Kolumbien | Nummer 489 - März 2015

Kinder müssen gehört werden

Interview mit Nicolai Moreno Pérez und Edilberto Noguera Meléndez, afrokolumbianischen Kinderrechtsaktivisten der Organisation Funsarep

In Kolumbien sind internationale Kinderrechtsnormen vielfach noch immer nicht durchgesetzt, Kinder und Jugendliche leben in einem gesellschaftlichen Klima, das ihnen den Status als eigenständige Subjekte vorenthält. Der bewaffnete Konflikt hat viele traumatisierte Kinder hinterlassen, die bisher vergeblich auf Entschädigung hoffen. Die LN sprachen mit zwei Kinderrechtsaktivisten.

Juana Corral und Stefanie Wassermann
Fotos: Julian Santana
Edilberto Noguera Meléndez ist seit über 20 Jahren bei der Organisation Funsarep, mit Sitz in Cartagena, aktiv. Die Organisation betreibt Aufklärungs- und Bildungsarbeit zu menschenrechtlichen Themen in der afrokolumbianischen Gemeinde. Er ist Promotor für Kinderrechte und engagiert sich für den Friedensprozess, „Neue Männlichkeit“ und Umweltschutz. Er ist in verschiedenen nationalen und internationalen Plattformen vernetzt Fotos: Julian Santana Edilberto Noguera Meléndez ist seit über 20 Jahren bei der Organisation Funsarep, mit Sitz in Cartagena, aktiv. Die Organisation betreibt Aufklärungs- und Bildungsarbeit zu menschenrechtlichen Themen in der afrokolumbianischen Gemeinde. Er ist Promotor für Kinderrechte und engagiert sich für den Friedensprozess, „Neue Männlichkeit“ und Umweltschutz. Er ist in verschiedenen nationalen und internationalen Plattformen vernetzt. Fotos: Julian Santana.
Nicolai-(1)
Nicolai Moreno Pérez ist 15 Jahre alt und lebt mit seiner Mutter und seinem Bruder in Cartagena. Sie gehören der afrokolumbianischen Gemeinde an. Seit sechs Jahren ist er im Kinderkollektiv „Abriendo Caminos“ der Organisation Funsarep aktiv. Er ist Mitglied und Delegierter in verschiedenen regionalen und nationalen Initiativen, die sich im Bereich der Kinderrechtsarbeit engagieren. Später möchte er Jura studieren.

Wie ist die Lebensrealität für Kinder in Kolumbien?
Edilberto Noguera Melénde: Kinder werden in Kolumbien nicht in ihrer Eigenständigkeit anerkannt. Sie werden zu Objekten staatlicher Intervention ebenso wie zu Objekten der Intervention Erwachsener. Weder gesellschaftlich noch akademisch werden Kinder als eigenständige Subjekte anerkannt. Somit werden sie von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen, marginalisiert und unsichtbar gemacht. Das alles führt zu einer permanenten Bedrohung ihres Lebens und ihrer Sicherheit. Unsere Arbeit besteht darin, gemeinsam mit den Kindern zu arbeiten, sie zu bestärken, ihre Rolle als Bürger einzufordern. Dabei ist aus unserem pädagogischen Selbstverständnis heraus aber wichtig, dass die Kinder auch weiterhin Kinder bleiben und unbeschwert spielen können.

Nicolai, warum setzt du dich für die Rechte der Kinder ein?
Nicolai Moreno Pérez: Ich spreche Dinge gerne an und möchte sie mit anderen teilen. Mir ist es auch sehr wichtig, dass sowohl ich als auch meine Freunde gehört werden. Kinder haben eigentlich viele Rechte, wie sie zum Beispiel in der UN-Kinderrechtskonvention begründet sind. In Kolumbien und Cartagena ist die UN-Kinderrechtskonvention vielen unbekannt. In unser Stiftung Funsarep habe ich sie kennengelernt und weiß jetzt, wie ich mich und meine Rechte verteidigen kann, aber auch die Rechte von Anderen.

Wie waren Kinder vom bewaffneten Konflikt zwischen FARC und Regierung betroffen und welche Rolle spielen ihre Rechte nun in den Friedensverhandlungen?
E.N.M.: Die Auswirkungen des bewaffneten Konflikts auf Kinder waren skandalös und zeigen sich auf vielen Ebenen. Der Friedensprozess kann nicht abgeschlossen werden, ohne dies zu thematisieren. Wir bemerken allerdings, dass Kinder bei den Verhandlungen in Havanna nicht sichtbar sind. Es wird nicht geklärt, wie sie entschädigt werden können und was mit den zwangsrekrutierten Kindern im Zuge der Demobilisierung geschehen soll. Der kolumbianische Staat spricht in diesem Zusammenhang von Kämpfern, wir bevorzugen die Kategorie Opfer – was eine völlig andere Sicht auf das Problem ist. Auch die Guerillaführung sollte Verantwortung übernehmen und etwa für die psychosoziale Betreuung und Reintegration ebenso aufkommen wie für eine ökonomische und soziale Entschädigung der Kinder, die durch sie zwangsrekrutiert wurden. Deshalb ist eine direkte Beteiligung der Kinder an den Friedensverhandlungen eigentlich immens wichtig.
Die verschiedenen Opfergruppen fordern tatsächlich jeweils für sich Entschädigung für die begangenen Verbrechen. Die Kinder haben aber keine Repräsentanten, die für sie vor der Kommission ihre Rechte einfordern würden.
Ein weiteres Problem ist die Straflosigkeit. Um nur ein Beispiel zu nennen: Eine Untersuchung hat ergeben, dass im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt allein zwischen 2008 und 2012 mindestens 48.915 Kinder Opfer von sexuellem Missbrauch wurden. Diese Verbrechen wurden von Mitgliedern aller Kriegsparteien verübt – aber ein Mantel des Schweigens wurde darüber gelegt. Bisher wurde noch keine der Taten vor Gericht verhandelt.
Auch hier zeigt sich, dass das gesellschaftliche Klima in Kolumbien gegenüber Kindern noch immer durch fehlendes Verständnis und mangelnden Respekt geprägt ist.

Was sind konkrete Schritte, um die Situation der Kinder zu verbessern?
E.N.M.: In Bezug auf die Friedensverhandlungen haben wir unter anderem Treffen auf nationaler Ebene organisiert, wo Opfer und indirekt Betroffene ihre Visionen formulierten, welche inhaltlichen Forderungen sie an ein Abschlussdokument der Friedensverhandlungen stellen. Daraus ist ein Video entstanden, das auch in Havanna gezeigt werden konnte.

N.M.P.: Im Allgemeinen ist es wichtig, dass Kinder ihre Rechte kennen. Deshalb gehen wir in Schulen und Gemeinden, um andere Kinder aufzuklären. Wir sprechen mit ihnen über die UN-Kinderrechtskonvention und verteilen Informationen. So auch das Blatt „yo denuncio“ („ich denunziere“); damit können Kinder ganz konkret den Missbrauch von Kinderrechten benennen. Sie müssen ihren Namen nicht nennen und können anonym bleiben, es geht vor allem um ihre Zeugenaussage, die sehr viel wert ist. Ein weiteres Anliegen ist, dass Kinder ihre Erfahrungen mit anderen Kindern austauschen können. Kolumbianische Kinder aus verschiedenen Regionen und kulturellen Zusammenhängen treffen sich im Rahmen einer Kampagne, um voneinander zu lernen. Wir afrokolumbianischen Kinder wissen zum Beispiel nicht, wie indigene Kinder leben – so bereichern wir uns gegenseitig, indem wir unser Wissen teilen. Und gleichzeitig sprechen wir über unsere Rechte.

Eure Arbeit setzt nicht nur bei Kindern und Jugendlichen an, sondern verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz. Auch Frauenrechte und Ideen einer „Neuen Männlichkeit“ spielen eine Rolle. Welche Anliegen verfolgt ihr damit?
E.N.M.: Ursprünglich haben wir begonnen, in Cartagena Alphabetisierungskurse zu organisieren. Cartagena ist eine Stadt, deren Bevölkerungsmehrheit afrokolumbianischen Ursprungs ist. Wir können dort nur aktiv sein, wenn wir die Geschichte, die Identität und die Realität dieser Menschen kennen. Afrokolumbianer sind täglichen Diskriminierungen ausgesetzt; ein Anliegen unserer Arbeit war es also, pädagogische Praktiken zu entwickeln, durch die in der Auseinandersetzung mit den Strukturen eine positive Identität entstehen kann. So wurden Menschenrechte zu unserem zentralen Thema. Neben der Arbeit zu Kinderrechten war ein Schwerpunkt die Arbeit mit Frauen. Wir haben aber festgestellt, dass es nicht ausreicht, die Frauen zu stärken, wenn sich der Rest der Gesellschaft nicht verändert. So haben wir begonnen, auch zu Fragen der Männlichkeit zu arbeiten, denn Machismus ist nicht nur ein Problem der betroffenen Kinder und Frauen, sondern auch ein Problem der Männer.
Wir haben unter anderem Jugendgruppen, die sich mit der Dekonstruktion von Geschlechteridentitäten auseinandersetzen. Sie haben eine Kampagne mit dem Slogan „Cuidado, el machismo mata“ („Achtung, der Machismus tötet“) entwickelt. Hier wurden alltägliche Räume, wie die Straße oder das Zuhause, als kulturelle Konstruktionen entlarvt, die aber dekonstruiert und so mit neuen Bedeutungen aufgeladen werden können. Unser Arbeitsansatz hat gesamtgesellschaftlichen Anspruch: Wir bringen verschiedene Identitäten, Generationen und soziale Klassen zusammen. Die Arbeit mit Kindern steht dabei nicht am Rand, sie ist integraler Teil vom Ganzen. Wir haben in unserer Arbeit viel Zuspruch geerntet, aber auch Kritik. Schließlich stellen wir die hegemoniale Männlichkeit infrage.

Was wünscht ihr euch für die Zukunft?
E.N.M.: Es sollte die Möglichkeit geben, dass Kinder und Jugendliche über Grenzen hinweg miteinander sprechen, um voneinander zu lernen. Das Leben für Kinder und Jugendliche in Deutschland scheint im Vergleich zu Kolumbien überaus privilegiert. Für deutsche Jugendliche ist es aber wichtig zu verstehen, dass die kolumbianischen Kinder nicht nur arm und ungebildet sind. In Kolumbien gibt es auch Kinder wie Nicolai, die für die Durchsetzung ihrer Rechte kämpfen.
N.M.P.: Die Erwachsenen sollten uns darin unterstützen, dass wir Kinder uns gegenseitig aufklären und bestärken können. Sie sollten als Mediator*innen unsere Anliegen und Forderungen begleiten. Auf der anderen Seite wollen wir aber ganz normale Kinder bleiben, die das tun, was Kinder tun: Spielen und Kindsein.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren