Brasilien | Nummer 429 - März 2010

Menschenrechte vielleicht später

Menschenrechtsplan entzweit die brasilianische Gesellschaft

Der kürzlich verabschiedete Dritte Nationale Menschenrechtsplan brachte die brasilianische Rechte auf die Barrikaden. Linke Gruppen und Parteien begrüßen zwar die Initiative grundsätzlich, doch zweifeln sie, ob die Regierung die hehren Ziele des Plans auch wirklich umsetzen wird.

Andreas Behn

Schon lange war sich die brasilianische Rechte nicht mehr so einig. Allen voran die Militärs, dann Teile der katholischen Kirche, die Lobby der GroßgrundbesitzerInnen, konservative Parteien und schließlich die großen Medienkonzerne bliesen zum Sturm gegen das Dekret 7037, das Präsident Luiz Inácio Lula da Silva am 21. Dezember unterzeichnet hatte. Dieses Dekret, das ebenfalls von allen 37 Ministerien unterzeichnet ist, setzt den dritten Nationalen Menschenrechtsplan (PNDH-3) in Kraft – kein Gesetzespaket, sondern lediglich ein Fahrplan, an dem sich die Politik Brasiliens in den kommenden sechs Jahren orientieren soll. Der darin enthaltene Vorschlag, eine Wahrheitskommission zur Aufklärung der Verbrechen während der Militärdiktatur (1964-1985) einzurichten, reichte aus, dass die obersten Generäle samt Verteidigungsminister Nelson Jobim ihren Rücktritt androhten. Katholische Würdenträger verteufelten Überlegungen zur Entkriminalisierung von Abtreibungen und Anerkennung gleichgeschlechtlicher Eheschließungen.
Einhellig verurteilten die linken Kräfte der brasilianischen Gesellschaft die Reaktion der politischen Rechten auf den Plan. Ihnen zufolge stellen die Rechten damit den Grundkonsens der brasilianischen Gesellschaft in Frage. Der frühere Oberste Bundesrichter Sepúlveda Pertence stellte in einem Interview mit dem regierungseigenen Internetmagazin Cartamaior fest, dass der Plan rundum verfassungskonform sei. „Nicht nur bezüglich dessen, was bereits umgesetzt wurde, sondern auch bezüglich der Vision eines zukünftigen Brasiliens, die in ihm entworfen wird und bislang unzureichend umgesetzt wurde“, meint Pertence.
Zudem führen linke Gruppen ins Feld, dass viele der kritisierten Aspekte des dritten PNDH bereits in den beiden vorhergehenden Plänen auftauchten, die unter der Regierung von Fernando Henrique Cardoso 2002 beziehungsweise 1996 ins Leben gerufen wurden. Sie waren lediglich weniger konkret formuliert. Beide Pläne hatten keineswegs einen vergleichbaren Proteststurm zur Folge, wahrscheinlich weil abzusehen war, dass sie Mangels politischem Willen und fehlender juristischer Instrumente kaum praxisrelevant werden würden. Eine Entwicklung, die die UnterstützerInnen des PNDH-3 allerdings auch dieses Mal befürchten.
Der Wirtschaftswissenschaftler und Menschenrechtsaktivist Marcos Arruda erklärte im Gespräch mit den Lateinamerika Nachrichten den PNDH-3 als Fortschritt in der brasilianischen Gesetzgebung. „Der Plan geht das Thema der Menschenrechte erstmals systematisch an.“ Es sei schwerwiegend, dass die Menschenrechte als solche bis heute nicht Teil der Rechtssprechung sind. „Eigentlich müssten sie ein Parameter sein, an dem sich die Gesetzgebung orientiert,“ so Arruda. Er ist der Vorsitzender der Nichtregierungsorganisation Alternative Politiken für den Conosur PACS in Rio de Janeiro.
Arruda definiert Menschenrechte als Grundlage eines jeden zivilisierten Staates. Deshalb sei der vorgelegte Plan die juristisch notwendige Voraussetzung einer Demokratie: „Die Menschenrechte dienen als Gradmesser, um die soziale und ökologische Verantwortung eines Landes zu messen. Sofern anerkannt wird, dass bestimmte Rechtsnormen, die in der Verfassung, der Menschenrechtscharta der UNO und anderen Verträgen, die Brasilien in der Vergangenheit unterschrieben hat, nicht oder nur teilweise erfüllt werden, ist es folgerichtig, dass ein Aktionsplan formuliert wird, um diesen Missstand zu beheben. Das Fehlen solcher Rechte nenne ich soziale Schuld. Wenn es also für die 200 Millionen Brasilianer nicht genügend Wohnraum gibt, handelt es sich um eine soziale Schuld im Wohnungsbereich. Genauso verhält es sich in allen anderen Bereichen.“
Doch die Rechte war sich in ihrem Urteil einig: Für Landwirtschaftsminister Reinhold Stephanis und die Senatorin Kátia Abreu, Wortführerin der einflussreichen Agrarierfraktion im Kongress, bedeutet der neue Menschenrechtsplan gar eine Kriminalisierung des Agrobusiness. Sie stießen sich am Vorschlag, dass künftig eine öffentliche Anhörung organisiert werden soll, bevor von Landlosen besetzte Ländereien gewaltsamen geräumt werden dürften. Vehement war auch die Reaktionen der Medien, die dem Proteststurm der Rechten die entsprechende Öffentlichkeit verschafften. Nachdem sie den PNDH-3, der bereits seit Wochen im Internet zu lesen war, zuerst schlichtweg verschwiegen hatten, warnen sie plötzlich vor einem Ende der Pressefreiheit. Die UnternehmerInnenverbände der Bereiche Fernsehen, Radio und Printmedien veröffentlichten eine Erklärung, die vor einer Einflussnahme des Staates auf die Medienlandschaft warnt.
Die kritischen MedienwissenschaftlerInnen der Gruppe Intervozes argumentierten dagegen in einem Manifest, dass der Menschenrechtsplan keinesfalls einen Angriff auf die Pressefreiheit darstelle. Im Gegenteil, stünden die vorgesehenen Maßnahmen, wie etwa Hürden gegen die Schaffung von Medienmonopole, Garantie des Rechts auf Kommunikation und Information sowie Verbot von rassistischen Inhalten in Medienbeiträgen, im Einklang mit der Verfassung und mehreren von Brasilien unterzeichneten internationalen Abkommen, wie zum Beispiel der amerikanischen Menschenrechtskonvention von San José aus dem Jahr 1969.
So einhellig wie die Rechte den Menschenrechtsplan ablehnte, begrüßten ihn linke Parteien, soziale Bewegungen und die organisierte Zivilgesellschaft. Sie stellten sich gemeinsam hinter den streitbaren Staatssekretär für Menschenrechte, Paulo Vannuchi. Dessen Menschenrechtssekretariat, das unmittelbar der brasilianischen Bundesregierung untersteht, war federführend an der Formulierung des Dokuments beteiligt. Vorausgegangen waren monatelange Konsultationen und Beratungen mit allen relevanten Sektoren der brasilianischen Gesellschaft, um neben den Ergebnissen der Nationalen Menschenrechtskonferenz vom Dezember 2008 alle Positionen und Anregungen in den PNDH-3 aufzunehmen.
25 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur lässt der Streit um den PNDH-3 alte Wunden aufreißen – und ruft bekannte Reflexe wieder hervor. Das Militär reagierte empört auf den Vorschlag, die Verbrechen der Militärdiktatur in einer Wahrheitskommission zu untersuchen. Es ist dieser Aspekt, der nach der Verabschiedung des Menschenrechtsplans die meiste Polemik verursacht hat. Allein der Gedanke, eine Wahrheitskommission über die Geschehnisse zwischen 1964 und 1985 einzurichten, ist den Uniformierten ein Graus. Inakzeptabel war aber vor allem der Begriff „politische Repression“, da er die Möglichkeit nahe legt, die Repressionsorgane einer juristischen Untersuchung zu unterziehen. Die Militärs plädierten statt dessen für den Begriff „politischer Konflikt“, der auch die Verantwortung der militanten Diktaturgegner einbezieht. Menschenrechtssekretär Vannuchi reagierte mit der Äußerung, dass eine Gleichsetzung von Folterern und Gefolterten nicht verhandelbar sei.
Insgesamt elf Jahre musste Marcos Arruda während der Militärdiktatur im Exil verbringen. Die Erfahrungen mit dem autoritären Regime prägten seine Sichtweise von Demokratie und Menschenrechten, für die er bis heute eintritt. „Es existiert eine soziale Schuld, die ich die Historische nenne. Darunter fällt die Schuld bezüglich der Diktatur. Im PNDH-3 wird festgestellt, dass diese Militärdiktatur Menschenrechte 21 Jahre lang verletzt hat. Es ist notwendig, dass dieser Teil der brasilianischen Geschichte aufgearbeitet und die Erinnerung daran wieder erlangt wird, dass die Orte der Verbrechen identifiziert und die Opfer benannt werden, damit sie ihre Würde wieder erlangen.“
Doch Präsident Lula war nicht gewillt, den Streit eskalieren zu lassen. Es gab Treffen auf höchster Ebene und bereits am 13. Januar unterzeichnete er ein neues Dekret, in dem die Textpassage, der zufolge die Wahrheitskommission die Aufklärung von „im Kontext der politischen Repression begangenen Menschenrechtsverbrechen“ verfolgen solle, nicht mehr vorkam. Damit ist nicht mehr definiert, wessen Taten genau untersucht werden sollen. Auch wird nicht mehr die Diktaturzeit als Untersuchungszeitraum genannt, sondern ein wesentlich längerer Abschnitt zugrunde gelegt.
Erneut ist es den Militärs gelungen, einen Versuch zur effektiven Aufarbeitung der Diktaturzeit zu torpedieren (siehe LN 405). Dabei war der eigentliche Skandal, nämlich das allgemeine Amnestieesetz, das unter anderem allen uniformierten Tätern generelle Straffreiheit zusichert, nicht einmal im Dokument erwähnt. Die Vizepräsidentin der Gruppe Tortura Nunca Mais (Nie Wieder Folter), Cecília Coimbra, kommentierte: „Die Regierung knickt im Namen eine Pseudo-Regierbarkeit ein und verzichtet auf eine Klärung dessen, was während der Diktatur passiert ist.“
Der Aktivist Marcos Arruda ergänzt, dass sich die Militärs zugleich in der Defensive befinden: „Das Interessante ist, dass die Versuche der Opposition, die Umsetzung des Plans und einer entsprechenden Rechtssprechung zu verhindern, einem öffentlichen Eingeständnis der Verbrechen gleichkommt. Die Militärs haben Angst, dass Tatbestände ans Tageslicht kommen, die auf internationaler Ebene nicht tolerierbar sind. Sie haben viel Einfluss, drohen und schüchtern ein, und die Regierungen lassen sich im Rahmen des politischen Spiels auf Kompromisse zulasten der Menschenrechte ein. Eine Umsetzung des Plans hängt also vom Druck der organisierten Zivilgesellschaft ab.“
Keiner bezweifelt, dass viele der im PNDH-3 formulierten Richtlinien nur teilweise oder erst in ferner Zukunft in die Praxis umgesetzt werden. Aber schon jetzt hat er viele Diskussionen in Gang gesetzt und wird vielen Gruppen als politisches oder gar juristisches Druckmittel im Kampf um ihre Rechte dienen. Der universelle Ansatz des vorgelegten Plans überwindet zudem die noch weit verbreitete Vorstellung, dass sich Menschenrechte in erster Linie auf die körperliche Unversehrtheit beziehen. Mangelnde soziale Gerechtigkeit bedeutet demnach ebenso eine Rechtsverletzung wie gesellschaftliche Stigmatisierung. Deswegen stellt der PNDH-3 beispielsweise die Räumung von LandbesetzerInnen ebenso in Frage wie die Tatsache, dass es Prostituierten verwehrt wird, ihren Beruf arbeitsrechtlich anerkennen zu lassen. Marcos Arruda ist jedoch skeptisch, was die konkrete Umsetzung betrifft. Zu oft hat die Lula-Regierung ihn in den vergangenen Jahren enttäuscht.
Lulas Regierungsperiode endet dieses Jahr und er darf laut Verfassung nicht mehr zur Wahl antreten. Als Nachfolgekandidatin hat die regierenden Arbeiterpartei PT vorläufig Dilma Roussef bestimmt. Auf dem Nationalen Kongress der PT am 19. Februar wurde beschlossen, die Umsetzung des PNDH-3 explizit in das Wahlprogramm von Rousseff aufzunehmen. Dennoch geht Arruda davon aus, dass die Politik nach ihren eigenen Regeln funktioniert: „Ich bin leider überzeugt, dass es sich um eine politische Taktik handelt: Es wird ein Plan erstellt und veröffentlicht, um danach auf kleiner Flamme zu köcheln, damit nicht wirklich etwas passiert. Die Intention des Plans ist gut, aber die Umsetzung ist die eigentliche Herausforderung. Lulas Vorgänger Fernando Henrique Cardoso hatte nicht das geringste Interesse gezeigt, einen Nationalen Menschenrechtsplan umzusetzen. Lula wiederum hat sieben Jahre gewartet, was einmal mehr die Natur seiner Regierung zeigt: Es geht ihm um Versöhnung und Ausgleich, aber er ist nicht wirklich der ausgebeuteten und rechtlosen Zivilgesellschaft verbunden.“

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