Chile | Nummer 555/556 - September/Oktober 2020

DISKRIMINIERUNG, GEWALT, CORONA

Die Situation der Mapuche hat sich während der Pandemie verschlimmert

Die Mapuche im Süden Chiles erleben seit Jahren eine Militarisierung ihrer Gebiete, während soziale Fortschritte ausbleiben. Die derzeitige politische und epidemiologische Lage verschärft diese Entwicklungen. Dies zeigt sich besonders an den Lebensbedingungen inhaftierter Mapuche, viele von ihnen traten daher aus Protest in einen Hungerstreik. Besetzungen mehrerer Gemeindeverwaltungen, Zusammenstöße zwischen Mapuche und rechten Gruppen und ein Lastwagenfahrer*innenstreik mit landesweiten Auswirkungen folgten.

Von Malte Seiwerth

„Bringt Machi Celestino zurück“ Demonstration in Temuco zur Unterstützung der Hungerstreikenden (Foto: Radio Kurrvf )

Zwei brennende Rathäuser waren am Sonntag, den 9. August, in allen chilenischen Fernsehsendern zu sehen. Angestachelt von rechtsextremen Organisationen hatten militante Gruppen versucht, vier Gemeindeverwaltungen zu räumen. Mapuche hatten diese eine Woche zuvor besetzt, um hungerstreikende inhaftierte Mapuche in ihren Forderungen nach besseren Haftbedingungen zu unterstützen. Die Polizei sah zunächst tatenlos zu und beteiligte sich später an der Räumung. Trotz coronabedingter Ausgangssperre wurden keine Mitglieder der militanten Gruppen festgenommen, Mapuche dagegen schon. Der Vorfall schleuderte den schon lange schwelenden Konflikt in den südlichen Regionen Chiles wieder einmal ins öffentliche Bewusstsein.

Vor rund 140 Jahren besetzte der chilenische Staat das Land der Mapuche. Die fruchtbaren Gebiete wurden an europäische Siedler*innen – unter ihnen viele Deutsche – verteilt, während die Indigenen marginalisiert und ermordet wurden. Politische Unfähigkeit, Rassismus, wirtschaftliche Interessen und mächtige Unternehmensverbände haben zu dem Konflikt beigetragen, der bis heute andauert und sich unter der derzeitigen Regierung unter Präsident Sebastián Piñera verschärft hat.

Während der Pandemie spitzte sich die Auseinandersetzung nun nochmals zu. Das öffentliche Interesse galt in den vergangenen Monaten jedoch voll und ganz der Unfähigkeit der Regierung und der daraus resultierenden wirtschaftlichen und sozialen Krise. Da die Region der Mapuche relativ wenig von der Pandemie betroffen war, kam ihnen und ihren Themen lange wenig Aufmerksamkeit zu. Soziale Konflikte blieben unbeachtet, doch am Beispiel der Gemeinde von Ercilla, ein traditioneller Hotspot des Mapuche-Konflikts, zeigt sich, dass die Pandemie die vorherrschenden Ausschlussmechanismen verstärkt hat.

Forstplantagen schmücken hier die Autobahn der Panamericana. Um die Gemeinschaft Tricauco, rund zwölf Kilometer von Ercillas Ortskern entfernt, wachsen Eukalyptus- und Tannenbäume. „Im Sommer ist es hier staubtrocken“, erzählt Antuhuenu Marileo aus Tricauco den LN am Telefon – eine Anreise ist aufgrund des Coronavirus unmöglich. Seitdem in den 80er-Jahren unter der Militärdiktatur auf den Feldern ehemaliger Großgrundbesitzer*innen massiv Bäume angebaut wurden, ist der Wasserpegel gesunken. Und jedes Jahr wird es schlimmer: Die schnell wachsenden Bäume nutzen mit ihren tiefen Wurzeln all das Wasser.

„Seit Beginn der Pandemie erleben wir eine zunehmende Militarisierung unserer Gebiete“

„Die Felder, auf denen die Bäume wachsen, gehören eigentlich uns“, fügt Marileo an, „wir haben immer noch die Urkunden“. Doch im Laufe der Jahrzehnte wurde vielen Mitgliedern der Gemeinschaft das Land „abgekauft“ – durch Betrug, Bestechung oder Drohung. „Wir haben sowohl vor Gericht als auch mit Protestaktionen versucht, das Land zurück zu bekommen“, sagt er – bislang erfolglos.

Zweimal die Woche kommt ein Tanklastwagen vorbei. Er füllt die Wassertanks der Häuser auf, denn das Grundwasser ist schon lange aufgebraucht. Marileo erzählt von der Diskriminierung durch die Gemeindeverwaltung: Der Tanklastwagen würde viel zu selten kommen, „das Wasser reicht häufig nicht aus“. Um den Anschein zu vermitteln, man würde alle Häuser versorgen, werden hin und wieder neue Familien in die Liste der Wasserempfänger*innen aufgenommen. Marileo meint, dass dafür aber andere einfach gestrichen werden.

„Der Bürgermeister von Ercilla ist ein Rassist“, meint Marileo. Seine kleine Häusergemeinschaft gehört zur Gemeinde von Ercilla. Während der Corona-Pandemie fühlen sich die Mapuche hier besonders ausgeschlossen. Marileo erzählt vom Fall eines älteren Mitglieds der Gemeinschaft, das an einem Freitag Mitte Juni starb. Am darauffolgenden Wochenende verabschiedeten sich die Mitglieder der Gemeinschaft von dem Verstorbenen. Am Montag kam schließlich eine Mitarbeiterin vom örtlichen Gesundheitszentrum mit der Mitteilung, dass der Mann am Coronavirus erkrankt gewesen sei. Die Nachricht kam viel zu spät, mittlerweile hatten sich weitere Mapuche bei dem Verstorbenen angesteckt.

Für Marileo ist das ein klarer Fall von Diskriminierung: „Hier wurden die Regeln nicht befolgt, weil wir ihnen egal sind“. Als die Zentralregierung Lebensmittelpakete verteilte, ließ die Gemeindeverwaltung die Mapuche-Gemeinschaften außerhalb von Ercilla aus. „Angeblich, weil wir die Beamt*innen angreifen würden“, erklärt Marileo, „wir haben noch nie jemanden angegriffen. Trotzdem werden wir vom Staat wie Kriminelle behandelt“. Oft rasen Jeeps der Polizei über die Sandpisten bei den Häusern, hin und wieder taucht ein Panzer auf.

„Seit Beginn der Pandemie erleben wir eine zunehmende Militarisierung unserer Gebiete“, berichtet auch Eduardo Curin aus der Kleinstadt Nueva Imperial im Telefonat mit den LN. Das Virus ist in der Region Araucanía relativ unter Kontrolle, trotzdem patrouilliert hier seit Beginn des Ausnahmezustands das Militär. Spionageflugzeuge überfliegen einzelne Gemeinden. Kaum verwunderlich, wenn Curin von einer militärischen Besetzung spricht.

Eigentlich begann die rechtskonservative Regierung Piñeras ganz anders. Noch zu Beginn, im Jahr 2018, lancierte sie eine großangelegte Übereinkunft für wirtschaftliche Entwicklung und Frieden in der Araucanía. Mit dabei: Mapuche und Unternehmen, welche bislang kaum im Dialog gestanden hatten. Die Umsetzung der Übereinkunft endete jedoch abrupt: Am 14. November 2018 tötete die chilenische Polizei bei der Verfolgung von Autodieben den Mapuche Camilo Catrillanca mit einem Schuss in den Rücken, während dieser auf einem Traktor nach Hause fuhr (siehe LN 535). Die Polizei war angeblich auf der Jagd nach Autodieben. Als Antwort auf das Attentat gründete sich die Bewegung Xawn de Temucuicui.
Eduardo Curin war Teil dieser Bewegung. „Wir sind sofort nach Valparaíso vors Parlament gegangen, haben erreicht, dass die zuständige Polizeieinheit aufgelöst und der Polizist, der den Schuss abgab, identifiziert und angeklagt wurde.“ Doch danach bewegte sich nichts mehr, „seit fast zwei Jahren laufen die Ermittlungen nun und der Mörder wird für die erfüllte Mission mit einem Extra-Gehalt belohnt“. Curin ist aufgebracht: Nach einem Aufenthalt in Untersuchungshaft veranlasste das Gericht im April 2020 die Überführung des Polizisten in den Hausarrest und es kam heraus, dass die Polizei ihm weiterhin einen Lohn von 900.000 Pesos im Monat zahlte, rund 1.000 Euro. Das ist in etwa doppelt so hoch wie das Einstiegsgehalt einer Lehrperson.

Die inhaftierten Mapuche kämpfen dafür, dass der Staat das Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation einhält

Inhaftierte Mapuche dagegen erfuhren Diskriminierung: Zu Beginn der Pandemie wurden hunderte Häftlinge freigelassen, nur zwei Gruppen blieben weiterhin in Haft: Mapuche und im Zuge der Revolte vom 18. Oktober Festgenommene, also die politischen Gefangenen.

Anfang Mai beschlossen deshalb neun Mapuche im Gefängnis von Angol, in den Hungerstreik zu treten. Ihnen folgten 18 weitere, unter ihnen viele, die in Untersuchungshaft saßen. Der Prominenteste unter den 27 war der Machi (Mediziner und religiöse Autorität der Mapuche, Anm. d. Red.) Celestino Córdova. Die inhaftierten Mapuche kämpfen dafür, dass der Staat das Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation einhält. Dieses verpflichtet die unterzeichnenden Länder, die speziellen Rechte und Lebensweisen der indigenen Völker anzuerkennen und zu fördern. Im Fall des Machi bedeutet dies, ihm die Verbindung zu seiner Gemeinschaft zu ermöglichen. Die Mapuche setzen sich daher dafür ein, dass er regelmäßig dorthin zurückkehren darf, um sich um die Mitglieder zu kümmern und sich bei seinem Rewe (ein den Mapuche heiliger Altar, der für das Wirken der Machi eine zentrale Rolle spielt, Anm. der Red.) körperlich und spirituell zu erholen.

Nach mehr als 90 Tagen Hungerstreik besetzten Mapuche am 3. August die Gemeindeverwaltungen von Curacautin, Victoria, Traiguen und Galvarino, um die Forderungen zu unterstützen. Der Innenminister Víctor Peréz, da erst seit einer Woche im Amt, reiste vier Tage später in die Araucanía. Er forderte die unverzügliche Räumung der Rathäuser. Peréz ist ein Hardliner, kommt aus der Region und hat gute Verbindungen zur ehemaligen Colonia Dignidad und rechtsextremen Kreisen.

Am Tag darauf versammelten sich während der nächtlichen Ausgangssperre mehrere hundert Menschen, um die besetzten Gemeindeverwaltungen zu räumen. Die Menge vor den Rathäusern grölte rassistische Sprechchöre, setzte Autos der Besetzer*innen in Brand und verfolgte fliehende Mapuche. Aufgerufen dazu hatte unter anderem die rechtsextreme Gruppierung Vereinigung für den Frieden und die Versöhnung in der Araucanía (APRA). Deren Sprecherin ist Gloria Naveillán, Mitglied der Regierungspartei Unabhängige Demokratische Union (UDI), der auch der Innenminister angehört.
Für Vicente Painel, Menschenrechtsbeauftragter der indigenen Vereinigung zur Forschung und Entwicklung der Mapuche (AID), waren die Geschehnisse Pogrome an den Mapuche. Er erzählt von verprügelten Mapuche, die nur noch aus dem Geschehen fliehen wollten und meint, dass die Polizei schon vor den Ereignissen wusste, dass sich Menschen vor den Rathäusern treffen würden. „Der Innenminister hat eine klare Mitschuld. Dass sich eine relativ kleine Anzahl von 50 bis 100 Leuten während der nächtlichen Ausgangssperre unbehelligt treffen kann, geht nur mit Zustimmung der örtlichen Sicherheitsbehörden“. Laut Painel ging es ihnen darum, die Konflikte zu verschärfen.

Den Mapuche gegenüber steht eine Gruppe einflussreicher Unternehmer*innen, die in der Araucanía Geschäfte machen: Forstunternehmen, Lastwagenspeditionen und Zellulosefabriken sitzen seit der Militärdiktatur dort auf einer Goldgrube. „Die Militärdiktatur hat nach dem Putsch befreundete Gruppen mit Ländereien belohnt. So sind wahrhafte Enklaven rechtsextremer Akteure entstanden. Unter ihnen auch Lastwagenunternehmer*innen, die den Putsch gegen die sozialistische Regierung Allendes unterstützten.“, so Painel, der auch Historiker ist, gegenüber LN.

Die Bevölkerung in Chile solidarisiert sich von Jahr zu Jahr immer mehr mit den Mapuche.

Hin und wieder gibt es Anschläge auf Forstunternehmen und Lastwägen, die Holz transportieren. Zum Teil werden diese von militanten Mapuche verübt, die oft der Koordination der Gemeinschaften im Konflikt Arauco-Malleco (CAM) angehören. Diese tritt als Organisation für einen unabhängigen Mapuche-Staat ein und setzt auch Gewalt gegen Dinge ein, um Unternehmen zu vertreiben, die das Gebiet der Mapuche ausbeuten. Andererseits hat sich im Nachhinein häufig herausgestellt, dass es es sich bei den Anschlägen um Versicherungsbetrug oder politisches Kalkül rechter Verbände handelte.

Nach harten Verhandlungen willigte der Justizminister, Hernán Larraín (UDI), ein, dass der Machi Celestino Córdova für 30 Stunden seine Gemeinschaft besuchen darf. Des Weiteren wurde erreicht, dass indigene Gefängnisinsass*innen in gemeinsamen Modulen untergebracht werden und das noch innerhalb des laufenden Jahres neue und spezielle Protokolle bei der Inhaftierung Indigener ausgearbeitet werden sollen. Córdova setzte daraufhin seinen Hungerstreik aus. Auch für die anderen 26 Hungerstreikenden schien eine Lösung nahe. Doch dann folgte am 24. August ein weiterer Anschlag auf einen Holzlastwagen, ein kleines Mädchen, das mitfuhr, wurde dabei angeschossen. Gleichzeitig verlangten Lastwagenunternehmensverbände härtere Strafen und mehr Polizei im Kampf gegen die „kriminellen Mapuche“. Der kleinste von drei Verbänden blockierte daraufhin über eine Woche die wichtigsten Autobahnen im Land. Die Regierung versprach ein weiteres Mal härtere Repression und mehr Subventionen. Beachtenswert war, das eigens gegen Straßenblockaden verabschiedete Gesetze nicht gegen die Lastwagenfahrer*innen angewendet wurden.

Die Bevölkerung in Chile solidarisiert sich von Jahr zu Jahr immer mehr mit den Mapuche. Am 25. Oktober 2020 wird über die Ausarbeitung einer neuen Verfassung abgestimmt. Einige Mapuche haben die Hoffnung, dass nach bolivianischem Modell ein Vielvölkerstaat mit speziellen Autonomierechten für die Indigenen ausgerufen wird. Antuhuenu Marileo aus der Gemeinde bei Ercilla ist frohen Mutes und hofft, dass der Diskriminierung damit endlich ein Ende gesetzt wird. Eduardo Curin aus Nueva Imperial dagegen lacht, auf die neue Verfassung angesprochen, am Telefon laut auf. „Das ist nur Augenwischerei. Hier geht es um wirtschaftliche Machtverhältnisse, die lassen sich nicht per Verfassung ändern.“

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