Chile | Nummer 331 - Januar 2002

Langweilig, repressiv und konservativ

Interview mit dem chilenischen Soziologen Jorge Vergara Estévez

Am stärksten gehorcht die chilenische Gesellschaft den Gesetzen des freien Marktes. Wurde Chile zunächst als abschreckendes Beispiel für eine “neoliberale” Wirtschaftspolitik gehandelt, so wird dem Land seit Anfang der Neunzigerjahre Modellcharakter für Lateinamerika zugeschrieben. Über die negativen Auswirkungen und die psychologischen Folgen des Prozesses der neoliberalen Modernisierung sprachen die Lateinamerika Nachrichten mit Jorge Vergara.

Sabine Bayer, Yasmin Córdoba Schwaneberg

Mit dem Wirtschaftsmodell der Chicagoer Schule hat Chile die einschlägigsten Erfahrungen aller lateinamerikanischen Länder mit dem Neoliberalismus. Welche Stadien hat Chile bis heute während der neoliberalen Reform, vom Politiker Joaquín Lavín auch als “schleichende Revolution” bezeichnet, durchlaufen?

Im Gegensatz zu den meisten lateinamerikanischen Ländern, denen in den Achtzigerjahren das neoliberale Modell von internationalen Finanzorganisationen auferlegt wurde, war die Umsetzung in Chile eine Entscheidung der Militärjunta und der Elite, die das Land regierten. In den ersten Jahren des Neoliberalismus von 1973 bis Anfang der Achtzigerjahre gab es in Chile ein sehr geringes Wirtschaftswachstum. Nach den “Goldenen Jahren” von 1982 bis 1986 mit Wachstumszahlen von sechs Prozent stagnierte das Wachstum wiederum. Seit 1974 war das durchschnittliche Wachstum jedoch nie höher, als es zu Zeiten der Demokratie gewesen war. Das heißt, dass man den Wohlstand durch eine Illusion des wirtschaftlichen Wachstums ersetzt, obwohl dieses eigentlich gar nicht größer ist. Zurzeit erleben wir eine Radikalisierung des neoliberalen Modells. Ein Beispiel dafür ist die geplante Privatisierung der staatlichen Kreditvergabe für StudentInnen. In Chile ist der Zugang zur Universität sehr teuer. Die monatlichen Beiträge liegen bei 200 US-Dollar, das Durchschnittsgehalt gleichzeitig nur bei 450 bis 500 US-Dollar. Viele Studenten sind folglich auf eine finanzielle Unterstützung angewiesen. Sollte diese privatisiert werden, würden zukünftig die Banken bestimmen, wer in Chile studieren kann und auch welche Fächer.

Welche Rolle spielt die Regierung Lagos in dem Prozess der neoliberalen Modernisierung?

Die jetzige Regierung trat ihr Amt unter schwierigen Voraussetzungen an. Denn die Concertación (eine Allianz linker und bürgerlicher Parteien) gewann mit einem sehr viel geringerem Vorsprung als erwartet. Für mich verkörpert die Regierung Lagos die Fortsetzung des neoliberalen Modells. Es ist unabhängig von Regierungswechseln. Die Concertación begreift, dass die Zeiten, in denen ein überragender Wahlsieg möglich gewesen wäre, vorbei sind. Daher geht es heute nicht um die Reformierung des Systems, sondern um die Fortsetzung einer Politik, die den oppositionellen Rechten, dem Militär und der Justiz eine große Teilhabe an der Macht zugesteht. Wenn durch die Wahl des Präsidenten Veränderungen machbar wären, dann nur begrenzt durch die Macht von Justiz und Militär.

Wie erfährt die chilenische Gesellschaft den Prozess der Modernisierung?

Eine der negativen Folgen ist das ungeschützte Arbeitsverhältnis. Die rechtliche Grundlage der “Flexibilisierung” ermöglicht es den Betrieben, Arbeitsverhältnisse grundlos zu kündigen. Damit soll vor allem die Bildung von Gewerkschaften unterbunden werden. Die Gehälter stehen in einem unausgewogenen Verhältnis zu den Lebenshaltungskosten. Folglich sind die Menschen hoch verschuldet. Die Schulden der Arbeiter in öffentlichen Betrieben sind vier bis fünf mal so hoch wie ihre Gehälter. Eine weitere Auswirkung ist die Nordamerikanisierung der chilenischen Gesellschaft. Trotz fehlender finanzieller Möglichkeiten wird versucht, ein Lebensstandard nach nordamerikanischem Erfolgsmodell aufrecht zu erhalten. Dies liegt vielleicht an der schwach ausgeprägten kulturellen Identität der Chilenen.

Welche Auswirkung hat der Neoliberalismus auf die Psyche der chilenischen Bürger und Bürgerinnen?

Analysen über das wirtschaftliche Wachstum berücksichtigen meistens nicht die psychosozialen Auswirkungen auf die Bevölkerung. Es gibt aber einen Bericht der Vereinten Nationen über Chile aus dem Jahre 1998, in dem von einer “geschädigten Subjektivität” die Rede ist. Die häufigen Fälle von Depressionen und Stress stehen in einem direkten Zusammenhang mit der wirtschaftlich angespannten Situation. Da die meisten Chilenen sich über den Konsum identifizieren, fühlen sie sich gezwungen, diverse Konsumgüter zu erwerben, um ihren Platz in der Gesellschaft zu finden, wodurch sie sich wiederum hoch verschulden. Für 80 Prozent der Chilenen bestimmt das Einkaufszentrum nach nordamerikanischem Vorbild ihr soziales Umfeld. Ursache hierfür scheint mir einerseits der Verlust von Individualität durch das neoliberale Modell und andererseits die fehlenden Identifikationsmöglichkeiten mit Parteien und Gewerkschaften. Der Widerspruch zwischen dem exzessiven Konsumwunsch und der Unfähigkeit des Systems schafft eine unverständliche Realität, die erstickend wirkt.

Wie hoch ist der aktuelle Einfluss der internationalen Finanzorganisationen auf das wirtschaftliche Wachstumsmodell.

Zurzeit ist der Einfluss internationaler Organisationen geringer, da Chiles Auslandsschulden niedrig sind. Im Unterschied zu anderen lateinamerikanischen Ländern stimmten der neoliberalen Modernisierung in Chile die wirtschaftlichen, religiösen, politischen und militärischen Eliten komplett zu. Auch wenn es widersprüchlich erscheint, haben sich die militärischen Eliten sehr schnell mit diesem Modell identifiziert. Um die Gesellschaft zu restrukturieren war es die einzige Alternative zur rechten Politik und die beste Art und Weise, den Kommunismus zu bekämpfen. Außerdem profitierte das Militär von diesem Wirtschaftsmodell. Pensionierte Militärs haben die Möglichkeit, in Firmen einzutreten und oft werden Oberbefehlshaber auch selbst Unternehmer. Diejenigen, die Pinochets politische Polizei geleitet haben, besitzen heutzutage große Sicherheitsfirmen.

Gibt es in Chile nennenswerten Widerstand gegen das System?

Die einzigen Gegner sind politische Minderheiten wie die Kommunisten, denen nicht einmal erlaubt ist, im Parlament vertreten zu sein. Laut Statistiken stufen 65 Prozent der Chilenen das wirtschaftliche Modell als unfair ein. Insbesondere leidet die Jugend unter der Situation, da sie besonders mit Problemen wie der Integration in das Arbeitsleben, der Diskriminierung durch Institutionen und der Spaltung des Volkes konfrontiert ist. Daher beschreiben sie ihr Land als langweilig, repressiv und konservativ. Es gibt kleine Widerstandsbewegungen, die aber eher leise sind.

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