Mexiko | Nummer 495/496 – September/Oktober 2015

Mord mit Ansage

Ein offensichtlich politisch motivierter Fünffachmord erschüttert Mexiko, Spitzenpolitiker als Auftragsgeber verdächtigt

Mit der brutalen Ermordung von fünf jungen Menschen – darunter die Aktivistin Nadia Vera und der Fotojournalist Rubén Espinosa – ist ein neuer Tiefpunkt in Sachen staatlicher Repression gegen kritische Stimmen erreicht. Während große Medien und Polizei die politischen Hintergründe zu verschleiern versuchen, verweisen die Opferfamilien auf die Verantwortlichkeit des Gouverneurs des Bundesstaats Veracruz. Tausende protestieren im ganzen Land gegen die Gewalt an Journalist*innen, stellen die schlampigen Ermittlungen bloß und fordern eine lückenlose Aufklärung der Tat und ihrer Hintergründe.

Tilman Massa

Reforma hatte den Fall schnell eingeordnet. „Party endet mit Exekution“, titelte die konservativ-liberale Tageszeitung. In der Nacht vom 31. Juli wurden vier Frauen und ein Mann in einer Wohnung im Mittelklasse-Viertel Navarte von Mexiko-Stadt ermordet. „Sie mochten es, mit Freunden zu feiern“, wusste das Blatt über die Opfer zu berichten. Auch der Generalstaatsanwalt von Mexiko-Stadt, Rodolfo Ríos, sprach zunächst von einer eskalierten Feier. Mit Klebeband gefesselt und mit Schusswunden und Spuren von Folter überzogen, wurden die Opfer mit je einem Kopfschuss hingerichtet. Ríos ging zuerst von einem Raubüberfall aus. Das rechte Boulevardblatt La Razón verstieg sich gar zu der These, dass Drogenkonsum im Spiel gewesen sei. Der Unterton war klar: Eine Feier in zwielichtigen Kreisen sei eskaliert, die Ermordeten hätten sich besser gar nicht erst mit solchen Leuten abgeben sollen. Die Behauptungen einer Drogenparty sollten sich als falsch erweisen. Dabei hätte es keiner großen Recherche über die Opfer bedurft, um schon früher einen anderen Hintergrund der Tat zu vermuten.
Ermordet wurden die Hausangestellte Alejandra Negrete, die politische Aktivistin Nadia Vera, deren Mitbewohnerinnen Yesenia Quiroz und Mile Virginia Martín sowie Fotojournalist Rubén Espinosa. Die Sozialanthropologin Nadia Vera engagierte sich in der Studierendenbewegung #YoSoy132 in Xalapa, der Hauptstadt des westlichen Bundesstaates Veracruz. Soziale Bewegungen und Proteste sind hier immer wieder brutal niedergeschlagen, oppositionelle Stimmen mundtot gemacht und gewaltsam verschwunden gelassen worden. Die Zusammenarbeit lokaler Spitzenpolitiker*innen mit Drogenkartellen, besonders den Zetas, ist offensichtlich. Vera war eine der Mutigen, welche die bedrohliche Situation für politisch Aktive klar beschrieben. „Hier sind wir das Problem, wir stören die Regierung genauso wie die Narcos. So sind wir gefangen zwischen zwei Fronten, oder sagen wir zwischen legaler und illegaler Repression“, sagte sie in einer Dokumentation von Rompeviento TV. Sie nannte auch klar die Verantwortlichen: „Die Zahl der Verschwundengelassenen steigt an, seit Javier Duarte Gouverneur ist. Wir möchten sehr deutlich machen, dass der Staat für unsere Sicherheit verantwortlich ist, denn sie sind es, die Leute schicken, um uns einzuschüchtern.“ Die Antwort kam ohne Umschweife. Nachdem ihr Haus in Veracruz verwüstet worden war, floh Nadia Vera in die vermeintlich sichere Hauptstadt.
Auch der ermordete Rubén Espinosa war aus den gleichen Gründen nach Mexiko-Stadt gekommen. Als freiberuflicher Fotojournalist hatte er acht Jahre lang über die Repression sozialer Bewegungen in Veracruz berichtet. Und auch er hatte den Gouverneur kritisiert. Sein Foto von Duarte ziert die Titelstory „Veracruz – Staat ohne Gesetz“ des Recherchemagazins Proceso. Zu Recht: In den bisherigen fünf Amtsjahren von Duarte, welcher der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) angehört, sind fünf Journalist*innen verschwunden, über 37 geflüchtet und zwölf ermordet worden. Der Gouverneur weiß um die Drohungen gegen kritische Journalist*innen. Sein perfider Ratschlag an die Verfolgten: „Wenn Euch etwas zustößt, dann bin ich es, der ans Kreuz geschlagen wird. Also benehmt Euch!“
Doch für Rubén Espinosa war Schweigen keine Option mehr. „Ich weiß ganz genau, dass es der Gouverneur von Veracruz, Javier Duarte, ist, der mich verfolgt. Deswegen fürchte ich um mein Leben. Deswegen flüchte ich aus Veracruz. Ich will nicht die Nummer 13 sein“, hatte er noch seinem Kollegen Pedro Canché gestanden. Espinosa ist nun die Nummer 14 der ermordeten Jounrnalist*innen unter Duarte geworden.
Diese Umstände legen es nahe, in dem Fünffachmord in Mexiko-Stadt einen weiteren brutalen Angriff auf die Presse- und Meinungsfreiheit zu sehen. So schreibt Proceso, für das Rubén Espinosa arbeitete, dass Folter, Misshandlung und Nackenschuss bei allen fünf Ermordeten klar auf ein Werk von Auftragsmördern schließen lasse, und dass gezielt gefoltert wurde, um bestimmte Informationen zu erlangen. Doch wie so oft bei solchen Mordfällen werden die Ermittlungen verschleppt oder auf Umstände gelenkt, die nichts mit der investigativ-journalistischen Arbeit oder dem politischen Aktivismus der Opfer zu tun haben. Auch in diesem Fall versuchte die zuständige Staatsanwaltschaft von Mexiko-Stadt PJGDF, von diesem naheliegenden Motiv abzulenken. Sie verbreitete zunächst ungenaue Daten und schlicht falsche Behauptungen über die Tatumstände. Der vermeintliche Drogenkonsum der Opfer war nur eine davon. Der Hinweis auf die kolumbianische Nationalität der ermordeten Mile Virginia Martín sollte gar den Eindruck erwecken, es habe sich um einen Konflikt unter Drogenhändler*innen gehandelt.
Zudem behauptete die PJGDF, außer Alejandra Negrete seien alle Frauen vergewaltigt worden, obwohl Nadia Veras Anwältin stets darauf insistierte, dass sich aus den bisherigen Kriminalermittlungen ergebe, dass dies bei keiner der vier Frauen der Fall gewesen sei. So versuchte die Staatsanwaltschaft, die Vergewaltigung und Ermordung junger Frauen als Hauptmotiv der Täter darzustellen. Zwar sind sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Feminizide, also die Ermordung aufgrund der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht, epidemisch in Mexiko, doch in diesem Fall scheint es eher ein gezieltes Störfeuer der Staatsanwaltschaft zu sein, um die politischen Hintergründe auszublenden.
Nicht nur die Familien der Opfer, auch viele Journalist*innen befürchteten, dass nun das übliche Spiel der ermittelnden Behörden gespielt würde, das die enorme Straflosigkeit in Mexiko ermöglicht. Nur neun der 88 seit 2000 registrierten Fälle ermordeter Journalist*innen sind aufgeklärt worden. Deswegen wendeten sich die Hinterbliebenen in einem offenen Brief an Präsident Enrique Peña Nieto. Darin erinnerten sie Peña Nieto daran, dass die Opfer die Drohungen den Behörden gegenüber öffentlich gemacht hatten: „Rubén Espinosa dachte, dass diese Hilferufe ihn retten könnten und trotzdem wurde er nicht durch den Staat geschützt. Der Staat ist dafür verantwortlich, das Recht auf Meinungsäußerung und Information zu garantieren, das uns Bürgerinnen und Bürgern seit der anwachsenden Welle der Gewalt gegen die Presse und kritische Stimmen verweigert wird.“
Die zuständigen Behörden sind trotz aller Vorwarnungen wieder daran gescheitert, das Leben von bedrohten Journalist*innen und Politaktivist*innen zu schützen. Doch die mexikanische Zivilgesellschaft, flankiert von immer größerer internationaler Unterstützung, macht Druck. Tausende Journalist*innen, Aktivist*innen und Bürger*innen in der Hauptstadt und in Städten acht weiterer Bundesstaaten gingen über mehrere Tage hinweg auf die Straße. Sie forderten Gerechtigkeit für die Opfer, eine schnelle und gründliche Aufklärung der fünf Morde und machten auf die Verwicklung von Gouverneur Duarte aufmerksam. Über 500 Autor*innen, Künstler*innen und Journalist*innen aus Mexiko und der ganzen Welt unterstützten die Forderungen der Angehörigen. Sie mahnten insbesondere Ermittlungen „ohne Rücksichtnahme auf die lokalen und bundesstaatlichen Funktionäre, die involviert sein könnten“ an.
Seit dem immer noch ungeklärten Verschwinden der 43 Studenten von Ayotzinapa (siehe u.a. LN 486, 487, 491) hat es nicht mehr eine so große öffentliche Wahrnehmung und Diskussion über die Gewaltverbrechen an kritischen Stimmen gegeben, für die der Staat gleich doppelt in der Verantwortung steht. Wie im Fall Ayotzinapa kann der Staat seine Verstrickung und Verantwortung nicht mehr leugnen. Wie im Fall Ayotzinapa lassen Familienangehörige, kritische Medien und soziale Bewegungen nicht locker, eine Aufklärung und ein Ende der Straflosigkeit einzufordern.
Zumindest hat der Druck der Öffentlichkeit erreicht, dass sich der Bürgermeister von Mexiko-Stadt, Miguel Mancera, in die Ermittlungen eingeschaltet hat. Dieser wies die Ermittlungsbehörden an, dass Verhaftungen und Verhöre ohne Gewaltanwendung verlaufen müssen – normalerweise ist das Gegenteil der Fall –, um die Verwertbarkeit der Aussagen sicherzustellen.
Bisher gab es in dem fünffachen Mordfall zwei Verhaftungen. Anfang August wurde ein 41-jähriger ehemaliger Häftling festgenommen, dessen Fingerabdrücke am Tatort gefunden worden waren. Ende August wurde dann ein ebenfalls vorbestrafter Ex-Polizist verhaftet, der gemeinsam mit dem ersten Festgenommenen auf Überwachungskameras nahe des Tatorts zu sehen war. Beide Verdächtigte übertreffen sich nun damit, in ihren Aussagen weitere Unklarheiten und Ungereimtheiten aufzuwerfen. Sie geben zwar zu, am Tatort gewesen zu sein, doch die Morde soll ein flüchtiger Dritter verübt haben. Selbst Gouverneur Duarte wurde verhört, doch außer einer Distanzierung von der Tat ist dabei erwartungsgemäß nichts herausgekommen. Daher ist weiterer öffentlicher Druck auf die mexikanischen Behörden entscheidend, um sie an ihre Aufklärungspflicht zu erinnern.


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