Dossier 18 - Vivas nos queremos | Mexiko

GEWALT UND GESETZ: MEXIKO

Gewalt und Gesetz. Beginn einer Dokumentation geschlechtsspezifischer 
Rechtsprechung in 19 Ländern

Von Sonja Schmidt, Sarah Weis & Jana Flörchinger

Heute schreiben wir Geschichte!
Illustration: Magda Castría, @magdacastria

In Mexiko gibt es das Allgemeine Gesetz für den Zugang von Frauen zu einem Gewaltfreien Leben. Es definiert neben physischer Gewalt auch psychische, ökonomische und sexualisierte Gewalt und klassifiziert Feminizide als die extremste Form von geschlechtsspezifischer Gewalt. Das mexikanische Bundesstrafgesetzbuch benennt in Artikel 325 verschiedene Kriterien dafür, ob ein Mord an einer Frau aufgrund ihres Geschlechts verübt wurde und damit als Feminizid strafrechtlich verfolgt wird. Feministische Organisationen kritisieren, dass auf Ebene der Bundesstaaten teilweise andere Kriterien und entsprechend unterschiedliche Rechtsprechungen gelten. Seit August dieses Jahres wird jedoch eine bundesweite Gesetzgebung mit einheitlichen Kriterien und einem Strafmaß von 40 bis 60 Jahren Haft diskutiert.

Das zentrale Problem ist die generelle Straflosigkeit und die fehlende Umsetzung der Gesetzesgrundlagen in Mexiko. Die Aufklärung von Feminiziden wird verschleppt, vertuscht oder die Fälle gar nicht erst als solche registriert. Es wird von sieben bis zehn Fällen täglich ausgegangen, die Zahlen variieren je nach Statistik. 2020 gab es von Januar bis Juli 2.240 getötete Frauen, darunter offiziell 566 Feminizide. Zum Vergleich: Im Jahr 2019 gab es offiziellen Zahlen zufolge 1.012 Feminizide. Eine unabhängige Dokumentation von Feminiziden unter Berücksichtigung der aktuellen Pandemiesituation käme wahrscheinlich auf noch höhere Zahlen.

In der Regel bezieht die mexikanische Staatsanwaltschaft sexuelle Orientierung und Geschlecht nicht in ihre Ermittlungen ein. Laut der Nichtregierungsorganisation Letra S wurde 2019 jeden dritten Tag eine LGBTIQ-Person ermordet, wobei die tatsächliche Zahl sehr viel höher vermutet wird. Mehr als die Hälfte der Ermordeten waren trans Frauen. Nur in wenigen Fällen wurden Hassverbrechen als ein mögliches Tatmotiv benannt.

2015 erließ der Oberste Gerichtshof Mexikos das Urteil im Fall von Mariana Lima Buendía und schuf damit einen Präzedenzfall: Das Gericht verfügte, dass alle gewaltsamen Todesfälle von Frauen aus einer geschlechtsspezifischen Perspektive zu untersuchen seien. Anfang des Jahres forderte unterdessen der Generalstaatsanwalt von Mexiko-Stadt, den Straftatbestand des Feminizids aus dem Gesetzbuch zu streichen, da die Behörden damit überfordert seien, die geschlechtsspezifischen Merkmale einer Straftat nachzuweisen (siehe Onda Info 479).
Landesweit kommt es immer wieder zu Protesten gegen Feminizide. Am 3. September 2020 besetzten Feminist*innen die Menschenrechts-kommission in Mexiko-Stadt, um auf die verheerende Situation aufmerksam zu machen (siehe LN 557).

Dieser Text ist Teil der Übersicht Gewalt und Gesetz aus unserem Dossier ¡Vivas nos queremos! Perspektiven auf und gegen patriarchale Gewalt. Das Dossier kann hier heruntergeladen werden oder über unser Aboformular gegen Versandkosten bestellt werden.

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