Nummer 497 - November 2015 | Theater

Mit kreativem Spiel zur Veränderung der Gesellschaft

Die bolivianische Gruppe Teatro Tono stellt in Berlin ihre Stadt El Alto vor

Fabian Grieger

Nach einer Stunde verläuft die Schminke auf den erschöpften Gesichtern der Schauspieler*innen im tosenden Applaus des Publikums. Eine Frau in der ersten Reihe trocknet mit einem Taschentuch ihre Tränen, während sie dankbar lächelt. Eine andere weint noch immer. Dabei kullern die Tränen an diesem Abend im Berliner Theater im Aufbauhaus auch bei Zuschauer*innen, die El Alto erst heute kennengelernt haben.
El Alto ist die heimliche Hauptstadt des indigen-geprägten bolivianischen Hochlands, eine der am schnellsten wachsenden Städte des Kontinents und die Heimat von Teatro Trono (Throntheater). Die Gruppe hat ihr Stück Arriba El Alto (etwa: „oben in El Alto“ oder „El Alto lebe hoch“, der Titel spielt mit der Doppeldeutigkeit) liebevoll der Metropole gewidmet.
Das Stück erzählt die Geschichte der Stadt dabei von ihren Anfängen in den 80er-Jahren, als Familien von Minenarbeiter*innen und Bauern und Bäuerinnen vom Land an den Rand der Kesselstadt La Paz zogen und damit eine neue Stadt entstehen ließen. Deren Strukturen wurden durch den täglichen Überlebenskampf statt durch die Ideen eines kolonialen Stadtplaners geprägt. Keine große Kathedrale, keine prunkvollen Plätze und Parks, stattdessen Ziegelhäuser über Ziegelhäuser, in denen heute bereits mehr als eine Million Menschen wohnen. El Alto wächst zu schnell für die Verwaltung, darum organisieren sich die Bürger*innen selbst, davon erzählt das Theaterstück. Davon, wie andine Dorfstrukturen die Stadtviertel prägen und wie schnell das Geld aus La Paz den Hügel hinauf nach El Alto kommt. Aber auch vom täglichen Kampf mit der Kälte, von den Partys und der Jugend, die ihre eigenen Vorstellungen hat. Mit Sketchen und Musik schlängeln sich die Schauspieler*innen durch die Geschichte El Altos bis zum „schwarzen Oktober“ 2003. Im sogenannten „Gaskrieg“ demonstrierten tausende Alteñ@s gegen den Verkauf der Erdgasvorkommen Boliviens an US-amerikanische Unternehmen. Das Militär antwortete mit Panzern und Gewehren, 67 Menschen starben. Ihre Namen haben die Troner@s auf eine Tafel geschrieben. Zu den Namen der Toten und den Bildern des Aufstands erklingt Leon Giecos „La Memoria“. Es ist der Moment, in dem die Tränen fließen.
Arriba El Alto verrät dabei nicht nur etwas über die Brutalität der Eliten in Bolivien. Es erklärt, wie El Alto zu dem geworden ist, was es ist und welche Rolle dabei die Theatergruppe Teatro Trono und das Mutterprojekt COMPA (Gemeinschaft der Kunstschaffenden) einnehmen.
In drei COMPA-Häusern in El Alto stehen die Türen immer offen. Theater, eine Musikband, Tanzkurse, Sprachunterricht, Filmproduktion. Wer eine Idee hat, darf sie umsetzen. Freiwillige und Festangestellte prägen seit mehr als 20 Jahren eine Gemeinschaft, die bunt ist, frech, laut und unbequem. Regelmäßig werden Demonstrationen und Kundgebungen organisiert. Kreativität, daran glaubt das Projekt, ist die beste Kraft zur gesellschaftlichen Veränderung. Wer die Gesellschaft befreien will, der muss erst sich selbst befreien. Dekolonisierung des Körpers nennt das Iván Nogales, Gründer und Direktor von COMPA. Nogales hat seine Ideen aufgeschrieben. Dass bolivianisches Theater seine Wurzeln in andinen Traditionen und nicht in europäischen Theorien hat. Dass Jahrhunderte andauernde Kolonialgeschichte seine Spuren auch in der Körperlichkeit hinterlässt, deren Befreiung durch die Lust am Spielen gelingt.
„Wir sind kein Theater der Unterdrückten und kein Straßentheater, sondern ein paar Leute, die Lust haben zu spielen und das aus uns herausholen, was in uns steckt“, erklärt Iván Nogales die Philosophie von Teatro Trono. Seine Ideen lassen in El Alto immer weitere Gruppen entstehen, die ihren Weg suchen.
Dass Teatro Tronos Weg als Teil der Kinderkulturkarawane nach Berlin führt, ist kein Zufall. Hier ist seit einigen Jahren der Sitz von COMPA Berlin, einer deutschen Vertretung des bolivianischen Projekts.
Zehn Tage lang hat die Theatergruppe in Berlin unter dem Titel „Stadt der Zukunft“ an Schulen Workshops gegeben und Auftritte organisiert. Nogales war derweil im Kreuzberger Regenbogenkino zu einer Podiumsdiskussion mit der Fragestellung „Kann Berlin etwas vom Widerstand in El Alto lernen?“ geladen. Mit Vertreter*innen von Mietinitiativen und Abschiebeverhinder*innen wurde darüber gerätselt, wie sich die Protestkultur El Altos auf Berlin übertragen könnte. „Was war die größte Demonstration, die ihr in Deutschland zustande gebracht habt?“, fragte Nogales. Podium und Publikum begannen zu rätseln, man einigte sich auf eine Million Hartz-IV-Gegner*innen. „Unsere in El Alto war drei Millionen, aber Bolivien hat gerade einmal zehn Millionen Einwohner.“ Die Gründe, warum sich in Bolivien scheinbar mehr Menschen für ihre Belange einsetzen, konnten an diesem Tag nicht geklärt werden. Diese liegen wohl verborgen zwischen kulturellen Unterschieden, historisch-kolonialen Gegebenheiten, unterschiedlichem Wohlstand und der aktuellen politischen Lage.
Auf ihrer Deutschlandreise hinterließen die Künstler*innen aber eine andere Gewissheit. Der Blick des europäischen Kulturbetriebs nach Bolivien kann uns daran erinnern, welche Veränderungskraft Theater hat. Auf theoretischer wie auf emotionaler Ebene – davon zeugen die Tränen.

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