Brasilien | Nummer 234 - Dezember 1993

Korruptionsskandale ohne Ende

Als der Abgeordnete Joao Alves vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuß aussagte, sein unerwarteter Reichtum stamme aus Lottogewinnen – “Gott hat mir geholfen” – glaubten die Mitglieder des Ausschusses und die brasilianische Presse, er wolle sie zum besten halten. Dann zeigte sich, der Mann hatte wirklich im Lotto gewonnen: 13 mal in acht Wochen. Nur war es nicht Gottes Hand, die die Zahlen lenkte, sondern ein System der Geldwäsche. Ausgiebige Recherchen ergaben dann, daß Joao Alves seit 1988 24 000 mal (kein Druckfehler!) im Lotto gewonnen hatte. Die Details mögen amüsant erscheinen, die neue Korruptionsaffaire ist es sicherlich nicht, sie hat Ausmaße angenommen, die das politische System Brasiliens ernsthaft erschüttern.

Thomas W. Fatheuer

Das Brasilia der sieben Zwerge

Alles begann damit, daß die Polizei im Oktober einen Mann mit dem gut brasilianischen Namen José Carlos dos Santos unter dem Verdacht verhaftete, er habe seine Frau umgebracht, mit Kokain gedealt und Falschgeld unter die Leute gebracht. Nur, der Mann war nicht irgendwer. Der Ökonom José Carlos hatte es in der Bürokratie Brasilias bis zum Assesor des Haushaltsausschusses gebracht, er war bis 1992 einer der entscheidenden Drahtzieher bei der Erstellung des brasilianischen Staatshaushaltes. Seit einem Jahr ist seine Frau verschwunden, er steht unter Mordverdacht. In seiner Wohnung fanden Polizei und der Untersuchungsauschuß drei Millionen US-Dollar, teilweise gefälscht, sowie Videos und Utensilien, die zeigten, daß die Wohnung von José Carlos für Sexorgien – unter Beteiligung von Abgeordneten – diente. Aber diese üble Räuberpistole, die einem billigen Film entliehen scheint, war nur der Auftakt zu einer noch unüberschaubareren Korruptionsaffaire. Im Gefängnis beschloß José Castro auszupacken. Er nannte Namen und Details, wie über Jahre hinweg der Staatshaushalt von einer Gruppe von Abgeordneten manipuliert worden war. Die Gruppe war schon vor diesen Aussagen als die Hintermänner des Haushaltsausschusses identifiziert worden, und die Presse hatte sie als die “sieben Zwerge” bezeichnet. Zunächst hielten viele die Beschuldigungen José Carlos für den Versuch eines in die Enge getriebenen Übeltäters, Dreck in den Ventilator zu schmeißen. Aber immerhin wurde ein parlamentarischer Untersuchungssausschuß (CPI) eingerichtet und der Erste der vernommen wurde, war Joao Alves. Als dieser dann von Gott und Lotto erzählte, war allen klar: die Beschuldigungen von José Carlos haben Hand und Fuß, die Beweise gegen Joao Alves gelten inzwischen als hinreichend, um sein Mandat zu kassieren.

Der Staatshaushalt als Selbstbedienungsladen

Wie aber funktionierte die Haushaltsmafia? Entscheidendes Instrument ist eine Besonderheit des brasilianischen Haushaltrechtes: Einzelne Abgeordnete können Änderungsvorschläge beziehungsweise Ergänzungen (bis zu 50 “emendas”) einreichen. Diese beziehen sich in der Regel auf ein konkretes Projekt: die Straße in der Gemeinde X oder der Kindergarten in der Gemeinde Y. Nur gingen diese Gelder dann in vielen Fällen in Projekte, die viel teurer angesetzt waren als die realen Kosten, oder in Tarnorganisationen, die von Freunden oder Verwandten der Abgeordneten geleitet wurden. Nach Ermittlungen des Untersuchungsausschusses und der Presse sind von 150 Millionen DM, die in den letzten drei Jahren vom Sozialministerium als zusätzliche Mittel bewilligt worden waren, 130 Milionen (etwa 90 Prozent also) zur Finanzierung von Wahlkampagnen mißbraucht worden – oder sie flossen direkt in die Taschen der Abgeordneten und deren Verwandte.
Die Skandale im Einzelnen sind eigentlich keine Neuigkeit, der Mißbrauch von Staatsgeldern für private Zwecke wird immer wieder von Opposition und Presse angeklagt. Neu sind Ausmaß und Systematik dieser Haushaltsmafia. Nur ein Beispiel: einer der “sieben Zwerge” ist Feres Nader, der Tycoon einer Provinzstadt im Staate Rio de Janeiro. Ihm gehören fünf Fernsehsender und mehrere private Schulen und Fachschulen. Sein Jahresumsatz belief sich 1990 auf 2,7 Milliarden (!) US-Dollar, eifrig unterstützt durch Zuwendungen aus dem Staasthaushalt. Joao Alves veranstalte in Bahia ein Ausgabenfestival, um seine Wiederwahl als Abgeordneter zu garantieren. Ohne Nachweise über die Verwendung bringen zu müssen, erhielten Bürgermeister etwa 4 Milionen US-Dollar für das Versprechen, ihm Stimmen zu garantieren (alle Angaben nach Jornal do Brasil vom 31.10.93). Die Enthüllungen des Ausschusses sind auch ein Lehrstück in praktizierter Demokratie in Brasilien.

Linke und Militärs profitieren von der Krise

Jeden Tag werden nun durch Fernsehen und Presse alle Vorurteile gegen die politische Kaste in Brasilia bestätigt. Natürlich erinnert dies alles an den Skandal, der Collor letztes Jahr zu Fall brachte. Aber damals erhofften viele BrasilianerInnen von der Aufdeckung des Skandals, daß dies den Weg für eine neue Ethik in der Politik freimachen könnte. Jetzt werden eher pessimistische Verallgemeinerungen und Politikverdrossenheit verstärkt. In jüngsten Umfragen wächst die Zahl derer, die nicht wählen wollen, gewaltig. Aber der Skandal hat auch konkrete politische Auswirkungen.
Zunächst ist das Projekt der Verfassungsreform, die jetzt anlaufen soll (vgl.LN 233) gefährdet. Die eh schon umstrittene Legitimität des Parlaments für ein solches Werk ist mehr als angeschlagen. Die Verfassungsreform ist das große Anliegen des Mitte-Rechts Blockes, um das geltende Gesetzeswerk von nationalistischen Überbleibseln zu bereinigen und damit den Weg für den Marktliberalismus zu ebnen. Geschwächt durch den Skandal wird also genau dieser Block, und damit auch die Kräfte, die die Regierung Itamar Franco stützen. Ein Jahr vor neuen Präsidenschaftswahlen scheint die Regierung nun kaum den politischen Spielraum zu haben, um noch offensiv zu agieren.
Die vom Wirtschaftsminister Fernando Henrique Cardoso eingeforderte Steuerreform als Voraussetzung für ein Stabilisierungsprogramm ist in weite Ferne gerückt. Brasilien geht damit in einer unstabilen Situation in das Superwahljahr 1994. Gestärkt wird natürlich bisher die Linke, deren Abgeordnete nicht in den Skandal verwickelt sind. In Umfragen führt der Präsidentschaftskandidat der PT (Arbeiterpartei), Lula da Silva, mit so großem Abstand, daß einige “PTistas” schon von einem Wahlsieg im ersten Durchgang träumen. Aber kurioserweise gibt es auch einen anderen Gewinner. Der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses heißt Jarbas Passarinho. Dies ist eine tragische Ironie. Passarinho gehört zu den typischen Überlebenskünstlern der brasilianischen Politik. Schon Collor diente er zu dessen Endzeiten als Minister und zu Hochzeiten der Militärdikatatur war er für das Justizressort verantwortlich. Er war es, der das berüchtigte Dekret AI-5 unterschrieb, das die harte Phase der Diktatur einleitete und durch das Mandate von Abgeordneten kassiert werden konnten. Heute posiert Passarinho von neuem als Kreuzritter gegen die Korruption – und schon steigt seine Popularität in den Wahlumfragen, obwohl er erklärt, kein Kandidat zu sein. Aber er ist zumindest wieder eine Schlüsselfigur im politischen Establishment. In den Augen vieler BrasilianerInnen ist die Verbindung zum Militärregime kein Makel mehr. Die Diskreditierung der bürgerlichen Demokratie durch die Korruptionsskandale führt zu einer gewissen nachträglichen Relegitimierung der Miltärdiktatur nach neunjähriger ernüchternder Erfahrung mit zivilen Regierungen. In ein solches Bild passt auch die Diskussion über den Einsatz des Militärs zur Bekämpfung der Drogenbanden in Rio. Nach Umfragen, denen allerdings nicht immer zu trauen ist, befürwortet die Mehrheit der BewohnerInnen Rios einen solchen Einsatz. Die Streitkräfte feiern ein come-back als Ordnungsmacht. Es ist absurd: eine Aufdeckung von Korruption erweckt mehr Befürchtungen als Hoffnungen. Von der Aufbruchstimmung und dem Optimismus, der die Amtsenthebung Collors begleitete, ist zur Zeit – im brasilianischen Frühling – wenig zu spüren.


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