Kampf gegen die Ausgegrenzten
Tendenzen der Bevölkerungspolitik in den 90er Jahren Ein Beitrag aus brasilianischer Sicht
Neoliberale Bevölkerungspolitik
Viele, die drastische Mittel zum Stopp des Bevölkerungswachstums fordern, starren auf Zahlen, Statistiken und Hochrechnungen, als ob dieses Thema nicht in den Bereich der internationalen Machtverteilung gehören würde. Wenn keine tiefergehenden Diskussionen geführt werden, entsteht leicht der Eindruck, daß Hunger, Abholzung und Energieverbrauch mit dem Bevölkerungswachstum zunehmen würden.
Es gibt Widerstände, diese Diskussion zu einer politischen zu machen, obwohl wir aus der Geschichte wissen, daß die Beziehung zwischen Bevölkerung und Ressourcen immer ein Streitpunkt intensiver politischer Auseinandersetzungen war.
Derzeit wird wieder viel davon gesprochen, daß der Planet den menschlichen Bedürfnissen nicht gerecht werden könne. Das weist in gefährliche Nähe zu den vereinfachenden Thesen von Malthus. Wieder heißt es, ein Mehr an Menschen bedeute weniger Lebensmittel pro EinwohnerIn. Zweifellos erlebt die Erde derzeit eine ökologische Krise: Hunger und Elend haben längst ein unakzeptables Ausmaß angenommen. Trotzdem kommt der Hunger nicht durch das Fehlen von Nahrungsmitteln, und die Umweltkrise ist vor allem eine Krise der Art und Weise, wie wir uns die Umwelt aneignen. Das aktuelle Problem besteht in der Verteilung der vorhandenen Ressourcen.
Der Fall Brasiliens ist hierfür exemplarisch. 1989 verfügten die zehn Prozent Reichsten in der Bevölkerung über 53 Prozent des Einkommens, während die restlichen 90 Prozent der Bevölkerung mit 47 Prozent des Einkommens leben mußten. Die Landkonzentration ist ebenfalls alarmierend: der Kleinbesitz (bis zehn Hektar) macht 53 Prozent der Farmen aus, aber nur 2,7 Prozent des brasilianischen Territoriums. 43,9 Prozent des Landes gehören hingegen zu Latifundien (mehr als 1.000 Hektar), die nur 0,9 Prozent der Farmen ausmachen. Diese Einkommens- und Landverteilung drängt die LandarbeiterInnen vom Land in die Städte. Dort führen die Rezessionspolitik und die Fehler des herrschenden Entwicklungsmodells dazu, daß Tausende von ArbeiterInnen ohne Stelle sind und die Lebensbedingungen der Mehrheit der Bevölkerung in den großen Städten noch mehr zerstört werden.
Damit nicht genug; die BefürworterInnen der Bevölkerungspolitik bestehen darauf, daß die Enteigneten die Schuldigen für die Verschmutzung des Wassers, die Zerstörung der Wälder und anderer Ökosysteme seien. Obwohl bekannt ist, daß die Fruchtbarkeitsraten in Brasilien in den letzten zwanzig Jahren gefallen sind, die Naturzerstörung dagegen aber unproportional stark zugenommen hat, wird weiterhin darauf beharrt, die Enteigneten zu den Schuldigen zu machen.
Es hat sich ein neuer “Konsens von Washington” herausgebildet: Die Größe und das Wachstum der Bevölkerung in den armen Ländern der “Dritten Welt” ist eine der alarmierendsten Bedrohungen. Das World Watch Institut bestätigt, daß nach der Verringerung der Gefahr durch die Atombombe das Bevölkerungswachstum die Hauptbedrohung für die Zukunft des Planeten sei. Diesem “Konsens” zufolge werden die Lebensbedingungen auf dem Planeten zerstört, weil es Bevölkerungswachstum gibt. Auch die großen Völkerwanderungen vom Süden nach Norden werden damit erklärt – ein Grund mehr, um die hohen Fruchtbarkeitsraten der Armen zu drücken.
Bevölkerungspolitik der 90er Jahre wird in den verarmten und verschuldeten Ländern im Süden mit der Logik der Strukturanpassungsmaßnahmen von IWF und Weltbank gekoppelt. Diese Programme fordern unter anderem Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben im Bereich der Erziehung und Gesundheit, um das öffentliche Haushaltsdefizit zu verringern. Sie vernichten öffentliche Gesundheitsprogramme und verschlimmern damit wesentlich die Bedingungen der Basisgesundheitsversorgung der Bevölkerung.
In Ländern wie Brasilien, das seit den 80er Jahren immer wieder von dieser Anpassungspolitik betroffen ist, wird eine nationale Gesundheitspolitik, die die Bedürfnisse der Gesellschaft befriedigt, immer schwieriger. Es fehlt an Schulen und Schulung, an medizinischer Versorgung, an Arbeit und Boden. Der neoliberale Rahmen, in dem die Bevölkerungspolitik stattfindet, impliziert ein unvollständiges und unrealisierbares Recht der Frauen bei der freien Auswahl des geeigneten Verhütungsmittels.
US-AID, Weltbank und andere – voll dabei
In Brasilien verläuft die Arbeit von US-AID zur Familienplanung nicht auf bilateraler Ebene. US-AID verteilt ihre Mittel durch die nordamerikanischen “Kooperationsagenturen”, die wiederum die Aktivitäten von in Brasilien ansässigen Organisationen finanzieren.
Zu den Beschlüssen für die 90er Dekade gehört, daß US-AID ihre aktuelle Liste von Verhütungsmitteln um die injizierbaren Mittel, Angebote für einen sicheren Schwangerschaftsabbruch und Aufklärungsprogramme für Jugendliche erweitert. “Ausdehnung und Perfektionierung des Angebots zur Familienplanung müssen Schwerpunkte des Bevölkerungsprogramms von US-AID sein. US-AID darf nicht schwach werden und sich plötzlich im Bereich einer umfassenden Reproduktionsgesundheitsfürsorge oder Mutter-Kind-Gesundheitsprogramme wiederfinden,” heißt es bei der US-AID.
Auch bei der Weltbank erscheint das Bevölkerungswachstum als zentrales Thema. In ihrem Bericht über Umwelt und Entwicklung versichert die Bank, daß Investitionen in die weibliche Bevölkerung auch das Beste für Umwelt und Entwicklung seien. “Mütter mit höherer Schulbildung haben gesündere Familien, haben weniger und besser ausgebildete Kinder und produzieren sowohl zu Hause als auch an ihrem Arbeitsplatz mehr”. Die bei der Weltbank veranschlagte Summe “für nichtbefriedigten Familienplanungsbedarf” beläuft sich auf ca. acht Milliarden US-Dollar bis zum Jahr 2000.
“Der verbesserte Status der Frauen”…
Ganz oben auf der Liste des “Konsenses” der Agenturen, die sich für Bevölkerungskontrolle in den verarmten Ländern des Südens einsetzen, steht die Einigkeit darüber, daß “der Status der Frauen verbessert” werden muß. Das zielt aber nur darauf ab, das Bevölkerungswachstum in den armen Ländern zu verringern. In den Diskursen, die die weibliche Arbeitsproduktivität erhöhen wollen, sind die Frauen weiterhin Objekte – niemals Subjekte und Bürgerinnen mit abgesicherten Rechten, die auch auf Entwicklungspolitik Einfluß nehmen können.
Die 90er Jahre versprechen weitere Investitionen in die Erforschung neuer Technologien, die an den gleichen armen Frauen des Südens getestet werden sollen, die auch Ziel der Geburtenkontrolle sind. Die Investitionen in Langzeitverhütungsmittel, deren Anwendung außerhalb der eigenverantwortlichen Benutzung von Frauen liegt – wie Norplant, empfängnisverhütende Spritzen und injizierbare Hormone – sind immer mehr das Lieblingskind der Bevölkerungspolitik.
Erfolg dieser Politik wird sein, daß es immer mehr Frauen gibt, die diese Methoden mit niedriger “Versagerquote” und “hoher Effizienz” benutzen. Eine verbesserte Gesundheitsversorgung ist für diese Politik kein Kriterium. Die einzigen Gewinner sind die großen Pharmakonzerne.
Diese Politik, die den Frauen keine reale Wahlmöglichkeit läßt, sie in Verarmung und in noch mehr Verunsicherung über ihre Zukunft treibt, erweitert nicht ihre Rechte als Bürgerinnen, sondern verringert sie.
Die internationale Migration
In den 90er Jahren verdrehen sich die Argumente: Statt von der “demografischen” Explosion wird jetzt von einer Migrationsexplosion gesprochen. In Wahrheit soll das angegriffen werden, was für das größte Hindernis von Entwicklung und gesunder Umwelt gehalten wird: die arme Bevölkerung. Mit einer kombinierten Politik der Geburtenreduzierung und der Schließung der Grenzen soll die Migration in Richtung Norden gestoppt werden. Diese Haltung wird durch die Argumente verstärkt, die in der “Überbevölkerung” im Süden das Hauptmotiv für Migration sehen.
Der Haß im Norden gegenüber den MigrantInnen wächst in beängstigendem Ausmaß und verbreitert die Reihe der Neonazis, des Neofaschismus und der extremen Rechten. Angrifffe auf Migrantenunterkünfte bis hin zu Morden sind in Deutschland immer häufiger. In Frankreich, bekannt durch die Revolution , die die Brüderlichkeit verkündete, macht die von Le Pen angeführte extreme Rechte gegen die Araber Front.
Das Szenarium, vor dem sich der wiedererstarkende Rassismus abspielt, sind die abgewirtschafteten Ökonomien des Südens und die Rezession im Norden. Als die Wirtschaft des Nordens billige und unqualifizierte Arbeitskräfte brauchte, waren die MigrantInnen gerne gesehen. In Zeiten der Krise und der Arbeitslosigkeit werden sie als Angriff gesehen, der abgewehrt werden muß.
Nicht nur die Frauen sind gefordert
Im Kontext der UNCED-Konferenz ’92 und vor der UNO-Weltbevölkerungskonferenz ’94 sind die demokratischen AkteurInnen gefordert, diesem Konsens des Neoliberalismus etwas entgegenzustellen. Diese Aufgabe kann nicht nur allein von den Frauen bewältigt werden. Es sollen sich alle diejenigen anschließen, die gegen die Ideale des Neoliberalismus ein neues Entwicklungsmodell setzen wollen, das sich auf die BürgerInnenrechte und auf die Suche nach der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse bezieht.
Im Fall Brasiliens basiert das Entwicklungsmodell auf einem gewaltigen Prozeß der Konzentration des Profits und des sozialen Ausschlusses. Es wird in ein technisches Modell investiert, das den Konsum einer Minderheit fördert. Die soziale Apartheid, an der wir heute teilhaben, ist offensichtliches Resultat dieser Ausschlußoption. Eines der drängendsten Probleme bei der “Bevölkerungsfrage” ist: Wie können die BürgerInnenrechte der Millionen von Menschen garantiert werden, denen es verweigert wird, auf dem Land zu arbeiten? In Brasilien muß die Debatte über Bevölkerung, Umwelt und Entwicklung in Zusammenhang mit einer Neudiskussion der Agrarpolitik gebracht werden.
Die Ziele, das Bevölkerungswachstum einzudämmen und den Migrationsfluß gegen Norden zu stoppen, sind im Kontext der neuen neoliberalen Weltordnung nicht zu erreichen. Gewalt und Zwang sind hierfür ebenfalls keine adäquaten Mittel. Unglücklicherweise scheint dies aber der Weg zu sein, den sich die Herrschenden ausgesucht haben. Dagegen müssen wir kämpfen.