Verkehrsreform zwischen (Alp-)Traum und Wirklichkeit
Santiago de Chile auf dem schwierigen Weg zur „Stadtregion von Weltklasse“
In den Stoßzeiten wird Transantiago zum Blockbuster. An einzelnen Haltestellen im Stadtzentrum bilden sich dann Warteschlangen, die sich um ganze Häuserblocks winden. In den Bussen und der Metro herrscht bisweilen Atemnot und Platzangst. Die U-Bahn wird regelmäßig wegen Überfüllung geschlossen. In den Hauptnachrichten am Abend ist dies live und in Farbe zu sehen – seit Monaten gibt es kaum ein anderes Thema in Chile. Zu späterer Stunde sind die Busse dann zwar leerer – aber sie kommen nicht. Selbst auf der zentralen Verkehrsader Alameda wartet man eine kleine Ewigkeit auf eine Fahrgelegenheit. Während das für die junge Mittelklasse, die dann aus den Bars strömt, lediglich bedeutet, das Auto oder Taxi nach Hause zu nehmen, ist es für die ärmeren Bevölkerungsteile, die dann noch eine lange Heimfahrt in die entlegenen Außenbezirke vor sich haben, eine Katastrophe. Für viele hat sich die Lebensqualität in der chilenischen Hauptstadt mit der Einführung von Transantiago drastisch verschlechtert. Benito Baranda, Direktor des katholischen Hilfswerks Hogar de Christo, hält den Transantiago für „die größte Demütigung der Armen seit langer Zeit“. Dabei war die Idee zu einem neuen Transportsystem gut und auch bitter notwendig.
Kaum etwas hatte Stadtbild und Luftqualität in der von Smog geplagten Metropole so bestimmt, wie die gelben Nahverkehrsbusse – micros genannt – die auf der Hatz nach Fahrgästen durch die Straßen jagten. Im Jahr 2000 befanden sich 7.000 Busse in Verantwortung von 3.000 KleinstunternehmerInnen. Weil der Lohn der FahrerInnen im Wesentlichen auf der Anzahl der beförderten Fahrgäste basierte, wurden um diese regelrechte Wettfahrten ausgetragen. Nicht ungewöhnlich, dass PassantInnen dabei abgefahrene Außenspiegel um die Ohren flogen. Immer wieder kam es auch zu schweren Unfällen. Weil die Busse dazu noch mit wenigen Ausnahmen völlig veraltet waren, quälten sie die Luft mit Lärm und ungefilterten Abgasen. Das alte System machte krank und aggressiv und war deshalb bei der Bevölkerung verhasst. Transantiago, schon 2002 vom damaligen Präsidenten Ricardo Lagos initiiert, sollte diesen Zustand beenden.
Vorbild Bogotá
Das Prinzip des neuen ÖPNV-Systems in Santiago, welches sich an Vorbildern in Curitiba und Bogotá („Transmilenio“) orientiert, ist einfach: Ein Hauptliniennetz, welches durch die gesamte Innenstadt führt, und lokale Zubringerlinien werden aufeinander abgestimmt und durch die staatliche Metro ergänzt. Um Konkurrenz und damit die berüchtigten Wettfahrten zu vermeiden, wird die Stadtregion für die lokalen Zubringernetze in verschiedene Zonen unterteilt. Diese werden jeweils nur von einem Unternehmen bedient. Ein weiterer Ansatz war: Transantiago finanziert sich selbst. Alle Haupt- und Zubringerlinien wurden deshalb ausgeschrieben ebenso wie die Elemente ‚Benutzerinformation’ und ‚Finanzverwaltung’. Für die Information ist der indische Industrie- und High-Tech-Gigant TATA zuständig und die Finanzen liegen in den Händen eines Konsortiums, das aus einigen der größten Banken des Landes besteht.
Erklärtes Ziel von Transantiago war, die Zahl der Busse auf den Straßen deutlich zu vermindern – durch größere Busse und ein insgesamt effizienter arbeitendes System. Der Anteil der hochmodernen Metro am ÖPNV sollte erhöht und die Luftbelastung durch neue Abgasgrenzwerte (Euro III) stark verringert werden. Soweit die Idee. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Zahl der Busse nimmt heute, vier Monate nach Betriebsbeginn, stetig zu. Einige der ausrangierten gelben Ungetüme werden gar neu gestrichen und reaktiviert. Und, besonders bedenklich, wer kann, steigt auf das Auto um. Von den wichtigsten Zielen – weniger Smog, mehr Lebensqualität – ist Santiago also weiter entfernt denn je. „So wie eine gelungene Umsetzung von Konzepten zur städtischen Mobilität die Lebensqualität der Bevölkerung unmittelbar und spürbar verbessern kann, kann ein Scheitern sich in eine Tragödie verwandeln; so wie wir es gerade erleben“, meint Eduardo Giesen, Verkehrsexperte der NGO Ciudad Viva. Wo liegen die Gründe für das Scheitern?
Die Suche nach Verantwortlichen
Auf der Suche nach Verantwortlichen gerieten zunächst die BusunternehmerInnen in die Schusslinie. Diese seien für den eklatanten Mangel an Maschinen auf den Straßen verantwortlich, weil sie das neue System boykottieren würden. Als Indiz galt ein Zwischenfall während der ersten Verhandlungen zu Transantiago im Jahr 2002. Damals hatte eine Vereinigung von BusunternehmerInnen die gesamte Stadt durch Straßenblockaden lahm gelegt. Die UnternehmerInnen sahen sich durch das geplante und stärker regulierte ÖPNV-System in ihrer Existenz bedroht. Tatsächlich halten sich einige der privaten Busunternehmen bis heute nicht an vertraglich festgelegte Fahrpläne und Mindestmengen an Bussen. Ohne die aber muss das System zusammenbrechen. Die Erklärung der BusunternehmerInnen: zu viele Passagiere zahlen ihre Fahrten nicht. Den Unternehmen entstehen dadurch Einnahmeausfälle, weshalb sie – aus betriebswirtschaftlichen Gründen – nicht mehr Busse losschicken können. Der Regierung, für die Kontrolle der Privaten und das Funktionieren des Systems zuständig, sind die Hände gebunden. Ihr fehlen die juristischen Mittel, um einzelnen Busunternehmen Lizenzen zu entziehen – oder zumindest spürbare Strafen zu verhängen. Wegen dieser Konstruktionsfehler geriet die ganze Konzeption des Transantiago in Verruf.
Als die Zustimmungswerte zur Politik von Präsidentin Michelle Bachelet nicht zuletzt durch die Transantiago-Krise ins Bodenlose zu fallen begannen, zog sie die Notbremse. Ende März, ein Jahr nach ihrem Amtsantritt, nahm Bachelet eine umfassende Kabinettsumbildung vor. Neben dem Verkehrsminister mussten auch die Minister der Abteilungen Justiz und Verteidigung sowie die Generalsekretärin ihren Hut nehmen.
Stadtregion von Weltklasse?
Chile ist schon unter Pinochet gewaltsam auf den neoliberalen Kurs gebracht worden, den es bis heute beibehält. Es existieren mittlerweile Freihandelsabkommen mit allen wichtigen Nationen und Regionen der Weltwirtschaft, China und Indien inklusive. Das macht das Land sehr attraktiv für ausländische InvestorInnen. Und wenn Chile das handelspolitische Tor zu Lateinamerika sein will, dann ist seine Hauptstadt Santiago das Drehkreuz. Hier leben nicht nur 40 Prozent der Bevölkerung des Landes. Auch alle nationalen und multinationalen Unternehmen haben in den von postmodernen Glas- und Stahlkonstruktionen geprägten Geschäftsvierteln ihre Hauptquartiere. In Santiago wird mit dem Costanera Center derzeit auch das höchste Gebäude Lateinamerikas errichtet, in dem u.a. eine gewaltige Shoppingmall untergebracht wird. Zudem verfügt die Stadt über eines der modernsten innerstädtischen Autobahnnetze; in den letzten Jahren wurden über 160 Pistenkilometer gebaut. Ein Ende ist nicht in Sicht. Santiago boomt und hat sich vorgenommen, eine Stadtregion von Weltklasse (ciudad región de clase mundial) zu sein. Was dazu jedoch fehlt, ist die viel beschworene Lebensqualität. Es ist nicht nur der Smog. Santiago weist eine der weltweit höchsten Raten an psychischen Leiden, etwa Depressionen, auf. Mitverantwortlich dafür sind auch Verkehrspolitik und Stadtplanung.
Davon überzeugt ist die NGO Ciudad Viva, die Ende der 1990er Jahre aus dem Protest gegen den umstrittenen Bau einer innerstädtischen Schnellstrasse hervorgegangen ist. „Ein Verkehrssystem, das überwiegend auf dem Einsatz des Autos basiert und den knappen städtischen Raum diesem unterordnet, geht zwangsweise auf Kosten der vitalen Bedürfnisse der Bevölkerung“, schreibt Lake Sagaris, Stadtplanerin und Mitbegründerin der Organisation. Während sich die Zahl der BewohnerInnen Santiagos zwischen 1977 und 2001 verdoppelte, hat sich die Zahl der Autos vervierfacht. Dabei ist der Anteil des Privatverkehrs am gesamten Verkehrsaufkommen zwischen 1991 und 2001 von 19 auf 38 Prozent gestiegen und der des ÖPNV an allen Fahrten hat im gleichen Zeitraum deutlich abgenommen. Während in den ärmeren Kommunen 52 Autos auf 1.000 BewohnerInnen kommen, ist der Wert in den Mittel- und Oberklassebezirken achtmal höher: 430 Autos pro 1.000 EinwohnerInnen. Die Armen, die oft weit entfernt vom Stadtzentrum leben, sind wesentlich dringender auf einen funktionierenden ÖPNV angewiesen.
Mangelnde Partizipation und staatlicher Aktivismus
Für Eduardo Giesen, der in einem frühen Stadium Umweltbeauftragter von Transantiago war, ist klar, dass das neue System „eher auf die Profitinteressen der privatwirtschaftlichen BetreiberInnen denn auf die Bedürfnisse der Bevölkerung zugeschnitten“ ist. „Hinter verschlossenen Türen“ sei geplant und verhandelt worden, ohne die zukünftigen NutzerInnen einzubeziehen.
Dies ist nicht nur undemokratisch, sondern auch eine Verschwendung wertvollen Wissens. Denn wer könnte für die Planung der neuen Routen besser über die Gewohnheiten und Bedürfnisse der Bevölkerung Auskunft geben, als diese selber. Schlechtes Licht wirft dies erneut auf die Regierung Bachelet, war diese doch mit dem Versprechen angetreten, eine „Bürgerregierung“ sein zu wollen.
Zuletzt hat Bachelet im Rahmen eines Maßnahmenkatalogs einen Gesetzentwurf zur Gründung einer gesamtstädtischen Transportbehörde (Autoridad Metropolitana de Transportes) auf den Weg gebracht. Außerdem will sie 290 Millionen US-Dollar in das System pumpen. Und die staatliche Metro soll nun auch Busse betreiben dürfen. Ex-Präsident Eduardo Frei will den ÖPNV in Santiago am liebsten gleich ganz verstaatlichen. Das sind nur auf den ersten Blick erstaunliche Töne im neoliberalen Chile, schließlich beruht dessen Reichtum auf sehr effizienten Staatsunternehmen. Und schon seit Jahren fordern ExpertInnen und Zivilgesellschaft eine stärkere staatliche Beteiligung am öffentlichen Nahverkehr sowie die Einbeziehung der BürgerInnen in die Stadt- und Verkehrsplanung. Bei aller Komplexität – der Alptraum, zu dem Transantiago geworden ist, hätte wohl verhindert werden können.