Megaescândalo
Gesprächsmitschnitte weisen auf massiven Stimmenkauf im Kongreß hin, Nutznießer: Staatschef Cardoso
Was Brasiliens größte Qualitätszeitung, die Folha de Sâo Paulo, Mitte Mai abdruckte, schlug ein wie eine Bombe: Zwei zur Rechtspartei PFL der Regierungsallianz zählende Kongreßabgeordnete erläutern klar und unzweideutig eine großangelegte Stimmenkaufoperation. Cardosos Intimfreund Sergio Motta von der Sozialdemokratischen Partei (PSDB) habe veranlaßt, daß über die PFL-Gouverneure der Teilstaaten Acre und Amazonas umgerechnet rund 300.000 DM in bar – oder sogar noch viel mehr – an Parlamentarier ausgezahlt wurde, damit sie Ende Januar für die Wiederwahl-Novelle votierten. Der Abstimmung war von der Mitte-Rechts-Regierung allergrößte Bedeutung beigemessen worden.
Überraschend hatte eine große Zahl von Abgeordneten, die die Verfassungsänderung stets öffentlich ablehnten, dann doch der Novelle zugestimmt. In den abgedruckten Gesprächsmitschnitten werden fünf bestochene Deputados aus Acre namentlich genannt, doch weit mehr sollen Summen zwischen 200.000 und 300.000 Reais erhalten haben. Diese bezeichen die Darstellungen als falsch und absurd. Die PFL, stärkster Partner Cardosos, schloß indessen sofort jene zwei Acre-Abgeordneten aus der Partei aus, die den Stimmenkauf erläuterten und selber Geld erhielten. Mit anderen Worten: Beide werden als geständig angesehen, die Mitschnitte somit als authentisch betrachtet. Warum nur diese beiden und nicht die anderen Deputados – die zwei Gouverneure und der Minister?, fragt sich alle Welt. Die in Folha-Kommentaren gegebene Antwort: Entläßt Cardoso Minister Motta, wie sogar die PFL-Spitze empfiehlt, gesteht er auch seine eigene Schuld ein – und dann ist alles möglich. Erinnert sei hier an das Collor-Impeachment von 1992.
Kurse der Stimmenbörse
Motta, der mit Cardoso eine Großfarm betreibt, ist in einer heiklen Situation. Vorwürfe, daß er als Hauptorganisator des Stimmenkaufs fungiert, erhob sogar Paulo Maluf, Führer der nicht zur Regierung gehörenden Rechtspartei PPD. Deren Kongreßabgeordneter Jair Bolsonari beschrieb, wie es am Tage der Abstimmung im Januar in den Kongreßkorridoren zuging: Wie bei Geschäftsverhandlungen auf einer Stimmenbörse. Am Morgen wurde ein Votum noch für 200.000 Reais gehandelt, weil die Regierung nicht sicher war, ob die Verfassungsänderung passieren würde. Einige Parlamentarier verlangten sogar 300.000 Reais. Kurz vor der Abstimmung glaubte die Regierung an ihren Sieg und ging deshalb mit dem Kurs herunter, zahlte nur noch 50.000 Reais. “Ich weiß nicht, wer Stimmen an- beziehungsweise verkaufte, doch den Kauf und Verkauf gab es tatsächlich.”
Die Cardoso-Regierung hat seit dem Amtsantritt eine Reihe von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen verhindert, die ihr hätten gefährlich werden können. Zwar bekam die Opposition die nötigen Unterschriften der Abgeordneten zusammen, ohne die ein Ausschuß nicht gebildet werden kann. PFL und PSDB entsandten jedoch nicht die vorgeschriebenen Repräsentanten – und damit war die Untersuchung ganz “demokratisch” blockiert.
Nach dem Abdruck der Gesprächsmitschnitte hatte die Opposition die Unterschriftenliste rasch komplett – auf Anweisung Cardosos mußten indessen PFL- und PSDB-Abgeordnete ihre Unterschriften zurückziehen. Es wurde öffentlich spekuliert, wieviel Reais sich die Regierung die Rückzieher wohl habe kosten lassen – wieder 200.000 pro Kopf?
Brasiliens Bischofskonferenz CNBB hat den Megaescândalo nicht kommentiert, sie verwies nur auf ein jüngst veröffentlichtes CNBB-Dokument, in dem die Regierung der aktiven Korruption beschuldigt wird. Im Bezug auf die Wiederwahlnovelle heißt es, die Regierung besorge sich bei für sie interessanten Vorlagen die nötigen Stimmen ohne Skrupel. Cardosos Allianzpartner PFL, der den Vizepräsidenten stellt, ist gemäß Untersuchungen und Zeugenaussagen bereits seit langem in Wahlstimmenkauf verwickelt. Im archaischen Nordosten, so Anwälte gegenüber den Lateinamerika Nachrichten, sei allgemein bekannt, daß der deutschstämmige PFL-Chef Jorge Bornhausen mit prallgefülltem Geldkoffer herumreise, Politiker besteche und den Stimmenkauf organisiere. Bornhausen ist Mitgründer der einstigen Militärdiktatur-Partei Arena. Cardosos Vize Marco Maciel gehörte ebenfalls zur Arena und zählte zu den aktivsten Unterstützern der Foltergeneräle.
Alte Kameraden
Die PFL stand an der Seite Präsident Fernando Collor de Mellos, der 1992 wegen Korruption und Machtmißbrauch abgesetzt wurde.
Jener Senhor X, von dem die Folha de Sâo Paulo die Mitschnitte erhielt, hat inzwischen betont, weitere Tonbänder zu besitzen, auf denen noch mehr Personen belastet werden.
Zwei Mitglieder der PSDB-Spitze erklärten interessanterweise vor der Veröffentlichung der Mitschnitte gegenüber dem Nachrichtenmagazin Veja, sie seien überzeugt davon, daß der PFL-Gouverneur von Amazonas mit der Absicht des Stimmenkaufs nach Brasilia gekommen sei. Mit Koffern voll Geld sei der Gouverneur in den Wiederwahl-Prozeß hineingegangen. Warum stellte die Cardoso-Regierung ihn nicht zur Rede, fragt die Veja.
Gemäß einer neuen Meinungsumfrage führt die Popularitätskurve des Staatschefs nach langer Stabilität erstmals deutlich nach unten. Brasiliens Börsen reagierten auf die Veröffentlichung der ersten, brisanten Mitschnitte in der Folha am 13. Mai sofort mit Kursabfall. Die Echtheit der Mitschnitte wurde am 20. Mai bestätigt. Jene zwei Abgeordnete, die den Wortlaut des Abdrucks bestritten, stehen bös’ da. Ganz zu schweigen von den anderen Verwickelten.