Mit dem Gesicht zum Volke
Die DDR und Nicaragua – Neben dem Staatskalkül lebte eine Sympathiebewegung an der Basis
Der Sieg der sandinistischen Befreiungsfront am 19. Juli 1979 kam für die DDR ziemlich überraschend, denn zur FSLN bestanden keine ernsthaften Kontakte. Als offizielle „Bruderpartei“ der SED galt die Sozialistische Partei Nicaraguas (PSN), die aber seit ihrer Gründung 1944 fast ausnahmslos in der Illegalität arbeiten mußte und vornehmlich aus dem Exil heraus operierte. Sie verfügte nur über wenige hundert Mitglieder. Die Sandinisten wurden dagegen als kleinbürgerliche Abenteurer angesehen, die Che Guevaras irriger Focus-Theorie anhingen. (Ein Kommilitone von mir, den die PSN zum Studium der marxistisch-leninistischen Philosophie nach Ostberlin geschickt hatte, bekam dies sehr praktisch zu spüren, als er 1976 und 1978 für die FSLN Spenden sammeln wollte.) Auch das DDR-Außenministerium untersagte seinen Botschaften in Lateinamerika offizielle Kontakte zur FSLN. Nach der kubanischen Raketenkrise von 1961 wollte man die USA nicht innerhalb ihrer Einflußzone militärisch provozieren, und als solches hätte die Unterstützung einer bewaffneten Guerilla-Organisation in Mittelamerika angesehen werden können.
Von kleinbürgerlichen Abenteurern zur Bruderpartei
Der damalige DDR-Botschafter in Mexiko, Peter Lorf, hielt sich jedoch nicht so sklavisch an die Vorgaben aus Berlin und trank hin und wieder auf privater Ebene einen Whisky mit Tomás Borge und seinen Mitstreitern, die in Mexiko-Stadt ihr Organisationsbüro hatten. Dies führte dazu, daß er gleich am 20. Juli nach Managua eingeladen wurde und die DDR das erste Ostblockland war, das mit dem neuen Nicaragua diplomatische Beziehungen aufnahm. Vier Wochen später folgte Außenminister Oskar Fischer zu einem offiziellen Staatsbesuch, der weitere vier Wochen später von der FSLN-Nationalleitung in Berlin erwidert wurde. Von nun an galt die FSLN ebenfalls als Bruderpartei, was ihr vielfältige Unterstützung einbrachte, bis hin zu neuen Druckmaschinen für ihr Zentralorgan Barricada.
Nach ersten Kooperationsvereinbarungen folgten ab 1981 zahlreiche Handels-, Bildungs- und Kulturabkommen, wobei die DDR stets zwischen kommerziellen Projekten und staatlichen Solidaritätsleistungen unterschied. Nicaragua sollte einerseits zur Entlastung der prekären Devisenlage der DDR beitragen, andererseits mit Produkten und Leistungen unterstützt werden, die in der heimischen Mangelwirtschaft entbehrlich waren. In SED-internen Papieren war ab der zweiten Hälfte der 80er Jahre die Orientierung deutlich, die „Hilfe und Unterstützung für Entwicklungsländer mit dem ökonomischen Nutzen für die DDR zu verbinden“ (Thematische Information der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED vom Februar 1988). Dies führte unter anderem dazu, daß die Rückzahlung von teuren Krediten streng eingefordert wurde und für die Lieferung von technischen Geräten, etwa LKWs, Telefonanlagen und Sicherheitstechnik Gegenleistungen in Form von Baumwolle, Kaffee und Rum erbracht werden mußten, auch wenn die Handelsbilanz damit keineswegs ausgeglichen werden konnte.
Den vielfältigen Wünschen der nicaraguanischen Seite nach kostenloser Hilfe kam die DDR am ehesten mit immateriellen Leistungen nach, da exportfähige Maschinen nicht ausreichend zur Verfügung standen beziehungsweise für den harten Devisenmarkt benötigt wurden. Im vogtländischen Pößneck wurden zum Beispiel Schulbücher mit der Geschichte Sandinos in Spanisch gedruckt, in Jinotepe bildeten deutsche Lehrmeister junge Nicaraguaner zu Autoschlossern aus und Margot Honecker überreichte in Managua didaktisches Material für den naturwissenschaftlichen Unterricht.
Neben dem Bildungsbereich gab es die größte Unterstützung im Gesundheitswesen. Zunächst wurden Schwerverletzte des Befreiungskampfes in der DDR operiert und mit Prothesen versorgt, später entstand eine Orthopädiewerkstatt direkt in Managua. Als nach dem Beginn des Contra-Krieges 1982/83 die Zahl der Verwundeten vor allem in den nördlichen Kampfgebieten stark anstieg, bat die FSLN dringend um die Bereitstellung eines Feldlazarettes. Dies konnte mit seinen modernen Gerätschaften aber nur von Fachleuten betrieben werden, was bedeutet hätte, daß die DDR mittelbar in den Krieg gegen die Contras und die dahinterstehenden USA verwickelt worden wäre. Um dies auf jeden Fall zu vermeiden, mußten nicaraguanische Ärzte an der Technik ausgebildet werden. Also baute man die großen tarnfarbenen Zelte sowie Röntgen- und Operationscontainer am östlichen Stadtrand von Managua auf und trainierte bei der kostenlosen Behandlung der benachbarten Bevölkerung aus den Armenvierteln. Die weißen Ärzte und ihre Künste übten aber eine derart magische Anziehungskraft aus, daß bald aus dem ganzen Land Kranke herbeigeströmt kamen und sich stundenlang für eine Behandlung anstellten. Inzwischen berichteten auch die Medien über diese großartige Hilfe für die Ärmsten der Armen. Die DDR hatte plötzlich ihr Lambarene und es war unmöglich, das Lazarett einfach wieder abzubauen. Also entschloß man sich 1985, das Provisorium in ein richtiges Krankenhaus zu verwandeln und systematisch auszubauen. Von der zentralen Plankommission wurden Kapazitäten für ein komplettes DDR-Kreiskrankenhaus in die Staatsplanbilanz eingestellt, nur daß der Anlieferungsweg hier etwas weiter war. Das „Hospital Carlos Marx“ entstand.
Hatte ein Projekt einmal diese Hürde übersprungen, funktionierte die Hilfe mit bewährter deutscher Gründlichkeit, zumal wenn sie sich noch mit dem Enthusiasmus der Beteiligten koppelte, die auf diese Weise endlich mal praktisch helfen konnten und zudem auch noch aus der DDR herauskamen.
IM’s gegen Basisengagement
Anders war es dagegen bei den spontan gebildeten Soli-Gruppen an der Basis, die nicht in den offiziellen Planbetrieb integriert waren und ihr Engagement oft auch noch mit einer Kritik an der wenig durchschaubaren Arbeit des staatlichen Solidaritätskomitees der DDR verbanden. Hier witterte der Staat Störpotential und vermutete heimliche Ausreiseabsichten.
Insgesamt gab es ein halbes Dutzend unabhängiger Nicaragua-Solidaritätsgruppen, die in fünf Städten bestanden: Leipzig, Jena, Potsdam, Berlin und Magdeburg. Dies scheint, gemessen an der breiten Bewegung in der Bundesrepublik, ausgesprochen wenig, doch angesichts des allgegenwärtigen Staates, der auch für die Solidarität ein Monopol beanspruchte, das er gegebenenfalls mit eingeschleusten Inoffiziellen Mitarbeitern durchzusetzten versuchte, war dies durchaus beachtlich und es hat Vergleichbares auch für kein anderes Land gegeben. Es wurden nicht nur Spenden gesammelt und über Kunstauktionen größere Summen eingespielt, sondern durch eigene kleine Publikationen auch über problematische Entwicklungen — etwa an der Atlantikküste — berichtet, die in der offiziellen DDR-Presse nicht auftauchten. Zudem wurden jene Seiten der sandinistischen Revolution besonders vorgestellt, die auch für die DDR von Relevanz waren, so das gemischte Eigentum, der partnerschaftliche Umgang mit der Kirche und die demokratische Dialogkultur zwischen Führung und Volk.
Dies führte mit dazu, daß die Bevölkerung Nicaragua mehr Sympathien entgegengebracht hat als jedem anderen Land, das von der DDR unterstützt wurde. Hier glaubten viele das Modell eines Dritten Weges zu erkennen, das auch für eine reformierte DDR denkbar wäre. Nicht zufällig tauchte zum Beispiel die Losung „Mit dem Gesicht zum Volke“ – De cara al pueblo – auf vielen Plakaten im Wendeherbst ‘89 wieder auf und wurde daraus ein populäres Lied von Gerhard Schöne.
Bei der Umwandlung des gesammelten Geldes in sinnvolle Materialien für Werkstätten oder Landschulen in Diriamba oder Monte Fresco entstanden für manche Gruppen jedoch handfeste Probleme, da Schreibutensilien, Gummistiefel oder Werkzeuge nur in Einzelstücken für den „Bevölkerungsbedarf“ abgegeben werden durften, nicht aber für den Versand ins Ausland bestimmt waren. Den nächsten Ärger gab es bei der Post, wo lange Listen existierten, welche Produkte alle nicht das Land verlassen durften.
Erst nach zähen Verhandlungen über das INKOTA-netzwerk bei der Kirche gelang es schließlich Ende der 80er Jahre, daß die unabhängigen Gruppen Bilanzanteile für bestimme Produkte erhielten und das staatliche Solidaritätskomitee ihnen auch einen Transportcontainer pro Jahr zur Verfügung stellte. Selbst einzelne Reisen wurden genehmigt, doch die Mehrzahl der Gruppenmitglieder mußte sich weiterhin mit Dia-Vorträgen zufriedengeben. Als dann endlich die Mauer gefallen war und die ersten Reisen zu den Partnerprojekten geplant werden konnten, verloren die Sandinisten am 25. Februar 1990 die Wahlen und viele Aktivisten ihren Enthusiasmus, zumal es vor der Haustür genug Veränderungen gab, auf die man sich einstellen mußte.
Geblieben sind von der DDR nicht nur einige Millionen Solidaritätsgelder, die nach der Wende über einen Nicaragua-unabhängigen Verteilerrat und die Stiftung Nord-Süd-Brücken den noch verbliebenen Projekten zugeführt wurden, sondern auch die Schulden Nicaraguas aus dem ungleichgewichtigen Außenhandel, die jetzt die Bundesrepublik als Forderung übernommen hat. Doch nach dem verheerenden Hurrikan “Mitch“ ist eine Rückzahlung noch unrealistischer als zuvor. Hier kann es nur eine vernünftige Entscheidung geben: Erlaß. Das Jahr 2000 ist dafür der richtige Anlaß.
Zur Nicaragua-Solidaritätsbewegung siehe auch die Artikel der beiden AutorInnen Sabine Zimmermann und Willi Volks in den Lateinamerika-Nachrichten Nr. 287: „Solidarität in den Farben der DDR“.