Mexiko nach dem Kollaps
Der Traum vom neoliberalen Entwicklungsweg ist zerplatzt
Das “Wirtschaftswunder” Mexikos schien die neoliberale Doktrin des Internationalen Währungsfonds (IWF) und Weltbank endlich einmal in der Praxis zu bestätigen. Privatisierungen, Subventions- und Sozialabbau wurden seit Jahren mit einer Konsolidierung der Wirtschaft und traumhaften Wachstumsraten belohnt. Die seit 65 Jahren regierende Staatspartei PRI garantierte die Durchsetzung dieser neuen Politik. Der Bevölkerung wurde versprochen, daß die Oberschicht reicher würde, um die Massenarmut effektiver bekämpfen zu können. Wo der Regierung dennoch die Folgschaft versagt blieb, verhielfen ihr Wahlbetrug und Repression zur Legitimation, zuletzt in Chiapas.
Boom auf Pump
Wie wenig ausgereift die in den achtziger Jahren durch die Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF) eingeleitete Wachstumspolitik war, zeigt jetzt die Krise. Sie erinnert an einen zweiten Aufguß von alten Fehlern. Denn der “Boom” lebte auf Pump. Die Modernisierung der Wirtschaft wurde durch Auslandskredite und eine maßlose Überbewertung des Pesos finanziert. Was die Binnenindustrie ruinierte, war dem NAFTA-Partner im Norden gerade recht: Die mexikanischen Exportprodukte waren überteuert und wenig konkurrenzfähig, Importe aus den USA dagegen künstlich verbilligt und absetzbar. Die resultierenden Importüberschüsse Mexikos ließen das Leistungsbilanzdefizit bedrohlich anschwellen und konnten nur durch Kredite bezahlt werden. Kreditgeber war der Exporteur USA selbst, zu lukrativen Zinsen selbstverständlich: Mexiko muß allein in diesem Jahr kurzfristige Schulden in Höhe von 28 Milliarden bedienen, zu Zinssätzen um 40 Prozent.
Der IWF und die Weltbank wollten die wachsenden Probleme ihres “Musterlandes” nicht registrieren. So platzte die Illusion vom neoliberalen Entwicklungsweg über Nacht wie eine Seifenblase: Nachdem die Stützung des überbewerteten Pesos die Devisenreserven Mexikos zum Jahresende ganz zu verschlingen drohte, zog die Regierung die Notbremse und gab am 20. Dezember den Wechselkurs frei. Der Peso stürzte in den Keller und wurde in einem Tag um 40 Prozent abgewertet, um in Folge weiter an Wert zu verlieren. Die AuslandsanlegerInnen von mexikanischen Wertpapieren verloren auf einen Schlag 10 Milliarden. US-Dollar, und der darauf folgende Rückzug von Investitionen machte den 10. Januar 1995 zum “schwarzen Dienstag” des Kontinents: Die Börsen von Mexiko bis Buenos Aires verzeichneten extreme Kurseinbrüche. Mexiko stand vor der Zahlungsunfähigkeit. Die Gewitterwolken über den internationalen Finanzmärkten verhießen Sturm. Erst als Präsident Clinton am nächsten Tag sein Schatzamt anwies, alles zu unternehmen, um “diese kurzfristige Finanzkrise” beizulegen, war das weitere Vorgehen sowie die entsprechende Sprachregelung geklärt. Schnelle Stützungskredite des IWF und der Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) von 18 Milliarden US-Dollar verhinderten den Zusammenbruch des mexikanischen Wirtschaftssystems. Das Gespenst der Krise wurde kurzerhand eingekauft und als Normalität gehandelt. Ein am 21. Februar verabschiedetes Hilfspaket der USA in Höhe von 20 Milliarden US-Dollar soll Mexiko nun endgültig aus der Finanzkrise helfen. Bislang jedoch ohne Erfolg. Der Peso verlor am nächsten Tag flugs wieder an Wert. Ein Dollar kostete 6,2 Pesos, satte 35 Centavos mehr als am Vortag.
Neuauflage gescheiterter Konzepte
An Mexikos Rückkehr in die Wirklichkeit ist nicht überraschend, daß, sondern wie sie stattfand. Schon einmal mußte das Land seine Zahlungsunfähigkeit und damit das Scheitern einer entwicklungspolitischen Strategie verkünden: Nachdem das Konzept der Importsubstituierenden Industrialisierung (ISI), das auf eine Abkopplung vom Weltmarkt und eine Binnenindustrialisierung setzte, zu Beginn der siebziger Jahre in die Stagnation mündete, orientierten sich die neuen als “cepalismo” bekannten Konzepte an einer Grundbedürfnisbefriedigung und keynesianischen Lenkungsmechanismen. Um die Stagnation zu überwinden, wurde der Aufbau einheimischen Gewerbes und sozialer Sektoren gefördert. Im bescheidenen Maße konnten die krassen Einkommensunterschiede auf dem Kontinent verringert werden. Dabei wurde bei den Umstrukturierungen ebenfalls auf eine Finanzierung durch Auslandskredite und die Überwertung der Landeswährungen gesetzt. Als aber die Schuldenlast die Länder zu erdrücken begann und 1982 eine mit der jetztigen vergleichbare Finanzkrise auslöste, war dies gleichzeitig eine Krise der Strategie: Bedürfnis- und nachfrageorientierte Entwicklungstheorien galten als von der Realität widerlegt.
Für die Überwindung der Krise wurde die Abkehr von den eigenen Entwicklungsideen verlangt: Vorbereitet durch die berüchtigten Strukturanpassungsmaßnahmen des IWF mußte sich Lateinamerika dem Weltmarkt öffnen. Die Neuorientierung endete in den achtziger Jahren mit einer sozialen Polarisierung und einer existenziellen Verschlechterung der Lebensverhältnisse. Nach Angaben einer Studie der staatlichen Hilfsorganisation Pronasol (Programma nacional de solidaridad) lebte 1990 “die Hälfte der MexikanerInnen (42 Millionen) in Armut und 18 Millionen litten unter den Bedingungen extremer Armut”. Über den Beitritt zur NAFTA versuchte das Schwellenland Mexiko, sich an den reichen Norden anzukoppeln. Die erfolgreiche Modernisierung der Exportsektoren, ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum sowie die gelungene Bekämpfung der Inflation und ein ausgeglichener Staatshaushalt übermalten das Auseinanderklaffen der Einkommensschere und verhießen als letzte Hoffnung, daß die wirtschaftliche Stabilität letztendlich auch den Massen zugute kommen wird. Erst im August wurde die mexikanische Regierung durch Wahlen bestätigt, als sie der Bevölkerung “wachsenden Wohlstand jedes einzelnen und seiner Familie” versprach.
Katerstimmung
Seitdem diese Hoffnung verpuffte, zeichnet eine nüchterne Bestandsaufnahme ein düsteres Bild von der Hochburg neoliberaler Entwicklung: Die Bevölkerung ist verarmt, die einheimische Binnenindustrie chronisch geschwächt, das Wirtschaftswachstum wird in diesem Jahr gegen Null tendieren, die Verschuldung ist massiv gestiegen und von einer makroökonomischen Stabilität redet niemand mehr.
Doch was vor zwölf Jahren zum Paradigmen- und Systemwechsel führte, ist heute nur ein “Sommergewitter”. Statt umzudenken, ist eine neuerliche Strukturanpassung angesagt: Mexiko mußte für die Milliardenhilfe mit einem beschleunigten Privatisierungsprogramm bürgen, das rasch auf die strategisch wichtigen Staatsmonopole der Eisenbahnen/Häfen und der Telekommunikation ausgeweitet wird. International wird die Krise heruntergespielt. Die Erfolge der auf den Weltmarkt ausgerichteten wirtschaftlichen Anpassung Mexikos sollen nicht infrage gestellt werden. Die erworbene Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt ist jetzt durch die Peso-Abwertung noch größer geworden, denn sie degradiert Mexiko noch stärker zum Billiglohnland.
Krisengewinnler
NutznießerInnen dieser Abwertung sitzen auch vor unserer Haustür: Während Deutsche und Dresdner Bank noch über die Höhe ihrer Kredithilfen an Mexiko verhandelten, äußerten sich deutsche Unternehmen in der FAZ “sehr gelassen, und sehen auch die möglichen Chancen der Abwertung”. Und das Handelsblatt verweist darauf, daß “industrienahe Kreise…ihren lokalen Zulieferern Härte zeigen wollen” und abwertungsbedingte Preiserhöhungen ablehnen. Nicht nur die mexikanische Arbeiterschaft muß um die Kaufkraft ihrer Löhne fürchten: Auch auf den einheimischen Mittelstand sollen die teureren Dollar-Importe abgewälzt werden.
Somit stehen die VerliererInnen der Krise schon fest. Der neoliberale Traum, den Kuchen solange wachsen zu lassen, bis für jeden mehr als Krümel übrigbleiben, wird jetzt zum Alptraum.
Die hochschnellende Teuerungsrate überspringt Existenzgrenzen: Dort, wo es um das blanke Überleben geht, können die erwarteten vier Prozent weniger Konsum tödlich sein. Und von einem Staat, der sich verpflichtet hat, seine Ausgaben in diesem Jahr um ein Viertel zu reduzieren, ist wenig Hilfe zu erwarten.
Die Arbeiterschaft, die schon vorher deutlich niedrigere Reallöhne als 1980 erhielt, muß jetzt weitere Einbußen hinnehmen. Von den Milliardenkrediten, die zwecks Umschuldung gleich bei den Gläubigern bleiben, wird sie nur wenig spüren.
Auch das einheimische Kleingewerbe und der Mittelstand geraten unter massiven Druck. Die aus dem Ausland heranrollende Kostenwelle können nicht alle verkraften. Viele der kleinen und mittelständischen Betriebe, die 80 Prozent der ländlichen Arbeitskraft Mexikos beschäftigen, stehen vor dem Aus. Eine Kreditaufnahme bei realen Zinssätzen von rund 24 Prozent lassen jede Investition zum existenziellen Wagnis werden. Ohne Investitionen droht jedoch der Verlust an Konkurrenzfähigkeit. Die Gefahr der Zahlungsunfähigkeit steigt in beiden Fällen, ob zu hohe Ausgaben oder zu geringe Einnahmen: Beide erhöhen das Konkursriskiko – der Ruin droht.
Der “pacto social”, die mexikanische Variante von Sozialpartnerschaft, ist jetzt vor seine größte Belastungsprobe gestellt. Denn Mexiko nähert sich einer sozialen Katastrophe und /oder einer politischen Explosion.