Brasilien | Nummer 377 - November 2005

Lula ist tot, es lebe Lula!

Ein Kurswechsel in der brasilianischen Arbeiterpartei (PT) ist nicht in Sicht, wird aber immer lauter gefordert

Der Kandidat der rechten Strömung in der Arbeiterpartei PT, Ricardo Berzoino, hat die Vorstandswahlen gewonnen. Inzwischen wenden sich die sozialen Bewegungen Brasiliens immer mehr von der PT ab. Dennoch unterstützen viele weiterhin die Regierung von Präsident Luís Inácio Lula da Silva.

Andreas Behn

Alles bleibt beim Alten – oder auch nicht. Selbst bei der Interpretation des Ergebnisses der Wahl des Parteipräsidenten ist sich die brasilianische Arbeiterpartei PT uneinig. Andauernder Streit markiert die schwerste Krise der Partei seit ihrer Gründung vor 25 Jahren: Einige setzen auf Kontinuität, andere auf einen internen Neuanfang, während viele ProtagonistInnen der Partei schon vorher den Rücken gekehrt haben.

Neuer Mann der alten Garde
Gewonnen hat das Rennen um das Amt des Parteipräsidenten Ricardo Berzoini. Im zweiten Wahlgang am 9. Oktober errang er gut 51 Prozent der Stimmen, ein knappes Ergebnis für den Repräsentanten des „Campo Majoritário“, der Mehrheitsströmung, die in den vergangenen Jahren die absolute Macht innerhalb der Partei ausübte. Unterlegen war Raul Pont von der „Sozialistischen Strömung“, der auf die Unterstützung fast aller Linken innerhalb der PT bauen konnte. Bei allem Zwist ist diesen unterschiedlichen Fraktionen gemein, dass sie das „Campo Majoritário“ sowohl für den gegenwärtigen Korruptionsskandal der PT als auch für den umstrittenen wirtschaftspolitischen Kurs der Regierung von Präsident Lula da Silva verantwortlich machen.
Im Mittelpunkt aller PT-Debatten steht die Frage, wie der enorme Imageverlust und der interne Zersetzungsprozess in Folge des Korruptionsskandals aufgehalten werden kann. Auch wenn der ganze Skandal bisher vor allem Untersuchungsausschüsse beschäftigt und maßgeblich von der Presse ausgeschlachtet wird, hat er bereits jetzt das Selbstverständnis der PT erschüttert. Gewiss ist, dass es schwarze Kassen gegeben hat, dass der erfolgreiche Wahlkampf 2002 auch illegal finanziert wurde und dass Abgeordnete bestochen wurden. Im Verlauf des Skandals mussten mehrere hochrangige PTlerInnen ihre MinisterInnenposten und Parteiämter niederlegen, unter ihnen auch der starke Mann und die bisherige rechte Hand von Lula, José Dirceu.
Dirceu und seine MitstreiterInnen, die jahrelang das Sagen in der Partei hatten, werden von der parteiinternen Opposition noch für weitere Übel verantwortlich gemacht: Eine im Gegensatz zum Parteiprogramm moderate bis konservative Ausrichtung der Regierung Lula, die im sozialen Bereich auf Strukturveränderungen verzichtete, dubiose Allianzen mit reaktionären Kräften einging und schließlich in der Fortsetzung der Wirtschaftspolitik der Vorgängerregierung unter Fernando Henrique Cardoso gipfelte. Vorgeworfen wird Dirceau nicht zuletzt auch die autoritäre Parteiführung, die keine kritischen Stimmen duldete und zum Rausschmiss vieler linker AktivistInnen führte.

Zerstrittene Linke
Dennoch konnte der „Campo Majoritário“ samt Dirceu und Co. seinen Einfluss wahren, nicht zuletzt wegen der Zerstrittenheit der anderen, zumeist linken Parteiströmungen. Insgesamt zehn KandidatInnen traten beim ersten Wahlgang am 18. September für die PT-Opposition an. Die meisten Stimmen bekam, mit knappem Vorsprung, Raul Pont. Insgesamt errangen die Minderheitsströmungen rund 58 Prozent der Stimmen. Doch diese theoretische Mehrheit aller KandidatInnen reichte offenbar nicht, dem Kandidaten des PT-Establishments im zweiten Durchgang den Rang abzulaufen.
Ricardo Berzoini steht keine leichte Aufgabe bevor. In erster Linie muss er die Partei zusammenhalten, nachdem bereits unzählige prominente und weniger bekannte Mitglieder im Verlauf der letzten Monate ausgetreten sind. Darunter sind auch mehrere Abgeordnete, die zum Teil in kleinere linke Parteien gewechselt sind. Innerhalb seiner eigenen Strömung muss er diejenigen, die maßgeblich in den Korruptionsskandal verwickelt sind, in Schach halten, während diese wiederum versuchen, disziplinarischen Maßnahmen zu entgehen. Sollte ihnen dies gelingen, stünde die Glaubwürdigkeit der neuen PT-Führung in Frage und ein weiterer Konflikt mit der Linken wäre vorprogrammiert.
Derweil schmieden die linken Minderheitsströmungen eigene Pläne. Da sie mittlerweile die Mehrheit in der Partei stellen, haben sie für kommende Woche zu einem Strategietreffen aller Gruppierungen – mit Ausnahme des „Campo Majoritário“ – eingeladen. Ihr Plan ist zu verhindern, dass wie in der Vergangenheit die Mehrheitsfraktion die 18-köpfige Parteiführung bestimmt. Sollten sich die Linken diesmal überraschenderweise einig werden, könnten sie in dem Gremium die Mehrheit stellen und damit de facto über die Parteilinie bestimmen.
Jenseits solcher Strategiespiele versucht die PT, zum politischen Alltag zurückzukehren und den internen Wahlprozess als Erfolg darzustellen. Berzoini, wie auch Präsident Lula, sehen im Ausgang eine Bestätigung ihrer Politik. Auch Repräsentanten der anderen Strömungen heben hervor, dass eine Wahlbeteiligung von fast 300.000 Mitgliedern im ersten und über 220.000 Mitgliedern im zweiten Wahlgang ein klares Signal sei, dass die PT die Krise mit Hilfe der aktiven Mitglieder überwinden werde. Sie kritisierten diejenigen, die die PT in der Zwischenzeit verlassen haben, anstatt darauf zu bauen, einen internen Reformprozess umzusetzen. Intellektuelle wie Paul Singer halten einen solchen Aufbruch für möglich, sofern ein wirklicher Schnitt mit den Verirrungen der alten Parteiführung vollzogen werden sollte. Hierfür, meint Singer, sei es notwendig, dass die PT sich nicht nur auf Wahlsiege konzentriere, basisorientierter agiere und die Geldströme in der Partei besser kontrolliere. Einig sind sich die Kritiker auch darin, dass die in den Korruptionsskandal Involvierten zur Rechenschaft gezogen werden müssen und gleichzeitig die Regierung Lula unterstützt werden müsse.
Ganz andere Töne sind von denjenigen zu hören, die Lula einst ins Präsidentenamt gewählt haben, aber schon seit geraumer Zeit alle Hoffnungen in die Regierung verloren haben. Sie bemängeln, dass unter Lulas Regie nicht das umgesetzt werde, was sich die brasilianische Linke, die fast vollständig am Aufbau der Arbeiterpartei beteiligt war, einst vorgenommen habe. „Für mich ist die PT-Regierung tot. Wie alle anderen habe ich Lula gewählt, weil er für ein neues Projekt stand, für die Hoffnung, dass es in Brasilien endlich mehr soziale Gerechtigkeit gibt,“ erklärt Eliane Santos, eine 50-jährige Aktivistin. „Das Schlimmste ist gar nicht, dass die PT wie andere Parteien Schmiergeld zahlt und sich auf krumme Deals einlässt. Nein, es ist Präsident Lula selbst, der uns alle an der Nase herumführt. Wenn er wirklich nichts von all der Korruption gewusst hat – peinlich genug für einen Präsidenten – warum bezieht er jetzt keine klare Position, macht die Probleme transparent und zieht Konsequenzen,“ fragt Santos und macht keinen Hehl daraus, dass sie – wenn überhaupt – das nächste Mal für eine andere Partei stimmen wird.
Carlos Perreira, der vor zwei Monaten seine fast 15-jährige PT-Mitgliedschaft beendet hat, kommt zu einem anderen Schluss: „Für mich ist die PT gestorben, aber nicht unbedingt die Regierung,“ argumentiert der Soziologe. „Da es derzeit zu Lula keine Alternative gibt, müssen wir seine Regierung verteidigen. Andernfalls spielen wir nur das Spiel der Rechten, die wieder an die Macht gelangen will.“ Perreira mobilisierte auch zu der großen Demonstration vor einigen Wochen in der Hauptstadt Brasília, bei der viele soziale Bewegungen wie die der Landlosen des MST zwar gegen die Wirtschaftspolitik, aber für den Erhalt der Regierung Lula eintraten. „Nein, das ist kein Widerspruch, diese zweischneidige Haltung ist meiner Meinung nach derzeit die einzig mögliche,“ so Perreira.
Die Zahl der Enttäuschten ist groß in Brasilien. Deren Abkehr von der PT hat sie parlamentarisch geschwächt, was das Regieren in den kommenden Monaten noch schwerer machen wird. Noch schlimmer ist, dass viele innerhalb stützerInnen dieser größten linken Parteien des Kontinents das Vertrauen verloren haben. Daran wird auch das gute Abschneiden der Linken bei den parteiinternen Wahlen nicht viel ändern.

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