Mexiko | Nummer 357 - März 2004

„In unserem Land geschieht alles, und es geschieht nichts“

Interview mit der mexikanischen Schauspielerin Vanesa Bauche

Im Rahmen der diesjährigen Berlinale sprachen die LN mit der Schauspielerin Vanesa Bauche, die in dem dort gezeigten Dokudrama Digna hasta el último aliento die Rolle der ermordeten Menschenrechtsanwältin Digna Ochoa spielt (siehe LN 356). International bekannt geworden ist Vanesa Bauche durch ihr Mitwirken im Film Amores Perros, in dem sie eine der Hauptrollen spielt. Neben der Schauspielerei ist die Darstellerin auch sozial stark engagiert und setzt sich sehr für die Aufklärung der Frauenmorde in Ciudad Juárez (Chihuahua) ein. Seit 1993 wurden dort knapp 350 junge Frauen ermordet und circa 600 sind verschwunden, ohne dass bis heute Täter gefunden worden wären. Die Ermittlungen wurden von den mexikanischen Behörden immer wieder vernachlässigt (siehe LN 343 und Kurznachricht in diesem Heft). Im Interview stellt Vanesa Bauche ihre Position dazu dar und macht Vorsachläge, wie man dieses Verbrechen bekämpfen könnte.

Volkmar Liebig, Gregor Maaß

Vanesa Bauche, auf der diesjährigen Berlinale wurde das Dokudrama Digna hasta el último aliento gezeigt, in dem du die Rolle der ermordeten Menschenrechtsanwältin Digna Ochoa spielst. Was verbindet dich mit diesem Thema?

Ich wusste eigentlich schon vor Digna Ochoas Ermordung von ihrem Werdegang, weil ich in der Zeitung über ihre Arbeit im Centro Miguel Agustín Pro gelesen hatte. Aber ich wusste nicht mehr genau ihren Namen. Als dann die Mitteilung in der Zeitung stand, dass sie ermordet worden war, erinnerte ich mich wieder an ihn. Mir fiel ein, dass sie die Anwältin vom Centro Pro war, von der so viel gesprochen wurde, weil sie sich immer um die schwierigsten Fälle kümmerte. All dies wurde mir schlagartig schmerzlich bewusst.
Ich hätte mir damals aber nicht träumen lassen, dass ich Digna eines Tages im Film spielen würde. Als mich dann Regisseur Felipe Cazals zum Filmprojekt einlud, fühlte ich eine starke menschliche Bindung zu ihm und dem Projekt, auch weil ich selbst schon seit zwei Jahren in einer weltweiten Kampagne gegen den Frauenmord in Chihuahua arbeite.

Die Staatsanwältin Margarita Guerra, die im Juli 2002 als Ermittlungsergebnis den Selbstmord Digna Ochoas bekannt gab, sagte, dass der Film zwar keinen Einfluss auf die Ermittlungen habe, jedoch die öffentliche Meinung über den Fall Digna Ochoa verzerren könnte. Welche Hoffnung knüpfst du an die Präsentation des Filmes in Mexiko?

Erst einmal bin ich der Staatsanwaltschaft sehr dankbar, dass sie uns so hoch schätzt, dass sie glaubt, wir könnten die öffentliche Meinung in diesem Fall bei der Suche nach der Wahrheit in eine Richtung lenken. Letzten Endes ist es meine Hoffnung, dass sich die Leute bewusst werden, dass all dies geschieht, weil ihre Teilnahmslosigkeit Jahre um Jahre der Straflosigkeit, der Korruption, des Verrats und des Zynismus zugelassen haben. Mit der Konsequenz, dass die Bevölkerung solch ein Ermittlungsergebnis, wie es die Staatsanwaltschaft präsentiert hat, für möglich hält. Die Selbstmordthese kann man mit diesem Gutachten eigentlich nicht aufrecht erhalten. Dies alles ist sehr schlecht konstruiert. Ich glaube Digna hasta el último aliento besitzt Elemente, um dafür ein Bewusstsein zu schaffen und um Fragen aufzuwerfen.

Im Jahre 1999 hast du zusammen mit anderen KünstlerInnen die Gruppe Movimiento Cultural Techo Blanco (Kulturbewegung Weißes Dach) gegründet, um unabhängige Kulturprojekte zu verwirklichen. Warum war dieser Schritt nötig?

Zusammenfassend kann man sagen, dass das Movimiento Cultural Techo Blanco ein interdisziplinäres Kollektiv ist, das entstand, weil mir klar wurde, dass das Leben und künstlerisches Schaffen individuelle und kollektive Reisen sind.
Was ich machte, war meine Freunde anzurufen, um ihnen zu sagen, dass wir anstatt uns darüber zu beschweren wie schwierig es in Mexiko ist, in eine Produktion hinein zu kommen, anfangen sollten, die Dinge selber zu machen, und uns in anderen Bereichen zu versuchen. Meinen Freunden gefiel die Idee sehr gut, vor allem, weil die Mehrheit von uns professionelle Schauspieler waren, die noch nie hinter der Kamera gestanden hatten. Ich wollte, dass sie verstehen wie komplex der Prozess der Filmverwirklichung ist.
Eine Sache, die zudem von Anfang an klar war, ist, dass wir uns um soziale Angelegenheiten kümmern müssen. Eines der ersten Dinge, die wir deswegen begannen, war täglich die Zeitung zu lesen. Ich sagte: „Man muss die Zeitung lesen, chicos, ihr müsst wissen, wo ihr steht, wenn ihr das nicht tut, werdet ihr nie was verstehen.“ So konnten wir die soziale Verpflichtung, die ich schon immer hatte, kanalisieren. Als erstes nahmen wir uns vor, den Frauenmord in Chihuahua weltweit an die Öffentlichkeit zu bringen.

Du verwendest viel Anstrengung darauf, den Femizid in Ciudad Juárez sowohl national als auch international bekannt zu machen. Was geht in Ciudad Juárez vor sich?

Das wissen wir nicht. Es gibt viele Hypothesen. Den vielen verschiedenen Nachforschungssträngen ist man nicht korrekt nachgegangen. Die Leute, die für die Verbrechen verantwortlich sind, wissen aber sehr gut, was geschieht. Wenn es soviel Konfusion gibt, steht dahinter mit Sicherheit viel Klarheit.
Was nun geschieht sind viele verschiedene Dinge. Es gibt im Land ein alarmierend hohes Niveau sozialen Verfalls, das vielleicht in der ganzen Geschichte noch nicht so hoch war. Wegen der in Chihuahua vorherrschenden Straflosigkeit, wird jedeR, der/die sich erhebt, um etwas zu sagen, direkt von den Behörden bedroht, so dass er/sie lieber gar nichts sagt. Es ist so, als ob alle gelähmt worden wären, alle wirken ein wenig wie Zombies.
Trotz dieses trostlosen Panoramas gibt es aber auch Fortschritte. So gibt es mittlerweile eine Organisation mit dem Namen Nuestras Hijas de Regreso (Unsere Töchter auf dem Heimweg) und eine andere, die Justícia para Nuestras Hijas (Gerechtigkeit für unsere Töchter) heißt. Diese Organisationen haben es in den letzten zwei Jahren mit der Hilfe von Gruppen aus aller Welt geschafft, einige Aufsehen erregende Aktionen auf die Beine zu stellen, damit man von den Frauenmorden erfährt. So wird mittlerweile auch aus verschiedenen Teilen der Welt Druck auf die mexikanische Regierung ausgeübt, damit diese wirklich einmal beginnt, etwas zu unternehmen.
Aber anstatt dass die Mütter der Ermordeten und die den Ermordeten Nahestehenden, die sich trauen etwas zu sagen, zu unterstützten, werden diese von den Leuten vor Ort immer mehr isoliert, und es wird versucht, sie mundtot zu machen.

Was macht so ein Verbrechen wie den Frauenmord möglich?

Die Straflosigkeit. Die Komplizenschaft korrupter staatlicher und bundesstaatlicher Behörden. Die ganze herrliche Geschichte der Straflosigkeit und auch der Korruption, die wir haben. Die Ereignisse von 1968 wurden nicht aufgeklärt, Acteal wurde nicht aufgeklärt, der Fall Digna wurde nicht aufgeklärt. Wir wissen mittlerweile, dass in unserem Land nichts gemacht wird, es geschieht alles und es geschieht nichts.
Zudem gibt es einen Hass auf den Typ Frauen wie die, welche ermordet worden sind. Die meisten waren knapp bemittelt, Migrantinnen, Arbeiterinnen, alle hübsch und in einem gebärfähigen Alter.

Wie könnn diese Verbrechen gestoppt werden?

Der Groll in der Gesellschaft wird immer größer: solche Verbrechen geschehen immer wieder, Jahr für Jahr, ohne dass ernsthaft etwas gemacht würde. Deswegen glaube ich, dass es wichtig ist, erst einmal Information über die Sache zu verbreiten.
Als allererstes muss aber speziell die Internationale Gemeinschaft die Menschenrechtsverletzungen in Mexiko zur Kenntnis nehmen. Man muss Chihuahua als Zone einer nationalen gesellschaftlichen Katastrophe deklarieren, damit man international so handelt, als ob es um eine Naturkatastrophe ginge. Um eine Naturkatastrophe wird sich umgehend gekümmert, mit dem Willen aller in der ganzen Welt. Das bedeutet, wenn man Chihuahua als Katastrophengebiet deklarieren würde, könnte der Bundesstaat Hilfe aus aller Welt empfangen, ohne dass dies die Souveränität des Bundesstaates oder der Verfassung in Frage stellen würde.
Außerdem sollte man endlich anerkennen, dass die Straflosigkeit in Chihuahua schon ein unfassbar hohes Niveau erreicht hat. Was dort passiert ist schon nicht mehr Straflosigkeit, sondern ist etwas sehr perverses.

Fühlst du dich nicht bedroht, wenn du so etwas sagst?

Anfangs schon etwas, plötzlich gibt es Dinge, die dich etwas paranoid werden lassen, aber das überwindet man dann schon. Ich bin keine Menschenrechtsanwältin, Politikerin oder Reporterin. Vor allem bin ich ein menschliches Wesen, eine Bürgerin, die das Recht hat, zu sagen, was unrecht ist. Deswegen habe ich von dem Standpunkt, von dem aus ich die Dinge anspreche, nichts zu fürchten, ich mache ja nichts Schlimmes, im Gegenteil, ich will die Dinge verbessern.

Was sind deine nächsten Projekte?

Wir bereiten mit dem Movimiento Cultural Techo Blanco ein Theaterstück vor, das Atari heißt und von der kulturellen Invasion durch Videospiele an der Nordgrenze in den 80er Jahren handelt. Die Geschichte dreht sich um vier Freunde, die sich schon seit ihrer Kindheit an der Nordgrenze kennen. Der Atari wird als Metapher für kulturelle Invasion benutzt. Es wird gezeigt wie er das Leben kulturell durcheinander brachte.
Außerdem arbeiten wir mit dem MCTB an einem ersten Spielfilm, der Amantes en el Hurracán heißen wird. Dieser wird ein Roadmovie sein, halb romantisch, befreiend, stark, halb subversiv, schön.

Internetseite von Nuestras Hijas de Regreso:
www.geocities.com/pornuestrashijas/

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