Kidnapping für die Revolution
Entführungsgeschäfte der kolumbianischen Guerilla mit und ohne Mauss
Von den offiziell erfaßten 981 Entführungen im Jahr 1996 gingen etwa 40 Prozent auf das Konto von FARC, ELN und EPL (siehe Kasten). Für die restlichen Fälle sind “gewöhnliche” Kriminelle verantwortlich. 264 Entführungen endeten mit der Befreiung der Geiseln durch die Polizei, 362 – oft nach der Zahlung eines hohen Lösegeldes – mit der Freilassung durch die Entführer. 52 Geiseln wurden ermordet, 18 gelang die Flucht und 285 befanden sich zum Jahresende immer noch in Gefangenschaft. Die Mehrheit der Entführten stammte aus der Mittelschicht; der AusländerInnenanteil unter ihnen betrug “nur” 5 Prozent, was aber immerhin noch einer Zahl von 42 Entführten entspricht.
Die tatsächliche Ziffer der Entführungsfälle dürfte, Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen zufolge, mehr als doppelt so hoch liegen. Viele Familienangehörige erstatten keine Anzeige, um die Verhandlungen mit den Entführern nicht zu gefährden. Die angeführten Daten beziehen sich damit nur auf die Fälle, von denen das Büro des Anti-Entführungs-Zars Alberto Villamizar weiß. Villamizars Frau war eine der Geiseln, die 1991 im Auftrag von Pablo Escobar verschleppt worden waren – jener Fall, den Gabriel García Márquez zum Gegenstand seines letzten Romans “Nachricht von einer Entführung” gemacht hat.
Auge um Auge
So absurd es klingt: Für die Entführten ist es von Vorteil, in die Hände der Guerilla und nicht von “normalen” Banden zu fallen, da sie das Geschäft professioneller betreibt. Sie behandelt ihre Geiseln besser, läßt sich für die Verhandlungen Zeit und geht in der Regel arbeitsteilig vor: Eine Gruppe entführt, eine andere verhandelt mit den Angehörigen. Die Tarife für die Freilassung der Geiseln schwanken zwischen 100.000 und fünf Millionen US-Dollar. Bereits jede zehnte Entführung der Guerilla soll von “Kommissionären” betreut werden, die sich ihre Dienste fürstlich entlohnen lassen. Exemplarisch hierfür dürfte der Fall der drei entführten Ingenieure der dänischen Firma F.L. Schmidt sein, die nach der Vermittlung von Werner Mauss freigelassen wurden (vgl. LN 272 und Kasten).
Trotz der Errichtung eines eigenen Anti-Entführungsprogramms hat die kolumbianische Regierung das Problem der Entführungen durch die Guerilla nicht in den Griff bekommen können. Daher greift die Logik des “Auge um Auge, Zahn um Zahn” um sich: Paramilitärische Gruppen sind dazu übergegangen, ihrerseits enge Verwandte führender Guerilleros zu kidnappen.
Reisen in die Entführung
Die Hoffnung, die ELN werde nach allem, was über die Verbindungen zu Mauss und Kanzleramtsminister Bernd Schmidbauer bekannt geworden war (vgl. LN 271), keine Deutschen mehr kidnappen, stellte sich rasch als vergeblich heraus. Am 27. Dezember 1996 befand sich der Lehrer Günther Lehmann, der in Quito eine deutsch-ecuadorianische Berufsschule leitet, mit seiner Familie und Freunden auf dem Weg an die kolumbianische Karibikküste. In Curumaní (Cesar) fand der geplante Urlaub ein jähes Ende: Lehmann, scheinbar für einen US-Amerikaner gehalten, wurde ins nahegelegene Perijá-Gebirge verschleppt. Wochenlang mußte seine Familie auf ein erstes Lebenszeichen warten. Inzwischen steht fest, daß sich der Lehrer in der Gewalt der ELN-Einheit “Camilo Torres” befindet. Doch konkrete Forderungen für eine Freilassung Lehmanns gibt es nach wie vor nicht.
Anfang März kam es im Darién-Urwald unweit der Grenze zu Panama zu einem Gefecht zwischen Armee und einer FARC-Einheit. Dabei starben vier Guerilleros und zwei Touristen, der Österreicher Johann Kehrer und der Deutsche Alexander Scheurer. Ihre beiden Reisegefährten Manfred Kehrer und Marian Muzinic konnten fliehen und sagten aus, die Gruppe habe 15 Millionen US-Dollar für ihre Freilassung verlangen wollen. Als die Spezialeinheit der kolumbianischen Armee auft
auchte, so ihre Vermutung, habe der Guerillaführer Saúl noch die Ermordung ihrer Freunde angeordnet, ehe er selbst im Kampf fiel. Die vier Ökourlauber waren von Panama aus über die Grenze in die Provinz Chocó eingereist, hatten sich aber noch nicht bei den kolumbianischen Behörden gemeldet, als sie am 7. Februar in die Hände der Guerilleros fielen.
Jagd auf die Guerilla-SympathisantInnen
Alfonso Cano, der zweite Mann der FARC, bestritt vor einigen Monaten in einem Interview der Zeitschrift Alternativa, daß Entführungen offizielle Politik der FARC seien. Doch aus Geldmangel befolgten nicht alle Guerilleros das Entführungsverbot. Außerdem kidnappten auch Deserteure und Kriminelle im Namen der FARC: “Wir wollen den Leuten bewußt machen, daß es so nicht geht.”
Sicherlich agieren viele Guerillaeinheiten weitgehend autonom, jedoch hat keiner der Rebellenführer jemals die Entführungspraxis der letzten Jahre grundsätzlich verurteilt. Sowohl die FARC wie auch die ELN sind in erster Linie militärische Organisationen, die im jetzigen Krieg mit dem kolumbianischen Staat Stellungsvorteile herausholen wollen, bevor es – vielleicht unter einem neuen Präsidenten – einmal zu Friedensverhandlungen mit der Regierung kommt. Dabei scheint der Zweck alle Mittel zu heiligen. Besonders fatal an dieser Situation ist, daß sich eine demokratische Linke im Kriegszustand kaum entwickeln kann – paramilitärische Einheiten ermorden in ihrem “schmutzigen Krieg” nicht nur Guerilleros, sondern vor allem deren vermeintliche SympathisantInnen in der Zivilbevölkerung.