Mexiko | Nummer 249 - März 1995

Mexiko nach dem Kollaps

Der Traum vom neoliberalen Entwicklungsweg ist zerplatzt

Während in Europa zum Jahreswechsel Böller und Sektkorken knallten, krachte in Mexiko die Börse. Von der allgemeinen Neujahrseuphorie kaum wahrgenommen, wurde auf den internationalen Finanzmärkten ein Lehrstück in Sachen “Neue Welt­wirtschaftsordnung” aufgeführt.

Hans-Jürgen Burchardt

Das “Wirtschaftswunder” Mexikos schien die neoliberale Doktrin des Inter­na­tio­nalen Währungsfonds (IWF) und Welt­bank endlich einmal in der Praxis zu be­stä­tigen. Privatisierungen, Subventions- und Sozialabbau wurden seit Jahren mit ei­ner Konsolidierung der Wirtschaft und traum­haften Wachstumsraten belohnt. Die seit 65 Jahren regierende Staatspartei PRI ga­rantierte die Durchsetzung dieser neuen Po­litik. Der Bevölkerung wurde verspro­chen, daß die Oberschicht reicher würde, um die Massenarmut effektiver be­kämp­fen zu können. Wo der Regierung den­noch die Folgschaft versagt blieb, ver­hiel­fen ihr Wahlbetrug und Repression zur Le­gitimation, zuletzt in Chiapas.
Boom auf Pump
Wie wenig ausgereift die in den acht­zi­ger Jahren durch die Strukturanpas­sungs­programme des Internationalen Wäh­rungs­fonds (IWF) eingeleitete Wachs­tums­politik war, zeigt jetzt die Krise. Sie er­innert an einen zweiten Auf­guß von al­ten Fehlern. Denn der “Boom” lebte auf Pump. Die Modernisierung der Wirtschaft wurde durch Auslandskredite und eine maßlose Überbewertung des Pesos fi­nan­ziert. Was die Binnenindustrie ruinierte, war dem NAFTA-Partner im Norden ge­ra­de recht: Die mexikanischen Ex­port­pro­duk­te waren überteuert und we­nig kon­kur­renz­fähig, Importe aus den USA dagegen künst­lich verbilligt und ab­setzbar. Die re­sul­tierenden Importüber­schüsse Mexikos lie­ßen das Leistungsbi­lanzdefizit be­droh­lich anschwellen und konnten nur durch Kredite bezahlt werden. Kreditgeber war der Exporteur USA selbst, zu lukrativen Zin­sen selbst­verständlich: Mexiko muß al­lein in die­sem Jahr kurzfristige Schulden in Höhe von 28 Milliarden bedienen, zu Zins­sätzen um 40 Prozent.
Der IWF und die Weltbank wollten die wachsenden Probleme ihres “Mu­ster­lan­des” nicht registrieren. So platzte die Il­lu­sion vom neoliberalen Ent­wicklungsweg über Nacht wie eine Sei­fenblase: Nach­dem die Stützung des über­bewerteten Pesos die Devisenreserven Mexikos zum Jahres­ende ganz zu ver­schlingen drohte, zog die Regierung die Notbremse und gab am 20. Dezember den Wechselkurs frei. Der Peso stürzte in den Keller und wurde in einem Tag um 40 Prozent abgewertet, um in Folge weiter an Wert zu verlieren. Die AuslandsanlegerInnen von mexi­ka­ni­schen Wertpapieren verloren auf einen Schlag 10 Milliarden. US-Dollar, und der darauf fol­gende Rückzug von Investitionen ma­chte den 10. Januar 1995 zum “schwarzen Diens­tag” des Kontinents: Die Börsen von Mexiko bis Buenos Aires verzeichneten extreme Kurseinbrüche. Mexiko stand vor der Zahlungsunfähigkeit. Die Gewitter­wol­ken über den internationalen Finanz­märk­ten verhießen Sturm. Erst als Präsi­dent Clinton am nächsten Tag sein Schatz­amt anwies, alles zu unternehmen, um “diese kurzfristige Finanzkrise” bei­zu­le­gen, war das weitere Vorgehen sowie die ent­sprechende Sprachregelung geklärt. Schnelle Stützungskredite des IWF und der Bank für internationalen Zah­lungs­aus­gleich (BIZ) von 18 Milliar­den US-Dollar ver­hinderten den Zusam­menbruch des mexi­kanischen Wirtschafts­systems. Das Ge­spenst der Krise wurde kurzerhand ein­ge­kauft und als Normalität gehandelt. Ein am 21. Februar verab­schiedetes Hilfspaket der USA in Höhe von 20 Milliarden US-Dollar soll Mexiko nun endgültig aus der Fi­nanzkrise helfen. Bislang jedoch ohne Erfolg. Der Peso verlor am nächsten Tag flugs wieder an Wert. Ein Dollar kostete 6,2 Pesos, satte 35 Centavos mehr als am Vortag.
Neuauflage gescheiterter Konzepte
An Mexikos Rückkehr in die Wirklich­keit ist nicht überraschend, daß, sondern wie sie stattfand. Schon einmal mußte das Land seine Zahlungsunfähigkeit und da­mit das Scheitern einer entwicklungspoli­ti­schen Strategie verkünden: Nachdem das Kon­zept der Importsubstituierenden Indu­stri­alisierung (ISI), das auf eine Abkopp­lung vom Weltmarkt und eine Binnenin­du­strialisierung setzte, zu Beginn der sieb­ziger Jahre in die Stagnation mündete, orien­tierten sich die neuen als “cepalismo” be­kannten Konzepte an einer Grundbe­dürf­nisbefriedigung und keynesianischen Lenkungsmechanismen. Um die Stagna­tion zu überwinden, wurde der Aufbau ein­heimischen Gewerbes und sozialer Sek­toren gefördert. Im bescheidenen Maße konnten die krassen Einkommens­un­terschiede auf dem Kontinent verringert werden. Dabei wurde bei den Umstruktu­rierungen ebenfalls auf eine Finanzierung durch Auslandskredite und die Überwer­tung der Landeswährungen gesetzt. Als aber die Schuldenlast die Länder zu er­drücken begann und 1982 eine mit der jetz­tigen vergleichbare Finanzkrise auslö­ste, war dies gleichzeitig eine Krise der Strategie: Bedürfnis- und nachfrageorien­tierte Entwicklungstheorien galten als von der Realität widerlegt.
Für die Überwindung der Krise wurde die Abkehr von den eigenen Entwick­lungsideen verlangt: Vorbereitet durch die berüchtigten Struktur­an­passungs­maßnah­men des IWF mußte sich Lateinamerika dem Weltmarkt öffnen. Die Neu­orien­tier­ung endete in den achtziger Jahren mit ei­ner sozialen Polari­sierung und einer existenziellen Ver­schlechterung der Le­bens­verhältnisse. Nach Angaben einer Stu­die der staatlichen Hilfsorganisation Pro­nasol (Programma nacional de soli­dari­dad) lebte 1990 “die Hälfte der Mexi­kanerInnen (42 Millionen) in Armut und 18 Millionen litten unter den Bedingungen extremer Armut”. Über den Beitritt zur NAFTA versuchte das Schwellenland Mexi­ko, sich an den rei­chen Norden an­zu­kop­peln. Die erfolgrei­che Modernisierung der Exportsektoren, ein kontinuierliches Wirt­schaftswachstum sowie die gelungene Be­kämpfung der In­flation und ein aus­geglichener Staatshaus­halt übermalten das Aus­einanderklaffen der Ein­kommens­sche­re und verhießen als letzte Hoffnung, daß die wirtschaftliche Stabilität letztendlich auch den Massen zugute kommen wird. Erst im August wurde die mexikanische Re­gierung durch Wahlen bestätigt, als sie der Bevölkerung “wachsenden Wohlstand je­des einzelnen und seiner Familie” versprach.
Katerstimmung
Seitdem diese Hoffnung verpuffte, zeichnet eine nüchterne Bestandsauf­nah­me ein düsteres Bild von der Hoch­burg neo­liberaler Entwicklung: Die Be­völ­ker­ung ist verarmt, die einheimische Bin­nen­in­dustrie chronisch geschwächt, das Wirt­schafts­wachstum wird in diesem Jahr gegen Null tendieren, die Verschul­dung ist massiv gestiegen und von einer makro­öko­nomischen Stabilität redet nie­mand mehr.
Doch was vor zwölf Jahren zum Para­digmen- und Systemwechsel führte, ist heu­te nur ein “Sommergewitter”. Statt um­zudenken, ist eine neuerliche Struktur­an­passung angesagt: Mexiko mußte für die Milliardenhilfe mit einem beschleu­nig­ten Privatisierungsprogramm bürgen, das rasch auf die strategisch wichtigen Staats­monopole der Eisenbahnen/Häfen und der Telekommunikation ausgeweitet wird. International wird die Krise herun­ter­gespielt. Die Erfolge der auf den Welt­markt ausgerichteten wirtschaftlichen An­pas­sung Mexikos sollen nicht infrage ge­stellt werden. Die erworbene Konkurrenz­fähig­keit auf dem Weltmarkt ist jetzt durch die Peso-Abwertung noch größer ge­worden, denn sie degradiert Mexiko noch stärker zum Billiglohnland.
Krisengewinnler
NutznießerInnen dieser Abwertung sit­zen auch vor unserer Haustür: Während Deutsche und Dresdner Bank noch über die Höhe ihrer Kredithilfen an Mexiko ver­handelten, äußerten sich deutsche Un­ter­nehmen in der FAZ “sehr gelassen, und se­hen auch die möglichen Chancen der Ab­wertung”. Und das Handelsblatt ver­weist darauf, daß “industrienahe Krei­se…ihren lokalen Zulieferern Härte zeigen wol­len” und abwertungsbedingte Preis­erhöhungen ablehnen. Nicht nur die mexi­kanische Arbeiterschaft muß um die Kauf­kraft ihrer Löhne fürchten: Auch auf den ein­heimischen Mittelstand sollen die teureren Dollar-Importe abgewälzt wer­den.
Somit stehen die VerliererInnen der Krise schon fest. Der neoliberale Traum, den Kuchen solange wachsen zu lassen, bis für jeden mehr als Krümel übrigblei­ben, wird jetzt zum Alptraum.
Die hochschnellende Teuerungsrate über­springt Existenzgrenzen: Dort, wo es um das blanke Überleben geht, können die erwarteten vier Prozent weniger Konsum tödlich sein. Und von einem Staat, der sich verpflichtet hat, seine Ausgaben in diesem Jahr um ein Viertel zu reduzieren, ist wenig Hilfe zu erwarten.
Die Arbeiterschaft, die schon vorher deutlich niedrigere Reallöhne als 1980 er­hielt, muß jetzt weitere Einbußen hinneh­men. Von den Milliardenkrediten, die zwecks Umschuldung gleich bei den Gläu­bigern bleiben, wird sie nur wenig spüren.
Auch das einheimische Kleingewerbe und der Mittelstand geraten unter massi­ven Druck. Die aus dem Ausland heran­rol­lende Kostenwelle können nicht alle ver­kraften. Viele der kleinen und mittel­stän­dischen Betriebe, die 80 Prozent der ländlichen Arbeitskraft Mexikos beschäf­ti­gen, stehen vor dem Aus. Eine Kre­dit­auf­nahme bei realen Zinssätzen von rund 24 Prozent lassen jede Investition zum exis­tenziellen Wagnis werden. Ohne In­ve­stitionen droht jedoch der Verlust an Kon­kur­renzfähigkeit. Die Gefahr der Zah­lungsunfähigkeit steigt in beiden Fäl­len, ob zu hohe Ausgaben oder zu geringe Einnahmen: Beide erhöhen das Konkurs­riskiko – der Ruin droht.
Der “pacto social”, die mexikanische Va­riante von Sozialpartnerschaft, ist jetzt vor seine größte Belastungsprobe gestellt. Denn Mexiko nähert sich einer sozialen Ka­tastrophe und /oder einer politischen Explosion.

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