Nummer 198 - Dezember 1990 | Uruguay

Interview mit Fernández Huidobro: Tupamaros (MLN)

Anfang Oktober sprachen die LN mit Eleuterio Fernández Huidobro einem der führenden Kopfe der ehemaligen Stadtguerilla und der heute als legale politische Organisation arbeitenden Tupamaros (Movimiento de Liberatión Nacional). “E1 Nato”, so sein Deckname während der Illegalität, gehört zur “historischen Führung” der Bewegung. Er war einer der “Geiseln” der Diktatur und wurde nach langjähriger (Iso-)Haft 1985 aus dem Gefängnis entlassen. Heute ist er wieder eine der zentralen Personen in der Führung der MLN. Die LN befragten ihn zu der aktuellen Situation in Uruguay und zu den Auswirkungen des “Ende des realen Sozialismus ” in Europa auf die uruguayische Linke.

Robert Große

LN: Die Partido Nacional (Blancos) stellt seit März 1990zum drittenmal in diesem Jahrhundert den Präsidenten der Republik. Wie schätzt ihr die Politik der neuen Regierung und die des Präsidenten Lacalles ein ?

Es ist eine Regierung, die die Interessen der Banken repräsentiert, in erster Linie den Finanzsektor. Darüberhinaus ist sie eng mit dem Ausland verbunden, mit den großen internationalen Banken. Es ist eine Regierung, die jetzt schon fast keine politische Unterstützung mehr erhält: Das “Ley de Lemas” unseres Landes (das Wahlgesetz Uruguays, s. LN 186) ermöglicht durch Stimmenakkumulation das Regieren einer Minderheit. Dazu brauchten die Blancos die Stimmen anderer politischer Sektoren, die jedoch in ihren Wahlkampagnen genau entgegengesetzte Programme vertreten haben. Später ergeben sich dann Situationen wie die heutige: Um zu regieren, muß man Wunder vollbringen, da die notwendige politische Unterstützung schwindet.

LN: Gibt es bedeutende Unterschiede in der Wirtschaftspolitik zu der von der 1985-1990 regierenden Colorado-Partei?

Vielleicht mehr Brutalität und Unfähigkeit aufgrund des Fehlens guter Wirtschaftsberater. Die Colorado-Partei -mal abgesehen davon, daß wir große, enorme Diskrepanzen mit ihnen haben -hatte gute Wirtschaftsberater und sie besaß die technischen Mittel, um ihre “Wirtschaftsrezepte” umzusetzen und effizient zu sein. Die Blancos sind grobschlächtiger und ineffizienter. Sie kündigten in ihrem Wahlkampf den Leuten an, daß sie die “harten Rezepte” anwenden würden, versprachen aber damit, die Probleme des Landes zu lösen. Das, was zu erwarten war, ist nun eingetreten: Heute beginnen die Leute zu verstehen, daß diese Rezepte nur eine Neuauflage, allerdings eine noch härtere, der vorangegangenen Politik der Colorados sind. Der Zusammenbruch der Regime in Osteuropa und der Skeptizismus in wichtigen Teilen der uruguayischen Linken machte es möglich, daß die herrschende Klasse merkte, daß der Moment für sie gekommen ist, uns die bittersten “Heilmittel” zu verschreiben. Das ist für sie günstige Moment, den sie nicht verstreichen lassen dürfen, denn übermorgen, wenn die Reihen der Linken wieder fester geschlossen sind, wird es wieder Schwieriger für sie. Deshalb haben sie es so eilig und wollen in nur wenigen Monaten machen, was sie viele Jahre lang versäumt haben und selbst mit der Diktatur nicht geschafft haben.

LN: Sechs Monate nach dem Amtsantritt des Präsidenten Lacalle scheint seine Allianz mit den.Colorados in einer schweren Krise zu stecken. Wie wird sich die “Nationale Übereinkunft” zwischen den beiden traditionellen Parteien in Zukunft darstellen?

Wir dachten, das vor dem Amtsantritt vom Präsidenten so mühsam zusammen-gezimmerte System der politischen Unterstützung würde nicht so schnell auseinanderfallen. Das gesamte uruguayische System ist aufgrund der Wahlergebnisse in der Krise. Das alte Zweiparteiensystem, für das ja eigens das Wahlgesetz gemacht wurde, ist endgültig am Ende. Heute existieren in Uruguay vier wichtige politische Kräfte. Dies führt dazu, daß die Verfassung die für ein Land mit zwei Parteien gemacht wurde, ihren Sinn verliert. Es wird nötig sein, diese Verfassung zu ändern, wofür schon heute politisch mobilisiert wird. Dann werden wir es mit einem Vorschlag der Ultrarechten zu tun haben, die das Regieren von Minderheiten festschreiben will und mit einem Vorschlag, sagen wir einem Volksprojekt, das breite Teile der Bevölkerung -nicht nur der Linken vereinen wird.

LN: In der Hauptstadt Montevideo regiert seit den Wahlen das Bündnis der Linken, die “Frente Amplio”, während die Politik der Zentralregierung des Landes von den traditionellen Parteien gemacht wird.

Tja, das ist ein weiterer Ausdruck der politischen Krise des Systems. Wir haben eine total paradoxe Situation. Da ist einmal die Stadt Montevideo, in der mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt und dann der Rest des Landes, in dem extensive Viehwirtschaft betrieben wird und das praktisch entvölkert ist. Die “Frente Amplio” stellt die Stadtverwaltung für mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Es handelt sich also nicht um irgendeine Stadt. Der Widerspruch zwischen einer ultrarechten Nationalregierung, die mit ihren schmerzhaften “Rezepten” gerade die ärmste Bevölkerungsschicht trifft, die Arbeiterklasse etc. und auf der anderen Seite eine Linksregierung auf kommunaler Ebene. Das kann auf Dauer nicht mehr so weitergehen.

LN: Hat der Zusammenbruch des sog. “real existierenden Sozialismus”in Osteuropa direkte Auswirkungen auf die uruguayische Linke?

Besonders auf die Kommunistische Partei. Sie war immer sehr pro-sowjetisch und pro-stalinistisch, Nicht ganz so auf den Rest der Linken, der eigentlich immer eine sehr kritische Einstellung hatte und deshalb von den Umbrüchen nicht . so tief erschüttert wurde. Aber die KP war immer sehr wichtig innerhalb der uruguayischen Linken -bei der letzten Wahl hatte ihr Wahlbündnis mehr als die Hälfte der Stimmen der “Frente Amplio”. So gesehen führt die Krise der KP schon zu einem schweren Schaden für die Linke des Landes. Die KP hat bis heute noch nicht ihren historischen 22.Kongreß durchgeführt (mittlerweile doch, der tipógrafo) und man weiß noch nicht wie sie ihre Kräfte wieder sammeln wird.

LN: Anscheinend hatte die Wahlniederlage der FSLN in Nicaragua größere
Folgen für die MLN-Tupamaros als der Zusammenbruch der osteuropäischen Kommunistischen Parteien.

Ja, viel mehr. Das war ein schmerzhafter Schlag für uns.Wir fühlten es wie eine eigene Niederlage. Die Krise in den osteuropäischen Ländern macht uns hingegen keine so großen Sorgen. Dort nehmen wir nicht an unseren eigenen Begräbnissen teil. Das sind die Beerdigungen von anderen.

LN: Dennoch ist doch auch in Uruguay ein unübersehbarer Tiefpunkt in der Begeisterungs- und Mobilisierungsfähigkeit der Linken zu spüren.

Das hat viele Gründe. An erster Stelle steht die Wirtschaftskrise. Damit die Leute heute überleben können, brauchen sie zwei oder drei Arbeitsplätze. Das kostet viel Zeit. Außerdem ist es nicht immer richtig zu sagen ‘je mehr Krise, desto mehr politische Mobilisierung”. Ein weiterer Grund sind die Fehler, die die Führungen der Linken gemacht haben: Der Fehler die Menschen nicht an wichtigen Entscheidungen teilnehmen zu lassen und nicht zur Konfrontation zu schreiten, um ein klares Oppositionsprofil zu gewinnen. Das Vertrauen in die “Nationale Übereinkunft” am Ende der Diktatur war zu groß. Wir sind da in eine Falle geraten, die uns die Bourgoisie gestellt hat. Und obwohl zwar die Kommunistische Partei am stärksten betroffen ist, dürfen wir nicht ignorieren, daß auch andere von der ideologischen Krise betroffen sind.

LN: Die MLN hat sich zwei Jahre lang vergeblich um die Aufnahme in die “Frente Amplio” bemüht. Erst letztes Jahr habt ihr mit anderen Gruppen zusammen das “Movimiento de Participación Popular (MPP)” gegründet und wurdet von der Frente aufgenommen. Ihr habt bei den Wahlen teilgenommen, ohne daß Tupamaros/as kandidierten. Führt das nicht zu internen Widersprüchen bei der MLN?

Nein, es führte zu Widersprüchen im MPP. Die MLN hatte sich entschlossen keine eigenen Kandidaten aufzustellen und weigerte sich deshalb auf Listen der MPP eigene, wichtige Leute zu setzen. Diese Entscheidung hatte möglicherweise , ihren Preis bei den Wahlen. (Das Wahlbündnis von Tupamaros, Unabhängigen, revolutionären Gruppen und Trotzkisten (MPP) bekam mit rund 50.000 Stimmen 5%der Gesamtstimmen.r.g) Wir hatten eine Resolution des Zentralkomitees, die noch aus der Zeit vor der Gründung des MPP stammt und darüberhinaus glaubten und glauben wir, mit unserer Entscheidung die Einheit des MPP zu stärken.

LN: Wirst du bei den nächsten Wahlen kandidieren?

Bis dahin ist noch viel Zeit. Ich glaube, die Resolution bleibt gültig. Eine eigene Kandidatur würde mir persönlich nicht gefallen, ich glaube für diese Arbeit nicht berufen zu sein. Ich will aber keineswegs die parlamentarische Arbeit abwerten. Im Gegenteil, ich bewundere die GenossInnen die dort ihre Arbeit machen. Es ist eine sehr aufopferungsvolle und harte Arbeit.

LN: Wenn wir uns das lateinamerikanische Panorama anschauen, so sehen wir, wie ehemals bewaffnete Organisationen wie die M-19,die FSLN und auch die MLN gegenwärtig auf den Weg der Legalität setzen und an Wahlen teilnehmen.

Ja, uns blieb nichts anderes übrig. Wir waren von all’ den Organisationen, auf die du dich beziehst, die erste. Als die Diktatur 1985 zu Ende ging und fast alle unsere Genossinnen aus dem Exil zurückkamen und die Überlebenden die Knäste verließen, war das Land in einer Situation, in der das Volk auf dem Vormarsch gegen den Faschismus war und nicht umgekehrt. Die Geschichte bestätigte die kluge und einheitliche Entscheidung der MLN, im Rahmen der Legalität zu arbeiten. Eine Sache, die wir bis jetzt erfolgreich machen und dabei neue Kräfte sammeln. Für uns ist das keine Frage von Prinzipien, sondern es ist eine Frage der politischen Analyse. Genausowenig war für uns die Frage des bewaffneten Kampfes eine Prinzipienfrage.

LN: Wie beurteilt ihr den von der brasilianischen Arbeiterpartei (PT)im Juli durchgeführten Kongreß der lateinamerikanischen Linken?
Der Kongreß hat eine große Zahl lateinamerikanischer Organisationen, praktisch alle linken Gruppen, zusammengeführt. Es war ein überaus wichtiger erster Schritt, den glaube ich nur eine Partei wie die PT machen konnte.,

LN: Kann die PT mit ihrer Politik, besonders der Gewerkschaftspolitik, ein Beispiel für die Tupamaros sein?

Wir haben sehr viel von den außergewöhnlichen Erfahrungen der gelernt. Brasilien war in seinen revolutionären Bemühungen in den letzten Jahren immer zurückgeworfen worden und plötzlich taucht aus seinem Innersten ein so interessantes Phänomen auf wie die PT. Aber einiges lernt die PT auch von uns…

LN. Im Juli hat die MLN ihre 5.Konvention durchgeführt. Warst Du mit dem
Verlauf und den Ergebnissen zufrieden?

Nein, überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Ich persönlich glaube, das war die schlechteste Konvention, die wir Tupamaros je gemacht haben. Die Diskussionen waren schlecht vorbereitet. Die besten und wichtigsten Themen kamen überhaupt nicht zur Sprache. In der nächsten, der 6.Konvention, werden wir alles Nötige diskutieren.

LN:Angesichts der Wirtschaftspolitik der Regierung hast du öffentlich erklärt, es käme darauf an “jetzt den Kampf zu organisieren”. Der Präsident und die Presse hat das als Provokation aufgefasst. Hat das auch die Linke erschreckt?

Nein, bisher noch nicht. Nachdem diese Parole des MPP ausgegeben wurde, hat die “Frente Amplio” in den letzten Tagen ein paar Schritte unternommen, die eher auf Akzeptanz herauslaufen. Das Problem ist, daß die Bedingungen gegeben sind. Die Volksproteste und die Misere sind offenkundig. Wenn die Linke nicht den Kampf organisiert, dann wird er sich von selbst organisieren …


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