Mexiko | Nummer 293 - November 1998

„Ich weiß nicht, warum die Regierung alle Überlebenden vernichten möchte“

Neue Strategien gegen vermeintliche Mitglieder der Guerilla

Der Krieg der Regierung gegen die Guerilla geht weiter. Während in der Vergangenheit Aktivisten, die vom Militär entführt wurden, auf immer spurlos verschwunden waren, tauchen jetzt einige der Verschwundenen wieder auf. Sie erzählen eine andere Geschichte des Krieges.

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Einer der überlebenden Bauern des Massakers von Aguas Blancas, Joviel Rafael Ventura, und ein Bauer aus Tepetixtla, Salomé Aguirrè Bahena sind angeklagt, Mitglieder der ERPI (Ejército Revolucionario del Pueblo Insurgente) zu sein. Beide gehören der zivilen Bauernorganisation OCSS (Organización Campesina de la Sierra del Sur) an.
Elf Tage lang wurden sie in verschiedenen Militärgefängnissen gefoltert und verhört. Am 19. August schließlich brachte man Aguirrè Bahena und Rafael Ventura vor den föderalen Gerichtshof von Acapulco, wo man sie zwang, vorgefertigte Papiere zu unterzeichnen. Diese besagen, daß sie der ERPI angehören und an verschiedenen Entführungen teilnahmen, um die Guerilla zu finanzieren.
Erklärung von Salomé Aguirré Bahena: “Ich werde ohne Haftbefehl durch die Polizei des Staates gefangengehalten. Sie schlugen und stießen mich in einen Lastwagen, verbanden mir die Augen und beschuldigten mich, an Entführungen teilgenommen zu haben. Vom 9. bis zum 20. August hielten sie mich gefangen, bis ich schließlich Papiere unterzeichnen mußte, von denen ich nicht weiß, was sie besagen. Während elf Tagen brachten sie mich von einem Ort zum anderen, wo sie mich schlugen, bedrohten und mir eine Plastiktüte aus Nylon über den Kopf stülpten. Sie stießen mir in den Magen, flößten mir Wasser in die Nase, drückten meinen Hals zu. Am 20. August präsentierten sie mich dem Gerichtshof. Es waren dieselben Polizisten, die mich zwangen, Maschinengewehre in der Hand zu halten, während sie mich fotografierten. Ich werde des Waffenhandels mit Militärgewehren angeklagt.”
Erklärung von Joviel Rafael Ventura: “In Acapulco nahm mich die örtliche Polizei gefangen. Sie stießen mich ohne Haftbefehl mit Schlägen in einen Lastwagen. Sie beschuldigten mich, Entführer zu sein und brachten mich zur Comandancia, wo sie mich schlugen, fesselten und mir die Augen verbanden. Dann brachten sie mich an einen anderen Ort, vielleicht einen Strand, da ich Sand unter meinen Füßen fühlte. Dort folterten sie mich mit einer Plastiktüte über dem Kopf und Schlägen. Sie flößten mir Wasser in die Nase, und während sie mich mit einer Pistole am Kopf bedrohten, beschuldigten sie mich der Entführungen. Sie sagten: Du wirst sterben, Schweinehund. Am 20. August präsentierten sie mich der Comandancia, wo sie Fotos von mir mit Waffen in der Hand aufnahmen. Sie beschuldigten mich, mit Waffen zu handeln. Während sie mich folterten, nannten sie immer wieder den Namen meines Bruders Florente, den sie in Aguas Blancas erschossen haben.
Seit dem 28. Juni 1995, dem Tag des Massakers von Aguas Blancas, sind sie mir gefolgt. Ich bin einer von denen, die im Lastwagen waren, als das Militär 17 Bauern hinrichtete. Ich weiß nicht, warum die Regierung alle Überlebenden vernichten möchte.”

Entführte kehren zurück

Mit Aguirrè Bahena und Rafael Ventura sind es zwölf Bauern und Mitarbeiter ziviler Organisationen, die in den vergangenen zwei Monaten beschuldigt wurden, direkt oder indirekt für die ERPI zu arbeiten. Im letzten Jahr wurden nahezu 50 Mitarbeiter ziviler Organisationen entführt und gefoltert. Einige tauchten Monate später wieder auf, mit Narben im Gesicht und blauen Flecken. Sie kehrten in ihre Dörfer zurück und erzählten von der Folter. „Das ist eine neue Strategie der mexikanischen Regierung“, sagt Maribel Gutiérrez, Journalistin in Guerrero. „Sie versuchen, die Guerilla und die Mitarbeit in zivilen Organisationen zu schwächen. Die Menschen haben Angst, sich politisch zu engagieren. Sie haben Angst, für ihre Rechte zu kämpfen oder die ERPI zu unterstützen.“
Die ERPI, die vorwiegend in der Küstenregion und im Zentrum Guerreros agiert, begreift sich als direkte Vertretung der Bevölkerung. Sie beruft sich auf ihren Ursprung in der Partido de los Pobres, die seit der Epoche von Lucio Cabañas direkt auf die Wünsche und Bedürfnisse des Volkes reagierte. So sagte der Commandante Santiago der Zeitung EL SUR über das Massaker in El Charco am 07. Juni diesen Jahres: „Wir haben Nachforschungen angestellt, um die Wahrheit über diese Nacht zu erfahren. Jetzt, da die Regierung keine Gerechtigkeit ausübt, sowie das Militär beschützt und ihnen Straffreiheit garantiert, garantieren wir, daß die Verantwortlichen des Massakers in El Charco gefunden und bestraft werden.“

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