilie – klingen in dem Roman an. Anders als André ist Raduan Nassar seine persönliche Flucht gelungen. Raus aus der Metropole São Paulo, rein in das brasilianische Hinterland. Hier besitzt er eine Fazenda. Das Schreiben hat er – leider – eingestellt, stattdessen widmet er sich der Landwirtschaft. Hauptprodukt ist Getreideanbau – Getreide für das Brot.

Raduan Nassar: Das Brot des Patriarchen. Aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Berthold Zilly. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004, 147 Seiten, 18,90 Euro.

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