Alternative Medien | Nummer 372 - Juni 2005

Ich sehe was, was du nicht siehst

Die (politische) Schablone erobert die Metropolen

Was siehst du? Bis zur Perfektion skizzierte Figuren, neueste Werbetechnik oder Siebdruck in Serie? Das stencil (deutsch: Schablone) – so der Name dieser Straßenkunst – kokettiert mit Bedeutungen. Symbole, Objekte aus der Vergangenheit, bekannte Logos und Gesichter, mit Designprogrammen vervielfältigt, werden omnipräsent auf Wände gesprüht und dort auch rezipiert. Die „Graphik-Guerilla“ hat die Fusion geschafft: unaufdringliche Intervention, qualitatives Design und unkontrollierte Verbreitung.

Lara Lipkin, Celeste Orozco, Übersetzung: Olga Burkert

Unbegrenzt ist die Zahl der Perspektiven in der Welt der stencils. Es gibt genau so viele wie Blicke, die auf das stencil fallen. Alles hängt von der Kombination ab: Jemand entwirft ein Symbol und bringt es an einen bestimmten Ort im öffentlichen Raum. Der Blick der Vorübergehenden fällt zufällig darauf – ein Dialog entsteht. Zwei Subjektivitäten kommen auf der bemalten Wand in dem Zeichen zusammen. Beim stencil handelt es sich im Gegensatz zum traditionellen Graffiti um Bilder, nicht um Worte.
Pop, Kunst, Technik, Serien-Reproduktion, Witz, Werbung, Logo oder Kontralogo. Laut der Gruppe Burzaco Stencil aus Buenos Aires hat das stencil den Vorteil, nicht eindeutig zu sein. „Teils Kunst, teils Verbrechen,“ fügt Federico, Sprecher von Run Don’t Walk, hinzu. Es ist einfach nur ästhetisches Vergnügen oder eine Erfahrung von Bedeutung, die sich stets aufs Neue wiederholt. Das wahrgenommene Werk losgelöst von der ausführenden Intention, das Werk ohne definiertes Objekt oder EmpfängerIn, die Möglichkeit der Mehrdeutigkeit für die BetrachterInnen – und alles auf einen Blick.

Bitte lächeln!

Der Schlüssel für die Lektüre liegt in der Abwesenheit eines Schlüssels. Höchstens ein kleiner Hinweis, ein Text als Augenzwinkern für die BetrachterInnen. „Abhängig von deinem kulturellen Hintergrund bedeutet das stencil etwas für dich oder bleibt nur eine Schmiererei auf der Wand“, erklärt Federico. „Es ist spontan. Eine billige und effiziente Form, ein Zeichen zu hinterlassen.“ Der Sinn des stencils: mit der Welt in Kontakt treten, ein Lächeln vor der bemalten Wand erreichen.
Die Herrschaft des Systems zwingt Symbole auf, das stencil ironisiert sie. „Wir verstehen die stencils als eine politische Intervention in den öffentlichen Raum, die auf dem Recht der Widerrede basiert,“ erklärt Martín von StopWars. Entweder bedeutet das Logo, was es ist, oder die Bedeutung wird durch die Grafik auf der Straße mittels Komik unterwandert. „Wir versuchen zu überraschen und einen andersartigen mentalen Prozess bei den BetrachterInnen zu provozieren, indem wir die gleichen Elemente und Kodizes wie das System benutzen und in Satire verwandeln“, betont Doma, eine argentinische stencil-Gruppe.
Der Diskurs der stencils präsentiert sich ohne Umwege, auf sehr direkte Art und Weise. Ein kostenloser ästhetischer Genuss als Auslöser für Diskussionen. Urbane Kunst als politische Intervention also: Eine Eroberung der Stadt durch das stencil, die den öffentlichen Raum demokratisiert.

Dies ist eine gekürzte Fassung des Artikels „Veo Veo“ der Zeitschrift Cortejar, N°5, aus Buenos Aires. revistacortejar@fibertel.com.ar
Die Fotos der stencils in diesem Schwerpunkt wurden ebenfalls von Cortejar zur Verfügung gestellt.


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