“Lateinamerika hat sein Charisma verloren“
Interview mit dem Verleger Hermann Schulz
Du hast in diesem Jahr die Hermann-Kesten-Medaille vom PEN Deutschland verliehen bekommen, weil Du für die Freiheit des Wortes gekämpft hast. Was ist für Dich „Freiheit des Wortes“?
Ich habe mich ein bißchen geniert, als ich mir die Persönlichkeiten und die Leistungen der bisherigen Preisträger angesehen habe. Hinterher stand in der Begründung, daß ich sie für den „vorbildlichen Umgang mit Autoren aus der Dritten Welt erhalten habe“.
Der Peter Hammer Verlag hat Engagement als Verlagsauftrag begriffen. Aber geht politisches Engagement nicht noch weiter als für die Freiheit des Wortes einzutreten?
Ich denke schon. Ich glaube auch, daß man die Formel „Freiheit des Wortes“ sehr schnell instrumentalisieren kann. Das hört sich immer gut an, und man kann sicher sein, daß man Applaus bekommt. Nur, was heißt das schon in Ländern, wo Autoren nie die Chance bekommen, ihr Geschriebenes jemals zu veröffentlichen. Das passiert in Lateinamerika, und noch schlimmer in Schwarzafrika, wo aus ökonomischen Gründen Bücher nicht erscheinen. Oder das gesamte Verlagswesen ist in den Händen der intellektuellen Oberschicht, die manchmal absolut nichts mit dem zu tun hat, was an der Basis gedacht und auch erlitten wird. Das hat mich am meisten frappiert. Alle Appelle zur Beteiligung der Bevölkerung sind mehr oder weniger Lippenbekenntnisse gewesen.
Also auch bezogen auf die sandinistischen Intellektuellen, die verlegt wurden?
Das ist gar keine Frage, auch da! Natürlich wurden Anfang der 80er Jahre in Heftchen des Kulturministeriums auch die Volkspoesie und die Ergebnisse aus den Werkstätten der Poesie gedruckt. Aber das wurde schnell wieder eingestellt, und damit waren diese kleinen Pflänzchen verdorrt. Der Verlag „Neues Nicaragua“ ist da ein weiteres Beispiel (vgl. Debattenbeitrag von Cristina Nord, LN 289/290). Es ist nie wieder gutzumachen, was da kaputt gemacht worden ist. Das empört mich ein bißchen, nicht zuletzt deswegen, weil da auch unheimlich viel Spendengelder hineingeflossen sind.
Hat vielleicht diese Enttäuschung dazu geführt, sich mehr auf Afrika zu konzentrieren?
Das auf keinen Fall. Der Grund, warum wir in den letzten Jahren relativ wenig lateinamerikanische Bücher gemacht haben, ist einfach die riesige Langeweile, die sich bei den Autoren und ihren Büchern breit gemacht hat.
Hast Du das Gefühl, daß das fehlende Interesse an lateinamerikanischer Literatur auf diese Langeweile zurückzuführen ist?
Nicht nur. Lateinamerika hat sein Charisma verloren. Das, was mal hunderte von Solidaritätsgruppen auf die Beine gestellt haben — diese Flamme ist ausgeblasen. Die Nachfrage ist nicht mehr da, weil Lateinamerika politisch kein Thema mehr bietet, was bei den Leuten das Herz entzündet.
Was könnte denn heute den Leuten das Herz entzünden, was könnte heute das Besondere sein an lateinamerikanischer Literatur?
Das ist schwer zu sagen. Und ich kann den lateinamerikanischen Autoren auch nicht vorwerfen, daß sie nicht so schreiben, wie die Europäer es von ihnen erwarten. Wenn diese Modebewegung, diese Nachfolge von García Márquez, endlich ein Ende hätte, und es würden wieder handfeste Geschichten erzählt, ohne den Magischen Realismus!
Ich bin sicher, daß es in Lateinamerika eine ganze Menge wichtiger und neuer Bücher gibt, aber bisher sind sie mir nicht bekannt geworden. Früher hatte ich überall Leute sitzen, die mich informierten. Heute ist davon nur noch Galeano geblieben und der sagt: „Laß die Finger davon, es ist alles schrecklich langweilig, zur Zeit kannst du hier nichts erwarten!“ Die anderen Berater, die früher Soziologie oder Politologie unterrichteten, haben heute Reitställe und unterhalten sich lieber darüber, wo es den besten Käse gibt oder den besten Wein.
In den letzten Jahren sind durch Globalisierung und Mediatisierung Asien und Afrika verstärkt in unser Blickfeld gerückt. Könnte man sich das Desinteresse der Leser in Deutschland mit einer solchen Konkurrenz erklären?
Ich glaube nicht, daß es eine Konkurrenzsituation gibt. Eher ist, seit man den Imperialismus nicht mehr für alles verantwortlich machen kann, eine bestimmte Beruhigung eingetreten. Das Gefühl, daß unser Wohlstand mit der Armut der Länder der „Dritten Welt“ zu tun hat, ist nicht mehr präsent. Wir müssen uns nicht mehr schuldig fühlen. Die persönliche Verantwortung, etwas für die Gerechtigkeit auf dieser Welt zu tun, ist nicht mehr da. Das äußert sich vielleicht nochmal in Spenden, wenn ein Hurrikan über Zentralamerika hinwegfegt, aber es ist kein explizit politisches Interesse mehr.
Ich glaube, die Zeiten sind vorbei, wo die Leserschaft so eingeschworen war auf eine bestimmte politische Haltung. Heute ist die literarische Qualität der Bücher wichtiger. Wenn Gioconda Belli ein Buch schreibt wie „Bewohnte Frau“, erreicht es 800.000 Exemplare. Wenn sie aber dann im Nachschlag hingeht und ein Buch schreibt wie „Waslala“, das politisch korrekt ist von der ersten bis zur letzten Zeile, da kann ich das Publikum verstehen, wenn es sich abwendet und sagt: „Das wollen wir jetzt nicht mehr.“ Diese Frau hat so geschrieben, wie sie meint, daß die Europäer sie lesen wollen.
Wie würdest Du die Situation des Literaturbetriebs in Kuba einschätzen?
Vor drei Jahren habe ich in Kuba mit Christoph Links (Verleger aus Berlin; Anm. d. Red.) zusammen ein Seminar gemacht für junge Verleger. Eigentlich war dieses Seminar gedacht für 30 Teilnehmer, es kamen aber 90. Die hatten ein Riesenbedürfnis, ihre Isolation zu durchbrechen, zu erfahren, was anderswo gemacht wird. So als wollten sie sich vorbereiten auf eine Zeit, wo Kuba bessere finanzielle Möglichkeiten hat, die Buchproduktion anzukurbeln. Das war im gleichen Jahr, als in Kuba nur fünf, sechs neue Bücher erschienen waren, weil kein Papier da war. Die Leute saßen in den Verlagen und bereiteten Neuerscheinungen vor, die bis heute wahrscheinlich nie gedruckt worden sind. Ich bin in Buchhandlungen gewesen, die im Tauschverfahren aus Mexiko und Nicaragua Bücher bekommen hatten. Die Leute standen Schlange, um diese Bücher zu bekommen. Es ist ein Jammer, daß Kuba zur Zeit in einer solchen Isolation und Stagnation steckenbleibt, und gleichzeitig eine Bevölkerung hat, die so phantastisch auf das Lesen vorbereitet ist.
Aber ist diese Stagnation ausschließlich auf finanzielle Probleme zurückzuführen, oder auch auf politische Enge, im Sinne von Zensur?
Diese Zensur gibt es sicher noch, doch im Moment diskutiert das niemand. Die Intellektuellen rechnen ohnehin damit, daß es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis Fidel abgelöst wird und sie selbst die Zukunft Kubas in die Hand nehmen können.
Viele fragen sich, wo es in Lateinamerika literarisch hingeht, suchen vergeblich nach Strömungen, nach neuen Sternen am Himmel. Wie würdest Du dieses Phänomen erklären?
Ich glaube, daß jede Bewegung auch eine Gegenbewegung hervorbringt. Es würde mich nicht wundern, wenn in Nicaragua nach diesem ungeheuer aufgedröhnten Aufbruch der 70er, 80er Jahre eine Generation einfach beiseite schiebt, was gewesen ist, und sagt: „Wir wollen jetzt was ganz Neues machen.“
Es gibt da zum Beispiel den kürzlich verstorbenen Dichter Carlos Martínez Rivas. Leider hat er notariell festgelegt, daß seine Verse niemals in eine andere Sprache übersetzt werden dürfen. Meiner Meinung nach steht dieser Dichter viel mehr für die nicaraguanische Literatur als Cardenal. Seine Durchdringung von Religiosität, Erotik und Geschichte des Kontinents ist einmalig. Mich würde sehr interessieren, wie die junge Generation zu einem solchen Poeten steht, der ein wirklicher Revolutionär war, viel mehr als diejenigen, die dann bei den Sandinisten oben auf dem Treppchen standen.
Wenn er hier verlegt worden wäre, hätte er auf Grund politischer Interessen trotz höherer literarischer Qualität weniger Leser gefunden, oder was meinst Du?
Auf lange Sicht hätte er sicher mehr Leser gefunden, obwohl Cardenal mit seiner Gebrauchslyrik natürlich viel breitere Schichten anspricht. Dennoch wäre eine Sammlung mit den besten Gedichten von Rivas für mich als Verleger und für die Literatur viel wertvoller. Dafür hätte ich jeden ideologischen Beweggrund beiseite gelassen und hätte ihn verlegt.
Was bedeutet heute für Dich engagierte Literatur?
Das Prinzip, Romane und Sachbücher aus der Dritten Welt zu verlegen, hatte vor allem mit mir und meiner mangelnden Intellektualität zu tun: Sie mußte verständlich sein für jemanden, der mittlere Reife hat, sie mußte unterhaltsam sein, und sie mußte informieren über die Art und Weise, wie Menschen leben. Damit ist der Verlag gut gefahren. Ich habe mich nie für die ganz hohe Literatur interessiert, und ich würde sie nicht gerne im Programm haben. Das nicht, weil die Trauben zu hoch hängen, sondern weil diese Bücher viel weniger bewegt haben als zum Beispiel die „Bewohnte Frau“ von Gioconda Belli. Es ist literarisch sicher kein hervorragendes Buch, aber es trifft nicht nur den Kopf, sondern auch das Herz. Auch bei Galeano erfährt man immer etwas über die Visionen und die Kultur der einfachen Menschen. Das ist für mich engagierte Literatur.
Sind die neueren Autoren nicht mehr engagiert?
Das letzte politische Buch, das wir gemacht haben, ist „Nachrichten aus dem Imperium“ von Fernando del Paso. Ein Schlüsselroman und ein Werk der Weltliteratur. Dieses Buch ist in Deutschland total durchgefallen. In Mexiko hat es eine Auflage von 180 000 Exemplaren und gehört zur Pflichtlektüre. Die Europäer sind also an dem, was ihre eigene Geschichte angerichtet hat, gar nicht so interessiert. Die Art und Weise, wie die Europäer in diesem Buch dargestellt werden, stört eher die gute Laune.
Könnte es sein, daß mit der „einschläfernden Demokratisierung“ der letzten Jahre auch das Kulturelle eingeschläfert wurde?
Ja, ich glaube, daß die Lateinamerikaner im Augenblick Probleme haben, ihre Identität neu zu formulieren. Che Guevara und die Kubanische Revolution waren Ausdruck einer ganzen Generation von Intellektuellen, aber auch von Taxifahrern. Jetzt ist das plötzlich weg und muß sich irgendwie neu formulieren. Das kann ein sehr spannender Prozeß sein, nur müssen wir vielleicht noch eine Weile darauf warten.