In Rio greift das Militär ein
Tatsächlich hat in den letzten Jahren die Gewalt in Rio immer bedrohlichere Ausmaße angenommen. In dem Zeitraum von 1985 bis 1991 sind in Rio 70 061 Menschen ermordet worden, und die Tendenz ist weiter steigend. In der Altersgruppe von 15 – 45 Jahren ist der gewaltsame Tod die häufigste Todesursache. Die alltägliche Gewalt in Rio existiert in vielfachen Formen. Am augenfälligsten ist die Verbindung von bewaffneter Macht und Drogenhandel. In den Armenvierteln von Rio, den Favelas, haben lokale Drogenbosse das Sagen. Sie verfügen über bestens ausgerüstete bewaffnete Gefolgschaft, um den Drogenhandel zu kontrollieren. Seit dem letzten Jahr hat, anscheinend aufgrund der Verhaftung einiger Schlüsselfiguren, der Kampf unter den Drogenbanden um Einflußgebiete zugenommen. Diese Kriege werden mit aller Heftigkeit geführt und lassen immer wieder die Bevölkerung ins Kreuzfeuer der rivalisierenden Gruppen geraten. Im größten öffentlichen Krankenhaus Rios hat sich die Zahl der Personen, die wegen Schußverletzungen behandelt werden müssen, seit 1984 vervierfacht.
Der Staat hat in den Favelas offensichtlich das Gewaltmonopol verloren. Die Drogenbanden verfügen über das im Golfkrieg eingesetzte Maschinengewehr AR 15, das auch über hunderte von Metern tötet. Sie greifen Polizeistationen an oder befreien verhaftete Kumpane aus dem Krankenhaus. Würde sich das alles in entfernten Vororten der Peripherie abspielen, wäre die Beunruhigung der Öffentlichkeit sicherlich nur halb so groß. Aber die Hügel, auf denen sich die Favelas zumeist angesiedelt haben, sind in der gesamten Stadt verstreut. So grassiert bei der Mittelschicht nun die Angst vor den verirrten Kugeln. Angeblich sind dieses Jahr schon mehr als zehn Menschen Opfer von verirrten Kugeln geworden.
Es ist diese Form von Gewalt, die Presse und Fernsehen ausführlich zeigen. Fast jeden Abend kann der Drogenkrieg in Rio im Fernsehen verfolgt werden. Und die damit vermittelte Botschaft ist klar: Die Polizei versagt, weil sie zu schwach ist, wir brauchen die Aufrüstung des Staates. Die Kampagne der Massenmedien hat anscheinend Wirkung gezeigt. Inzwischen befürwortet nach Meinungsumfragen eine Mehrheit der Einwohner Rios ein Eingreifen der Militärs.
Massaker auf dem Hügel ‘des Deutschen’
Für die BewohnerInnen in den Favelas stellt allerdings eher die Polizei als die lokalen Drogenbosse eine Bedrohung dar. Letztere bemühen sich in der Regel um ein gutes Verhältnis zu den BewohnerInnen, finanzieren sogar soziale Einrichtungen, und viele der Bewaffneten stammen aus der Favela. Die Polizei hingegen stürmt wahllos die Viertel und tötet, was ihr in den Weg kommt. In dieser alltäglichen Gewalt ragte im Oktober eine Polizeiaktion auf dem ‘Hügel des Deutschen’, mit 200.000 BewohnerInnen einer der größten Favelakomplexe von Rio, heraus. 13 Tote in einer Schlacht von wenigen Stunden, das ist weder in Bosnien noch in Rio normal. Vorausgegangen war ein Angriff der Drogenbande des Hügels auf ein Polizeirevier, bei dem ein Polizist so schwer verletzt wurde, daß ein Bein amputiert werden mußte. Der Angriff auf die Favela trug also Züge einer Racheaktion. Für die Polizei war das Ergebnis der Aktion ein voller Erfolg: “Das Gesetz erlaubt uns zu töten, ohne ein Verbrechen zu begehen”, erklärt der Chef der Drogenpolizei Maurilo Moreira und fährt fort: “Wir werden uns nicht wie Schafe von den Hügeln vertreiben lassen. Die Waffe ist das Symbol unserer Autorität. Wenn wir sie nicht gebrauchen, sind wir Feiglinge. Wenn wir 100 töten müssen, dann töten wir 100.”
Für die Polizei war das Massaker offensichtlich ein großes Fest, wie Mitschnitte vom Polizeifunk beweisen. Die Zahl der Getöteten wurde als Erfolgsziffer mit Jubel begrüßt. Selbst der Gouverneur von Rio, Nilo Batista, der die Aktion angeordnet hatte, kritisierte die Feststimmung und mußte eine Untersuchungskommission anordnen. Denn an Merkwürdigkeiten fehlt es nicht: Wenn die Polizisten tatsächlich in Notwehr gehandelt haben, wie kann es möglich sein, daß 13 getöteten Drogenhändlern nur ein verletzter Polizist gegenübersteht? Von den dreizehn Getöteten waren nur drei vorbestraft, vier waren minderjährig. Bewohner der Favela beschuldigen die Polizei, ein wahres Massaker veranstaltet zu haben. Eine Mutter erkannte ihren Sohn bei Fernsehaufnahmen wieder: “Er war von der Polizei verhaftet worden. Aber wenig später lag sein Körper auf dem Haufen der Toten.” Am Tag nach dem Massaker schlossen alle Geschäfte der Favela im Zeichen der Trauer.
Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, daß trotz solcher martialischen Aktionen ein großer Teil der Polizei zutiefst im Drogenhandel verstrickt ist, in der Regel durch Abkassieren von Bestechungsgeldern. Diese spannungsgeladene Symbiose führt natürlich immer wieder zu Auseinandersetzungen, wie im vergangenen Jahr in der Favela Vigario Geral. Dort hatten die lokalen Drogenbosse vier Polizisten offensichtlich wegen zu hoher Schmiergeldforderungen umgebracht. Die Polizei reagierte mit einem Massaker an 21 völlig unbeteiligten Bewohnern der Favela.
Polizei: eine kriminelle Vereinigung
Das eigentliche Problem ist also nicht das Scheitern des staatlichen Gewaltmonopols in Rio, sondern dessen Umwandlung in eine weitere Räuberbande. Dieser kriminell-polizeiliche Komplex steht dazu in vielfältigen Verbindungen mit der Politik, die immer mehr einer Mafia gleicht. Höhepunkte waren die massiven Fälschungen bei den allgemeinen Wahlen am 3.10., die schließlich zu deren Anullierung führten. Am 15.11. mußten in Rio sowohl die Bundestags- wie die Landtagswahlen wiederholt werden! Gegen all dies hilft gewiß nicht das Militär. Die Verbindung der Polizei zum organisierten Verbrechen ist allerdings inzwischen so offensichtlich, daß sie auch von Seiten der Bundesregierung nicht geleugnet wird. Presseberichten zufolge sollen die Militärs über ein internes Dossier verfügen, nach dem 70 Prozent der Zivilpolizei (policia civil) und 30 Prozent der Militärpolizei (policia militar) in illegale Machenschaften verstrickt sind. Dem jetzigen Gouverneur von Rio, der seine politische Karriere dereinst als Menschenrechtsanwalt begonnnen hatte, ist es offensichtlich nicht gelungen, den Polizeiapparat in den Griff zu bekommen. Inzwischen ist er anscheinend dessen Komplize geworden. Wäre es der Bundesregierung mit der Bekämpfung des Drogenhandels wirklich ernst, so müßte sie nicht in den Favelas ansetzen, sondern bei der Polizei und den Hintermännern des Waffenhandels und der Drogenbeschaffung. Diese wird sie sicherlich nicht in den Favelas finden. So zielt der geplante Militäreinsatz im besten Fall auf die unterste Riege des Handels: die Jugendlichen, die an den Umschlagplätzen Wache schieben und den Verkauf an die Mittelschichtskunden bewerkstelligen. Gegenüber der Komplexität des kriminellen Milieus in Brasilien gibt der bewaffnete Drogenhändler auf dem Hügel eher die Karikatur eines Feindbildes ab, das sich aber gerne durch seine martialische Ausstaffierung gut für die mediale Ausschlachtung eignet. Die Medien haben die vielen Facetten der Gewalt auf das Feindbild des Drogenbosses reduziert, der, weil identifizierbar, auch gezielt zu bekämpfen ist. Gleichzeitig erfolgte die Berichterstattung immer aus der Sicht der normalen Bevölkerung außerhalb der Favelas. Diese werden so zu einem feindlichen Territorium erklärt, das es zu erobern gilt, um es wieder in die staatliche Kontrolle einzubeziehen. Wie Militärs feindliche Territorien erobern, ist allerdings nur allzu bekannt. Bestürzend ist, daß nur zehn Jahre nach dem Ende der blutigen Militärdiktatur die Streitkräfte sich wieder als interner Ordnungsfaktor profilieren können. Hierin liegt vielleicht die langfristige politische Bedeutung des Militäreinsatzes in Rio. Ob die Militärs nämlich in der Lage sind, vielmehr als ein blutiges Spektakel zu veranstalten, ist äußerst fraglich. Die 158 Favelas, in denen es nach Angaben des militärischen Geheimdienstes Drogenumschlagplätze gibt, sind auf die Dauer gar nicht zu besetzen. Es wird erwartet, daß militärische Aktionen erst nach dem 15. November beginnen, also nach den Wahlen in den Bundesstaaten, in denen die Gouverneurswahlen nicht im ersten Durchgang zusammen mit den Präsidentschaftswahlen am 3. Oktober entschieden wurden. Zunächst also lebt Rio seine fragwürdige Normalität weiter. Am ersten Sonntag nach der Vereinbarung über den Einsatz der Streitkräfte waren die Strände an einem wunderschönen Sonntag übervoll.
Lesetip: T. W. Fatheuer: Jenseits des staatlichen Gewaltmonopols. Drogenbanden, Todesschwadronen und Profiteure: die andere Privatisierung in Rio de Janeiro. In: Lateinamerika – Analysen und Berichte Nr. 18, Horlemann-Verlag.