“Ich hasse Filme mit einer Botschaft”
Regisseur Murilo Salles will in “Como nascem os anjos” mit Gut und Böse brechen
Wie entstand die Idee, den Film “Como nascem os anjos” zu drehen?
Sie entstand aus der Notwendigkeit, einen neuen Zugang zur Frage der sozialen Ungleichheiten in Brasilien zu finden. Und zwar einen Zugang, der sich vom alten Soziologismus und der stark neorealistisch geprägten Strömung des frühen ‘Cinema Novo’ abheben und diese Frage auf ihren formalen Kern bringen würde, nämlich das Absurde. Es ist ein absurder Film, der die Absurdität der sozialen Ungleichheit in Brasilien diskutiert.
Am Anfang des Films zeichnen Sie mit den Einstellungen in der Favela Dona Marta ein ziemlich realitätsnahes Bild vom Leben in den Slums von Rio. Glauben Sie, daß Ihr Film ein wahres Bild vom Leben in Brasilien vermittelt?
Nein. Ich versuche, zum Neorealismus auf Distanz zu gehen. Obgleich die Einstellungen die Realität wiedergeben, sind die Figuren von Branquinha, Japa und Maguila drei Repräsentanten jenes unendlichen sozialen Gewebes, das wir als FAVELA bezeichnen. Der Film tritt in das Leben dieser drei Personen ein, die spezifisch sind und ihre klar umrissenen Eigenarten haben. Sie vertreten aber nicht “ALLE” BewohnerInnen einer FAVELA.
Welche Rolle spielt das deutsche Fernsehteam in den ersten Szenen des Films?
Das Team des Deutschen Fernsehens – es könnte auch irgendein anderes Team aus irgendeinem Land der Welt sein – ist in dem Maße präsent, wie ein internationales Interesse an dieser Art Gemeinschaft und gesellschaftlicher Organisation besteht, die wir FAVELA nennen und die ihre eigenen, sehr charakteristischen Figuren hervorbringt.
Warum sind die Hauptopfer Ihrer Geschichte US-Amerikaner beispielsweise Ausländer? Was wäre der Unterschied, wenn es BrasilianerInnen wären?
Es wäre ein ganz anderer Film geworden. Es war entscheidend, daß das “besetzte” Haus einem “Gringo” gehörte – irgendeinem Gringo, ich habe nur aus drehtechnischen Gründen einen Amerikaner ausgesucht -. Denn wenn dort BrasilianerInnen gewohnt hätten, hätte dieser Brasilaner entweder die Lage besser beherrscht – weil er sich ausgekannt hätte -, oder er hätte stärker zur Aggressivität tendiert. Das wollte ich vermeiden, denn ich wollte keinen Film über die Gewalt drehen, die von zwischenmenschlichen Beziehungen ausgeht, sondern einen Film über die Gewalt, die von der Ungleichheit ausgeht. Als “Gringo” kennt sich der Hausherr eben nicht so gut mit dem aus, was passiert, mit den drei zumindest merkwürdigen Figuren. Er handelt feierlicher, vorsichtiger, ängstlicher. Das brachte mich darauf, die Rolle mit einem Ausländer zu besetzen.
Wie haben Sie die Kinderdarsteller für den Film gefunden?
Wir haben sechs Monate lang intensiv unter jungen Kleindarstellern in den Volkstheatergruppen und jungen Theaterschulen Rio de Janeiros gesucht.
Wie in anderen Filmen auf dem diesjährigen Berliner Festival spielt das Fernsehen in “Como nascem os anjos” eine entscheidende Rolle, in einigen Szenen erscheint es sogar wichtiger als das wirkliche Leben. Wie würden Sie die Rolle des Mediums Fernsehen im heutigen Brasilien einschätzen?
Das Fernsehen ist im Falle Brasiliens überaus wichtig. Ich möchte ohne Übertreibung sagen, es ist fast unmöglich, eine Vorstellung von der brasilianischen Kultur zu bekommen, ohne zu versuchen, die Bedeutung dieses Mediums in Brasilien zu verstehen. Wir haben ein stark konzentriertes Fernsehen – ein einziger Kanal vereint sechzig Prozent der Zuschauer auf sich. Das Fernsehen ist sehr mächtig und von hoher kultureller Sprengkraft. Es wird einerseits für einen hohen Kolonisationsgrad eines politischen Modells verantwortlich gemacht und steht gleichzeitig der Konkurrenz der brasilianischen Kultur bejahend gegenüber.
Was ist die Botschaft des Films? Und warum haben Sie ein so fatales Ende gewählt?
Ich hasse Filme mit einer Botschaft. In Wahrheit endet der Film mit dem rückwärts geschriebenen Titel “Como nascem os anjos”, und er hört mit dem bloßen “COMO” (WIE) auf der Leinwand auf. Ich glaube, ich habe versucht, einen antimanichäistischen Film zu machen, der mit der moralischen Achse des Hollywood-Kinos mit seinem Gut und Böse bricht. Wie müssen über diese Frage hinauskommen, um die Dinge verstehen zu können. Und wir müssen über die “Botschaft” hinwegkommen, denn sie wird immer enger sein als die Verständnisfähigkeit eines künstlerischen Ganzen.
Ihr Film ist in Brasilien bereits gezeigt worden. Wie hat ihn das Publikum in Ihrer Heimat aufgenommen? Und wie haben die KritikerInnen reagiert?
“Como nascem os anjos” wurde schon in Rio de Janeiro und in Sâo Paulo gezeigt.
Die “Paulistische Gesellschaft der Kunstkritiker” wählte ihn zum besten Film des Jahres und die “FilmkritikerInnen-Vereinigung” in Rio de Janeiro zum besten brasilianischen Streifen.
Denken Sie, daß Ihr Film Auswirkungen auf die brasilianische Gesellschaft haben kann?
Ich glaube, dazu wurde er gemacht. Er hat sie bereits.
Abschließend noch einige allgemeine Fragen zum brasilianischen Filmschaffen. Welche Rolle spielt das Kino heutzutage überhaupt in Brasilien?
Die Bedeutung des brasilianischen Kinos liegt heute darin, neue Themen auf das Tableau zu bringen, Raum für die kulturelle Diskussion über die Fragen in Brasilien zu schaffen und in erster Linie Raum für das Imaginäre unserer Kultur zu bieten.
Nach einer vierjährigen Pause hat das brasilianische Kino offenbar seine Agonie überwunden. Welche Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten sehen Sie für brasilianische Filme in der Zukunft?
Ich sehe den Ausweg für das brasilianische Kino in der Radikalisierung seiner kulturellen Achse. Wir müssen aufpassen, denn es besteht die Versuchung von Seiten der intelligenten “Vormundschaft” der Filmkritik und der internationalen Festivals der Länder der ersten Welt, sich zu “bemühen”, auf Filme zu stoßen, die Brasilien und seine Themen als die eines armen Landes behandeln. Wir sind keine “armen Schweinchen”, und unser Wunsch, in diesen erlauchten internationalen Kreis aufgenommen zu werden, bedeutet nicht einfach, das Bild eines armen Landes zu verkaufen. Aber für unser Überleben und unser Fortbestehen ist dieser Kreis unerläßlich, weil der Inlandsmarkt nicht die Kosten für brasilianische Filme deckt. Selbstnachsichtige brasilianische Filme wie “Como nascem os anjos” ist ein Beweis für das genaue Gegenteil. Ein Beweis für das klare Konzept unserer existentiellen Entwicklung, ohne Schuldgefühl, ohne Minderwertigkeitsgefühle, weil wir arm sind. Dafür, sich nicht zu schämen, Brasilianer zu sein.