Literatur | Nummer 299 - Mai 1999

Leben auf Teufel komm raus

Anläßlich des Todes von Jaime Sabines

Fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit starb am 19. März der mexikanische Dichter Jaime Sabines. Vielleicht gerade weil er nie „in Mode war“ (Carlos Monsiváis), ist er ein Klassiker geworden. Seine Gedichte sind zeitlos, sie thematisieren die großen und kleinen Dinge des Lebens – und immer wieder auch den Tod.

Ann-Catherine Geuder

Ob Jaime Sabines wohl mit seiner Beerdigung zufrieden gewesen wäre? Zur Totenwache wie auch zur Beerdigung erschien bloß ein kleiner Kreis; engste Freunde und Verwandte, Schriftstellerkollegen und Politiker. Nur wenige Leser waren gekommen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Ob dies Sabines betrübt hätte? „Weil ich so sehr die wunderbare Gleichgültigkeit der Welt gegen mein Leben liebe, wünsche ich auch sehnlichst, daß man meinen Leichnam respektiere.“* Er hatte eine bescheidene Bestattung, die seinem Leben entsprach. Der beliebte Dichter mied die Schriftstellerzirkel und den ganzen Rummel, er wollte nie Aufhebens um sich machen. Seine Zurückhaltung ging so weit, daß er neue Gedichte in die Nachdrucke alter Gedichtausgaben einschmuggelte, statt mit großem Pomp ein weiteres Buch zu feiern.

Warum weinst du?

Sabines sagte einmal in einem Interview, daß es sehr schwer wäre, den Dichter und den Privatmenschen Sabines voneinander zu trennen: „Jaime Sabines ist eine einzige Person, nur daß Jaime Sabines sich in manchen Momenten im Leben nicht erlaubt, Dichter zu sein.“ Der Tod, den das lyrische Ich beschäftigt, hat auch den Menschen Sabines ein Leben lang beschäftigt. Gefolgt von einer langen Autoschlange wurde nun sein Sarg zum Panteón Jardín de la Ciudad de México gefahren, doch im Gegensatz zum Bestattungsumzug in Sabines’ Prosa paßte sich der Verkehr dem Totenzug an. „Der Leichnam bewegt sich vorwärts, verhält, zieht wieder an, und man denkt, sogar die Toten müssen auf die Ampeln achten. Es ist eine städtische Beerdigung, angemessen und entschlossen.“* Wahrscheinlich hatten viele der Trauernden ein paar Verse des Verstorbenen auf den Lippen, als sie mit den Tränen kämpften; sie gedachten eines Mannes, der sich in seinen Gedichten immer wieder mokiert hat über den Brauch des Begrabens, mit dem der Leichnam in der Erde eingesperrt wird: „Ich erwarte immer, daß die Toten sich erheben, den Sarg aufbrechen und fröhlich sagen: Warum weinst du? Warum sollte man den Leichnam nicht einfach an der Luft trocknen lassen, bis seine Knochen uns von seinem Tod erzählen, wieso verbrannte man ihn nicht oder warf ihn in den Fluß?** Auch Sabines wurde letzlich in der Erde vergraben; aber es war eine einfache, beschauliche Beisetzung. Unterbrochen wurde die Stille nur durch einige Kracher und Hochrufe, danach ein paar Lieder und Gedichte von Freunden. Das hätte ihn wahrscheinlich gefreut. Seine 1967 beschriebene Vision eines fröhlichen Totenhauses ist hingegen Fiktion geblieben, vielleicht, weil dann die Toten tatsächlich nach ein paar Tagen auferstanden wären. (Und wo soll man hin mit all den Menschen?)

Dichter der Verzweifelten und Hoffenden

Obwohl Sabines nie von der Poesie leben konnte, war sie sein Leben. Sein Brot verdiente er sich mit dem Verkauf von Futtermitteln für Kühe, auch der „geistigen Gesundheit“ wegen, um sich nicht von „intellektueller Frivolität“ anstecken zu lassen, so Sabines. Geboren am 25. März 1926 in Tuxtla Gutiérrez, Chiapas, gehört er zur Generation von Carlos Fuentes, Efraín Huerta und Rosario Castellanos, beeinflußt vor allem von César Vallejo und Pablo Neruda. In seiner Dichtung sind sowohl Spuren der Volkspoesie als auch die von Klassikern und Avantgardisten auszumachen; seine Gedichte sind nicht nur in unzähligen Anthologien, sondern auch im kollektiven Gedächtnis festgehalten, sie werden spontan rezitiert und ziehen vor allem ein junges Publikum an. Grund dafür mag der klare Ton der Gedichte sein, die jegliche Abstraktion oder Metaphorik meiden. Sabines zieht dabei das ganze Register von gehobener bis vulgärer Sprache, er ist der Einsame, Betrunkene, Tobende, aber auch der Liebende, Zärtliche, Tröstende und umarmt alle, spricht für alle, denen es ähnlich geht. In seiner Lyrik wie auch seiner Prosa besingt er immer wieder die Verzweiflung, um am Ende ein Stück Hoffnung zu retten, kämpft von Angesicht zu Angesicht mit dem Tod, um sich dem Leben zu nähern.

Das Spiel mit dem Tod

Wie viele mexikanische Schriftsteller hat er sich von Anbeginn seines Schreibens mit dem Tod auseinandergesetzt. Dabei erlaubt er sich jedoch nur selten nihilistische Hymnen, die in der Hinwendung zum Tod den Sinn des Lebens sehen. Immer wieder verweist er darauf, daß der Tod nichts Wünschenswertes ist, und beschimpft die, die mit dem Tod spielen: „Dichter, Lügner, ihr sterbt nie.|Mit eurem kleinen Tod geht ihr überall hausieren,|prunkt mit ihm, beweint ihn, schmückt ihn mit Blumen,|ihr zeigt ihn den Armen, den Erniedrigten und den Hoffenden.| Ihr kennt den Tod noch nicht,|wenn ihr ihn kennenlerntet, werdet ihr nicht mehr von ihm reden,|ihr werdet sagen, es gebe nur Zeit fürs Leben“*. Doch so wie er unermüdlich über den Tod spricht, so spielt auch er mit ihm, auf seine ganz eigene Weise. Besonders in seinen frühen Gedichten tauchen immer wieder Todessehnsüchte auf. Das lyrische Ich führt zurückgezogen das Leben eines einsamen, existentialistischen Dichters. Statt auf die Straße zu gehen und sich wie die anderen zu vergnügen, verkriecht er sich in seiner Isolation und kaut an Erinnerungen und Gefühlen, bis sich die Eingeweide endlich nach außen kehren und „die Gedichte aus dem Uterus der Seele“ kommen. In diesen geradezu tranceähnlichen Zuständen wünscht sich das Ich den Tod. Dies scheint aus einem Ekel vor sich selbst zu geschehen, aus der erfolglosen Suche nach dem Sinn des Lebens, aus Verzweiflung gegenüber dem menschlichen Dasein, aus dem Gefühl der absoluten Einsamkeit, ohne Kontakt zu anderen Menschen.
Doch gleichzeitig packt es ihn dann wieder, und er schilt solche Todesverliebtheit: „Wenn du den Wunsch verspürst zu sterben,|mach nicht soviel Wind:|Stirb schon.“* Denn wer wirklich einmal vom Tod bedroht ist, der sieht, „wie wunderbar das Leben ist“. Und deshalb kann für die Lebenden nicht der Tod, sondern nur das Leben existieren. Leben heißt Lebendigsein, intensiv erleben, in vollen Zügen genießen, auskosten. Leben, das sind auch die elementaren Dinge wie Brot, Zigaretten, Alkohol und vor allem: Frauen. Sabines liebte die Frauen und die Liebe; vielen ist er als Verfasser zärtlichster Liebesgedichte bekannt. „Komm zu meinem Durst. Jetzt.|Nach alledem. Wie einst. |Komm zu meinem großen, in Mündern und kargen Quellen lange zurückgehaltenen Durst.|Ich will die tiefe Harfe, die in deinem Bauch|wilde Kinder einlullt.|Ich will die dichte Feuchte, die dich zucken läßt,|die Wasserfeuchte, die dich erhitzt.|Weib, weiche Gespanntheit. Die Haut eines Kusses zwischen deinen Brüsten |von verdunkelndem Wellengang |treibt mich in die Mündung|und mißt mein Blut.|Du auch. Es ist noch nicht zu spät.|Noch können wir ineinander sterben:|Dir und mir gehört der Ort des Nirgends.“* Leben und Liebe sind untrennbar miteinander verbunden; die Liebe ist die Lehre des Todes, die Vorbereitung auf ihn, denn nur sie beide sind sich selbst genug. Und solange man lebt, muß man lieben und leben, „schwärig, faulig, gilt es zu leben, kriechend, auf allen vieren, mühsam, wie ich kann“**.
Der Dialog mit dem Tod ist bei Sabines immer auch ein Dialog mit dem Leben. So ist der Tod nur die andere Seite der Medaille: Jeder Augenblick des Lebens ist auch ein Sterben, der Tod ist unausweichlich und rückt mit jeder Minute näher. Einige Gedichte besingen diese andere Welt, laden ein zum Totentanz. Leben und Tod finden so zu einem Gleichgewicht: „Gelobt sei der Schatten des Baumes,|der die Erde erreicht, |weil es das Licht ist, das kommt“**.

Der Tod ist kein Gedicht

Gegenwärtig wie das tägliche Brot und die Luft zum Atmen sind Gott, der verdammte Teufel (el cabrón diablo), die schmerzende Seele und die Lust auf eine Frau. Genauso natürlich ist der unvermeidliche Tod. So ist der Tod an sich nichts Schreckliches; Verwandte und Freunde werden mit liebevollen Gedichten verabschiedet. In einem späten Interview, als Sabines schon wußte, daß er nicht mehr lange leben würde, sagte er, daß das Beängstigende für ihn nicht der Tod, sondern die Krankheit sei. Damit meinte er seine eigene, langjährige Krankheit, erinnerte sich aber auch an das Leiden seines Vaters. Der Tod der Eltern hatte ihn mit seiner Endgültigkeit zurückgeworfen in die Verzweiflung, den Dichter an den Rand des Dichtens gebracht. „Ich schäme mich bis in die Haarspitzen|daß ich versuche diese Dinge zu schreiben.|Verflucht sei, wer glaubt, dies sei ein Gedicht!”** Denn: „Es gibt keine Poesie im Tod. Im Tod gibt es nichts”**. Und doch, soviel Verzweiflung ihn in den Gedichtbänden für die Mutter (1972) und den Vater (1973) zerreißt; die Vorstellung der Vereinigung mit der Natur bietet auch wieder Trost und genügend Sicherheit, um der Wahrheit entgegenzublicken: „Großmütige Mutter|aller Toten,|Mutter Erde, Mutter,|Scheide der Kälte|Arme der Witterung,|Schoß des Windes,|Nest der Nacht,|Mutter des Todes,|nimm ihn auf, deck ihn zu,|zieh ihn aus, nimm ihn, beschütze ihn, beende ihn“**. Und so zeigt dieses Bild auch, was so faszinierend an dem Tod ist: die Rückkehr in den Schoß der Mutter Erde, an einen geradezu mystischen Ort, wo jeder Kampf aufhört und der Sinn der Existenz im Einssein mit dem Universum liegt. Solange wir leben, so Sabines, sollten wir jedoch die große Chance wahrnehmen und das Leben auskosten, auf Teufel komm raus: „Wenn du überlebst, wenn du widerstehst, singe|träume, betrink dich.|Es ist die Zeit der Kälte: liebe,|beeile dich. Der Wind der Stunden|fegt die Straßen, die Wege.|Die Bäume warten: Du, warte nicht,|es ist die Zeit zu leben, die einzige“*.

Auf deutsch lieferbar:
Jaime Sabines: Dein Körper neben mir, Gedichte. Ausgewählt, herausgegeben und aus dem mexikanischen Spanisch übertragen von Hans-Jürgen Schmitt. Vervuert, Frankfurt a.M. 1987, S. 133, 24,80 DM
(ca. 13 Euro).

* Übertragung von Hans-Jürgen Schmitt
** Übertragung von Ann-Catherine Geuder

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