Chile | Nummer 447/448 - Sept./Okt. 2011

Kampf um den Wiederaufbau

Im Dorf Dichato, das letztes Jahr vom Tsunami zerstört wurde, wird gegen die nicht vorhandene Wiederaufbaupolitik der Regierung protestiert

Das einstige Fischerdorf war früher ein beliebter Badeort. Doch nach dem Tsunami wurde Dichato zum Symbol für die Katastrophe, die Chile mit dem schweren Erdbeben erlebte. Heute ist der Ort die größte Siedlung von Notunterkünften in ganz Chile. Zum Beginn des zweiten Winters im Notquartier brach sich die Wut der Bewohner_innen auf eine Regierung, die ihre Misere und ihre Forderungen missachtet, Bahn.

Kristin Schwierz

„Wir wollen klare Lösungen, wir wollen etwas schriftliches, wir wollen ein Datum. Wir wollen Transparenz im Wiederaufbauprozess“, ruft Ricardo Ruiz, ein Sprecher der Bewohner_innen der Notunterkunft „El Molino“ während der Proteste in die Kamera. „Wir wollen, dass die Menschen, die heute in mediaguas (kleine Notunterkünfte aus Holz, Anm. d. Red.) leben, würdigen Wohnraum bekommen!“
Die Situation und die Forderungen derer, die das Erdbeben und der Tsunami am härtesten getroffen hat, wurden verzweifelt immer wieder in die Öffentlichkeit und auf zahlreichen Treffen mit lokalen Autoritäten artikuliert. Diese jedoch blieben weitestgehend untätig, die rechte Regierung unter Präsident Piñera reagierte mit Ignoranz und verkündete, dass der Wiederaufbau in vollem Gange sei. Dass dem offensichtlich nicht so ist, kann in Dichato jede_r sehen, denn hier fehlt es wirklich an allem: Ganze Familien leben in kleinen und im Winter kühlen und zugigen Notunterkünften und teilen sich mit weiteren Familien eine Toilette und eine Dusche in einem Container, der weder beheizt ist noch über Warmwasser verfügt. Es gibt nicht einmal eine befestigte Kanalisation. Die Kinder müssen weit fahren um zu außerhalb liegenden Schulen zu kommen. Selbst der staatliche und staatstreue Nachrichtensender TVN dokumentierte im Juli ausführlich, wie wenig in Dichato wirklich passiert.
Die Verzweiflung darüber, im Stich gelassen zu werden und keinerlei Hoffnung mehr auf eine bessere Situation zu haben, wandelt sich am 16. Juli in Wut um: Die Bewohner_innen besetzen gemeinsam die Zufahrtsstraße zur nächstgelegenen Stadt Tomé, zu deren Gemeinde Dichato gehört. Sie zünden Barrikaden an, schlagen auf Trommeln und Fässer oder machen mit Trillerpfeifen Lärm, um ihrem Protest Gehör zu verschaffen. Die Spezialkräfte der carabineros, der chilenischen Polizei, lassen nicht lange auf sich warten, lösen die Barrikade auf und drängen die Bewohner_innen gewaltsam zurück. Die Menschen wehren sich, lassen sich nicht ohne Widerstand verdrängen. Die Wut wächst. Die Polizei setzt Wasserwerfer ein und wirft Tränengasbomben. Eine davon schlägt ins Dach eines mediaguas ein und verletzt dabei ein Kleinkind. Mehrere Menschen werden verhaftet.
Das Entsetzen über die gewaltsame staatliche Repression gegen diejenigen, die bereits alles verloren haben und einzig um ihre fundamentalen Rechte kämpfen, ist groß. Trotzdem gehen die Proteste die nächsten Tage weiter und spitzen sich fünf Tage später noch einmal zu, die Bilder wiederholen sich: 150 wütende Bürger_innen, Bäume auf den Straßen, Barrikaden und auf der anderen Seite carabineros, Wasserwerfer, Tränengasbomben die ohne Rücksicht in die Menge geworfen werden, etliche Verletzte. Die Regierung reagiert mit Null-Toleranz-Rhetorik gegen die Protestierenden. Lorena Arce, eine der führenden Aktivist_nnen in der Bürgerbewegung Dichatos, ruft in einem Video „Eine Delegation der Regierung sollte mal nach Dichato kommen: Hier sind keine Terroristen. Hier sind Menschen, sind Bewohner, sind Bürger, Kinder, Frauen.“
Doch die Regierung ist weit weg, präsent ist sie nur durch riesige Schilder, die inmitten einer verwüsteten Landschaft verkünden, dass hier demnächst ein ‚Boulevard‘ konstruiert wird oder in einem Jahr hier Wohnungen für 200 Familien stehen werden – ein Datum, das bereits einmal überklebt wurde. Eine Baufirma behauptet auf einem ebenso großen Schild am Strand, für den Wiederaufbau der gesamten Region zu arbeiten. Die beiden Baufirmen, die hier für zuständig erklärt werden, sind Großunternehmen, die die Aufträge von der Regierung ohne Ausschreibung oder ähnliches bekommen haben und dafür staatliche Zuschüsse kassieren. In Dichato und darüber hinaus wissen alle, dass die Firmen zum Familienimperium Piñeras gehören.
Am Strand stehen vereinzelt Hausruinen. Ein kleiner Streifen wurde mit Regierungsgeldern aufgehübscht und wird auf der Homepage des Wohnungsministeriums beworben, in denen die „Erfolge“ des Wiederaufbaus dokumentiert werden. Die Gegend in Strandnähe bietet ein größtenteils bizarres Bild: Dort wo einst die Wohnhäuser standen, sind nur noch die Toilettenkerne der Häuser verblieben, auf denen die Namen der Besitzer_innen des Geländes stehen. Alle die hier lebten, wohnen jetzt in einer Notunterkunft, den Berg fast einen Kilometer weiter nach oben. „Keine Enteignung! Dichato wird nicht verkauft!“ ist an die Mauern von Hausruinen gemalt, denn wenn es nach der Regierung geht, können die Menschen nicht wieder auf ihre Grundstücke zurück. Sie sollen enteignet werden, um eine „Schutzzone“ zu errichten. Alle wissen, dass das eine Lüge ist und es wie immer ums Geschäft geht, denn die strandnahe Lage macht das Land wertvoll und für touristische Zwecke attraktiv. Die Bewohner_innen wehren sich dagegen, sie wollen in ihr Dorf, auf ihre Grundstücke zurückkehren.
Nach heftigen Protesten im Juli wurden erneut Gespräche mit dem zuständigen Gouverneur eingeleitet, aber bis auf symbolische Akte kam keine Antwort in Form von konkreten Taten. Führenden Aktivist_innen der Bürgerbewegung initiierten nun die Arbeit am eigenständigen Wiederaufbau „von unten“ und für alle. Dafür wurden auch schon staatliche Zuschüsse bewilligt, die allerdings längst nicht ausreichen. Es soll allerdings verhindert werden, dass die Zuschüsse wie üblich den großen Bauunternehmen in die Taschen fließen.
Die Proteste bedeuteten Lorena Arce zufolge für die Bewohner_innen, ihre Würde zurückzugewinnen. „Denn viele von ihnen haben darauf gewartet, dass man Ihnen Lösungen präsentiert.“ Das Wichtigste sei nun, endlich das deprimierende Dasein in der Notunterkunft zu beenden: „Die Mobilisierung besteht momentan darin zu arbeiten, zu informieren und zurückzukehren zu den Grundstücken.“

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