Chile | Nummer 236 - Februar 1994

Immer noch Folter in Chile

Vier Jahre nach dem offiziellen Ende der Militärdiktatur wird im chilenischen Strafvollzug aufgerüstet. Ein Hochsicherheitstrakt nach westeuropäischem Vorbild ist bereits fertiggestellt. Besonders für die politischen Gefangenen werden sich die Haftbedingungen verschlechtern. Allgemein ist es um die Menschenrechte in Chile immer noch schlecht bestellt.

Ingrid Laininger

Die Menschenrechtssituation in Chile

“Wahrheit und Gerechtigkeit! Wir werden die Menschenrechtsverletzungen aufklären! Wir werden die Täter identifizieren und verurteilen.” Dies hatte der derzeit noch amtierende Präsident Patricio Aylwin 1989, noch vor seiner Wahl, angekündigt. Dieses Wahlversprechen hat er in seiner vierjährigen Amtszeit nicht einmal annähernd eingelöst. Zwar richtete er im April 1990 die “Nationale Kommission für Wahrheit und Versöhnung” ein (sie ist nach dem Namen ihres Vorsitzenden Raúl Rettig unter dem Namen Rettig-Kommission bekannt geworden), die für die Regierung einen Bericht über schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen in der Zeit der Militärdiktatur (September 1973 – März 1990) erstellte. Dabei ging sie jedoch nur einem Bruchteil der Verbrechen nach.
Tausende von Beschwerden über Folterungen wurden nicht untersucht. Nur dem kleinen Kreis von Opfern, die im Rettig-Bericht aufgeführt sind, wird im Rahmen eines im Januar 1991 verabschiedeten Gesetzes eine monatliche Entschädigung gewährt. Die Ermittlungen bei Anzeigen gegen Polizeibeamte wegen Mitwirkung an Folter gehen nur schleppend voran.
Unter dem Deckmantel der Demokratie gibt es auch heute noch Menschenrechtsverletzungen. Die fundamentalen Rechte auf Arbeit, Wohnung, Gesundheitsversorgung, Bildung und würdigen Altersruhestand sind, genau wie früher, nur für Teile der Bevölkerung gewährleistet.
Repression durch die Polizei ist nach wie vor an der Tagesordnung (Vgl. LN 233 u. 234). Wie sollte es auch anders sein, sind die Polizisten der Diktatur und der “Demokratie” doch dieselben geblieben, und heißt doch auch der Oberbefehlshaber des Militärs in Chile immer noch Augusto Pinochet.

Die Situation der politischen Gefangenen

Seit März 1990, also seit dem formellen Ende der Militärdiktatur, sind mehr als 300 Menschen aus politischen Gründen inhaftiert worden. Von ihnen befinden sich zur Zeit noch ca. 200 in Haft. Die Mehrheit von ihnen wird in Santiago, in den Gefängnissen San Miguel und der Ex-Penitenciaria (ehemaliges Zuchthaus) im Süden Santiagos festgehalten. Unter den Gefangenen sind 15-20 Frauen, die entgegen nationalen und internationalen Normen im Männergefängnis untergebracht sind. Sie leben in der ständigen Gefahr, belästigt und vergewaltigt zu werden. Immer noch in Haft befinden sich außerdem fünf politische Gefangene der Diktatur. Sie waren 1986 am Attentat auf Pinochet beteiligt.
Die politischen Gefangenen leben auf engstem Raum und unter unzumutbaren hygienischen Bedingungen. In jahrelang immer wieder durchgeführten Hungerstreiks haben sich die politischen Gefangenen jedoch zumindest einige Freiheiten erkämpft. So können sie in der Besuchshalle relativ ungestört mit ihren Angehörigen und FreundInnen sprechen und sogar politische Veranstaltungen duchführen. (Am ersten Jahrestag der Flucht von acht Gefangenen aus dem Gefängnis am 10.10.1992 fand z.B. eine politische Kundgebung statt. Damals waren drei der Flüchtlinge entkommen, die fünf anderen gefaßt, gefoltert und drei von ihnen umgebracht worden.) Bisher waren bis zu sieben Besuche pro Woche möglich, einschließlich Intimkontakt. Doch auch diese Freiheiten wird es bald nicht mehr geben! Im Oktober 1993 wurde innerhalb des Santiagoer Gefängnisses “Ex-Penitenciaria” ein moderner Hochsicherheitstrakt fertiggestellt, der sicherlich einem deutschen Stammheim in nichts nachsteht.

“Stammheim” in Chile

Der neukonstruierte Hochsicherheitstrakt kann 600 Personen aufnehmen. Gleichzeitig wurde in Colina, einem Vorort Santiagos ein weiterer eingerichtet.
Innerhalb der letzten Jahre hatte der chilenische Innenminister Krauss (Oberster Chef der Carabineros und jetziger Kripovorsitzender) die BRD, Frankreich, Spanien und Italien bereist, um sich über die hiesigen Haftbedingungen und Erfahrungen in der “Terrorismusbekämpfung” zu informieren.
Die neuen Haftbedingungen, soweit sie bekannt sind, werden folgende sein: eine Begrenzung der Besuchszeit auf einmal innerhalb von 14 Tagen und auch nur durch direkte Familienangehörige, nicht mehr als vier gleichzeitig. Die Kommunikation kann dabei nur durch eine Trennscheibe erfolgen. Nach westeuropäischen Vorbild soll auch in Chile Isolationshaft eingeführt werden. Dabei wird nicht nur auf die psychische Vernichtung der Häftlinge und die Zerschlagung ihrer Organisationsmöglichkeiten spekuliert. Seit Juli 1992 existiert innerhalb der “Gendarmería” (ein Teil der Polizei, der nur im Knast eingesetzt wird,) eine Eliteeinheit (GEAM) zur Aufstandsbekämpfung. Sie wurde schon wiederholt bis hin zum Schußwaffeneinsatz eingesetzt, um Gefangenenproteste und -aufstände zu beenden. Sie wird unter den neuen Bedingungen ungestört ihre Willkür ausüben können.
Die politischen Gefangenen werden voraussichtlich im März 1994, wenn Eduardo Frei das Präsidentschaftsamt übernommen hat, verlegt. Erfahrungen zeigen, daß es dabei Tote geben könnte, vor allem, da die Gefangenen der FPMR (Frente Patriótico Manuel Rodriguez) angekündigt haben, mit allen Mitteln gegen die Verlegung zu kämpfen.

Immer noch wird gefoltert

Chile ist zwar Mitunterzeichner der Anti-Foltererklärung der UNO, doch die Realität sieht anders aus. Die Organisation Politischer Gefangener O.P.P., der Mitglieder der militanten Oppositionsgruppe FPMR (Frente Patriótico Manuel Rodriguez), der Kommunistischen Partei (P.C.), der Unabhängigen Linken sowie Teile des MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria) angehören, gab Mitte des Jahres 1993 eine Dokumentation mit dem Titel “Folter in Chile 1990-1993” heraus. Darin berichten 75 politische Gefangene über ihre Behandlung durch die Polizei in genanntem Zeitraum.
Die Ergebnisse der Studie sind erschrekkend. 67 der 75 befragten Befragten geben an, psychisch gefoltert worden zu sein. Größtenteils handelt es sich dabei um (Mord-)Drohungen gegen Familienangehörige. In einigen Fällen waren die Gefangenen sogar dabei, als ihre Familienangehörigen gefoltert wurden oder mußten es mitanhören. Die Gefolterten stehen vor der Wahl, entweder ihre Familie oder ihre MitstreiterInnen “verraten” zu müssen. Gerade unter diesem massiven Druck sind vielfach (falsche) Geständnisse zustande gekommen.
66 Gefangene sagen aus, geschlagen worden zu sein. Dazu zählen unter anderem Fausthiebe, Fußtritte, Ohrfeigen und Schläge mit Gummiknüppeln bei der Festnahme sowie danach. 55 Gefangene geben an, oft tagelang gefesselt gewesen zu sein, sei es mit Augenbinden, Knebel, Aufhängen an den Handgelenken oder Festbinden in unbequemen Positionen! 51 von ihnen wurde Essen, Kleidung, Schlaf, Wasser oder/und hygienische Einrichtungen entzogen. 30 berichten von Folter mit Elektroschocks. Eine weitere vereinzelte auftretende Foltermethode ist herbeigeführte Atemnot – bis hin zu Erstickungsanfällen. In zwei Fällen kam es zu Vergewaltigungen.
Vielfach wurden die Gefangenen unter Folter gezwungen, Geständnisprotokolle zu unterschreiben, ohne sie vorher gelesen zu haben. Oder es wurden einfach Unterschriften auf Blankoblättern erzwungen.
Vorwiegend werden die Folterungen und Mißhandlungen von der uniformierten Polizei begangen, allerdings gibt es auch Klagen gegen die Kriminalpolizei (Investigaciones). Häufig wird in Beschwerden über Folter auch das Dritte Polizeirevier Santiagos (Tercera Comisaria) genannt. Dabei handelt es sich um die Zentrale der DIPOLCAR (Dirección de Inteligencia de la Policía de Carabineros), vermutlich eine Art Nachfolgeorganisation des chilenischem Geheimdienstes CNI. Die DIPOLCAR wurde im Mai 1990 zur Bekämpfung von Angriffen bewaffneter Oppositionsgruppen gegründet.

Die “Inkommunikationshaft”

Als Inkommunikationshaft wird die Zeit direkt nach der Festnahme bezeichnet, in der die (politischen) Gefangenen ohne Kontakt zur Außenwelt stehen. Unter dem Militärregime (und auch unter der Regierung Aylwin) fanden in dieser Zeit die häufigsten Folterungen statt und wurden die meisten Geständnisse erzwungen. Auf dieser Grundlage erfolgt dann die Verurteilung. Bis 1991 enthielt die Strafprozeßordnung (CPP) eine Klausel, die den Militäranklägern erlaubte, die auf höchstens 15 Tage festgeschriebene Inkommunikationshaft, nach Überstellung in ein Gefängnis in einigen Fällen auf bis zu zwei Monaten auszudehnen. Mit Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 19.047 im Februar 1991 kann heute einE GefangeneR nur noch höchstens 20 Tage in Inkommunikationshaft gehalten werden: 15 Tage in Polizeigewahrsam und 5 weitere Tage nach Überstellung in ein Gefängnis.
Insgesamt soll das Gesetz 19.047 die Sicherheitsgesetze reformieren sowie den Gefangenen mehr Rechte und Schutz garantieren. So sollen Gefangene in Inkommunikationshaft die Möglichkeit haben, täglich bis zu einer halben Stunde Rechtsbeistand zu empfangen sowie von einem/r unabhängigen Arzt/ Ärztin untersucht zu werden. Doch auch dieses Gesetz wird nicht immer beachtet. Menschenrechtsanwälte reichten bei den Behörden Beschwerden darüber ein, daß ihnen von den Carabineros wiederholt der Zugang zu Personen in Polizeigewahrsam verweigert worden sei.
Schreibt (alle) Protestbriefe an: Presidente de la Republica Patricio Aylwin, Palacio de la Moneda, Santiago, Chile.

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