Bolivien | Nummer 354 - Dezember 2003

Nach der Schlacht ist vor der Schlacht

Die verschiedenen gesellschaftlichen Akteure Boliviens ringen um die Hegemonie

Bolivien erlebt seit einigen Jahren eine tiefe Krise bezüglich seines Selbstbildes. Zwei politische Blöcke wollen bestimmen, wie dieses Land in Zukunft aussehen soll. Ihre Positionen sind unvereinbar, die Gesellschaft polarisiert, die daraus entstehenden Konflikte lassen eine schwierige Zukunft erwarten. Der Präsidentenwechsel im Oktober hat die Probleme des Landes nur vorübergehend entschärft.

Blas Urioste

Nach wochenlangen Protesten übernahm der bisherige Vizepräsident Carlos Mesa am 17. Oktober 2003 die Regierung. Er trat mit dem Versprechen an, die wichtigsten Forderungen der DemonstrantInnen erfüllen zu wollen, die Anfang Oktober gegen die Vorgängerregierung auf die Straße gegangen waren. Seinen Plan, so schnell wie möglich Neuwahlen zu organisieren, hat er inzwischen zurückgenommen und will voraussichtlich bis 2007 regieren, wie von der Verfassung vorgesehen.
Die Anführer der Proteste haben ihm 90 Tage eingeräumt, um die 72 Punkte ihres Forderungskatalogs umzusetzen. Sie fordern unter anderem die Verstaatlichung der Bodenschätze und die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung (VV), die einen neuen Gesellschaftsvertrag aushandeln soll. Der Einberufung der VV und einer Volksabstimmung über die Zukunft der Gasvorkommen hat Mesa bereits zugestimmt. Damit hat er den Boden der Verfassung verlassen, die weder eine VV noch die Möglichkeit eines Referendums vorsieht. Die traditionellen Parteien verbannte er aus seiner neugebildeten Regierung; er berief ausschließlich Parteilose als Mi-nisterInnen. Jetzt steht er ohne institutionelle Basis da und es ist fraglich, ob er die Probleme und Fragen, die die Regierung von Sánchez de Lozada zum Scheitern brachten, unter diesen Umständen bewältigen kann.
Die Herausforderung für Mesa, genauso wie für die anderen Akteure und Akteurinnen, ist die Suche nach einer friedlichen Lösung aus der Hegemonie-Krise in der bolivianischen Gesellschaft. Zwei politische Blöcke mit völlig entgegengesetzten Vorstellungen von Bolivien und dem, wie es in Zukunft sein soll, stehen sich gegenüber.

Zwei Blöcke im Parlament
Bis zum Oktober diesen Jahres und noch darüber hinaus verlief eine Front durch das Parlament. Auf der einen Seite gab es die von Sánchez de Lozada geführte Koalition der drei traditionellen Parteien, bestehend aus der MNR (Nationalistische Revolutionäre Bewegung), der MIR (Linksrevolutionäre Bewegung) und der NFR (Neue Republikanische Front). Zusammen repräsentierten sie über 60 Prozent der Stimmen und verkörperten den politischen Status quo Boliviens. Auf der anderen Seite stand die Opposition, geführt von Evo Morales (MAS – Bewegung zum Sozialismus), mit einem Rückhalt von etwas mehr als einem Fünftel der WählerInnenstimmen und Felipe Quispe mit seiner Partei Indigene Bewegung Pachakutik (MIP), die etwa sechs Prozent erreicht hatte.
Die beiden Blöcke waren intern zerstritten, Einigkeit bestand nur in der gegenseitigen Abneigung. Während die Regierung für eine Fortsetzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik und die Beibehaltung des heutigen politischen Rahmens – also der Repräsentativen Demokratie – stand, kämpften Evo Morales und Felipe Quispe für eine Neugründung des bolivianischen Staates. Diese solle „das Ende des Kapitalismus auf bolivianischem Boden“ mit sich bringen und die Verwandlung „der so genannten Demokratie“ in eine „wahrhaftige Demokratie“ sein.
Was das im Detail bedeutet, liest sich im Parteiprogramm der MIP so: „Wir müssen zu den glorreichen Zeiten der Inkas zurückkehren (…). Alle westlichen Institutionen gehören abgeschafft“, denn Quispe ist sich sicher: „Der Aymara ist besser als das System.“ Im Programm der MAS heißt es: „In unseren Ländereien und Territorien waren Armut und Hunger unbekannt, alles war Leben. (…) Wir lebten in Gemeinschaften des Überflusses, wo das Leben vollkommene Harmonie, Brüderlichkeit und gegenseitiger Respekt mit der Mutter Erde war.“ Die MAS hingegen fordert keine Neueinrichtung des Inkareiches, sondern, dass sich „die Wirtschaft auf die Produktion von nachhaltigen Produkten stützen“ solle, womit hauptsächlich die Kokapflanze gemeint ist. Wirtschaftspolitisch zielt die MAS auf die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die Abschaffung des Marktes als zentrale Regulationsinstanz der Ökonomie.
Aufgrund der Unvereinbarkeit der Positionen von Opposition und Regierung schloss die Koalition die MAS und die MIP aus dem Gesetzgebungsprozess aus. Im Parlament nutzte die Regierung ihre Mehrheit, um ihre Projekte durchzubringen und die Opposition verlagerte ihre Proteste auf die Straße.
Die Regierung brillierte durch ihre Unfähigkeit sich in Sachfragen zu einigen und insbesondere durch die Pflege des Klientelismus. Hauptproblem zwischen den drei Koalitionspartnern war stets die Postenverteilung in Justiz und Verwaltung. Damit nährten sie das Vorurteil der Bevölkerung und der Medien gegenüber der Politik und trugen neben der fatalen wirtschaftlichen Lage zu einer rapiden Verschlechterung der Stimmung im Land bei. Immer mehr Menschen im Land begannen, das politischen System in Frage zu stellen.

Eine gespaltene Gesellschaft
Auf der gesellschaftlichen Ebene standen sich zahlreiche Gruppen gegenüber. Es lassen sich aber zwei größere Einheiten identifizieren. Die Cocaleros, die Gewerkschaften, die mobilisierten Aymaras aus der Gegend um den Titikakasee, die Landlosen-Bewegung und viele VerliererInnen der Reformen der letzten 20 Jahre – hauptsächlich Menschen indigener Abstammung, die in den Armenvierteln der großen Städten leben – bilden die eine Seite. Die andere formieren die Mittelklasse in den Städten, die Comites Cívicos (eine Art lokalpatriotische Bürgerkomitees aus dem Osten des Landes), eine von weißen BewohnerInnen aus Santa Cruz dominierte Organisation namens Nación Camba, die Unternehmerverbände und die traditionellen Parteien (MNR, MIR, NFR, ADN, UCS).
Auch auf der gesellschaftlichen Ebene dreht sich der Streit um das Selbstverständnis Boliviens und um die Frage, wie dieses Land in der nächsten Zukunft aussehen kann. Anders als auf der parlamentarischen Ebene gibt es hier allerdings vielfältigere Interessen als Neoliberalismus plus repräsentative Demokratie versus Ethnosozialismus. Den Cocaleros geht es hauptsächlich um die Bekämpfung der Drogenpolitik der USA und der Regierung, den Gewerkschaften geht es um eine Neubelebung ihrer Rolle im Land und um Sozialismus. Die Aymaras um Felipe Quispe sind für ein „ethnisch sauberes“ Hochland und die Wiedererrichtung des Inkareiches, die Landlosenbewegung kämpft für eine Umverteilung von Land. Die einkommensarmen Menschen in den Städten wollen eine Verbesserung ihrer katastrophalen Lage erreichen. Allen ist gemeinsam, dass sie den Versprechen der repräsentativen Demokratie und des Neoliberalismus auf eine bessere Zukunft keinen Glauben mehr schenken.
In Opposition dazu stehen Menschen und Gruppierungen, die auf keinen Fall bereit sind, einen ungewissen Weg zu gehen und den Status quo nur teilweise in Frage stellen. Der Mittelklasse geht es hauptsächlich um die Erhaltung ihres Besitzes. Die Comites Cívicos und die Nación Camba setzen sich für eine stärkere Dezentralisierung ein. Die UnternehmerInnen verfolgen ihre klassischen Interessen, und die traditionellen Parteien zielen auf die Erhaltung der repräsentativen Demokratie in ihrer derzeitigen Form.

Der Gas-„Krieg“ oder nur eine Schlacht?
Während sich die Unzufriedenen im „schwarzen Februar“ (vgl. LN 345) der eigenen Stärke bewusst wurden, fanden die AnhängerInnen der Stabilität keinen gemeinsamen Nenner. Die Regierung mit ihrem katastrophalen Image war außerstande, die einzelnen Interessengruppierungen hinter sich zu vereinen. Sie war durchgängig mit internen Streitereien und der Verwaltung der desaströsen wirtschaftlichen Lage ausgelastet.
Die SystemgegnerInnen hatten sich bei einem Treffen im Februar 2003 für das Ende des Jahres den Sturz Sánchez de Lozadas zum Ziel gesetzt. Unter den TeilnehmerInnen waren RepräsentantenInnen von MAS, MIP, den Gewerkschaften, den Landlosen und anderer Bewegungen. Über die Frage des Gasexportes sollten die BolivianerInnen mobilisiert werden, um „den Staat zurück in die Hände des Volkes zu holen.“ Laut eines bei diesem Treffen entstandenen Dokuments solle „die Judikative (…) durch Volksgerichte, die Legislative durch eine Verfassungsgebende Volksversammlung der indigenen Bevölkerung und die Exekutive durch eine Arbeiterregierung“ ersetzt werden. „Wenn es so weit ist,“ kündigte Felipe Quispe an, „machen wir eine bewaffnete Blockade (…), einen bewaffneten Aufstand, um die Regierung zu übernehmen.“

Die Mobilisierung
Offiziell hatte es von Seiten der Regierung nie Verhandlungen zum Thema Gas gegeben. Bis heute existiert kein zugängliches Dokument, das Kontakte mit Chile oder anderen Ländern bestätigt. Auch wurde nicht behauptet, der Export sei beschlossene Sache. Tatsächlich gab es Interessenten in den USA und Mexiko und einen Investor, der sich vorstellen konnte, den Export mit zu finanzieren. Fest stand, dass die multinationalen Konzerne nur 18 Prozent an Steuern hätten bezahlen sollen.
Das Thema eignete sich ideal, um eine breite Front von Protesten zu bündeln. Die Bezeichnung „Gaskrieg“ wurde geprägt und aus vielen verschiedenen Konflikten entstand eine geschlossene Mobilisierung, in der Nationalismus in verschiedenen Prägungen wie zum Beispiel Antichilenismus, Antiamerikanismus und die ethnische Zugehörigkeit eine zentrale Rolle spielte. Die Regierung unterschätzte die Kraft dieser Argumentation. Am Ende blieb ihr als einziges Mittel an der Macht zu bleiben nur die Anwendung von Gewalt. Es spielte keine Rolle mehr, dass sie nach wochenlangen Protesten in allen Fragen nachgab, denn es ging um den Sturz des Präsidenten. Dass dieser auch erfolgte, hatte weniger mit der Brutalität des Militärs zu tun als mit der Tatsache, dass sich der Vizepräsident des Landes, der konservative Journalist Carlos Mesa, von Sánchez de Lozada distanziert hatte. Damit bot er der Fraktion der Stabilitätsbefürworter eine Möglichkeit, sich zu mobilisieren, um das zu retten was zu retten war. Die Mittelklasse, die ausländischen Interessensgruppen, die Unternehmer und andere hätten wahrscheinlich, wenn auch nicht unbedingt aus Überzeugung, weiter die Regierung von Sánchez de Lozada unterstützt, wenn sie nicht die Möglichkeit einer „institutionellen Lösung“ gesehen hätten. Auch die weit verbreitete Idee eines nationalen oder eines Volks-Aufstandes ist problematisch. Außerhalb des Regierungsbezirkes La Paz hatte es kaum Zusammenstöße zwischen DemonstrantInnen und Polizei oder Armee und im Osten des Landes nur vereinzelte Proteste gegeben.

Die Aussichten
Schon jetzt hat die Regierung damit zu kämpfen, dass sie keinen Einfluss auf die parlamentarische Agenda hat. So wurde von einer Allianz aus der MAS und NFR die Steuergesetzgebung gekippt und Straffreiheit für SteuerhinterzieherInnen ermöglicht. Aufgrund des entstehenden finanziellen Schadens kann der Staat die Gehälter des Monats Dezember und das Weihnachtsgeld nicht auszahlen. Der Wirtschaftsminister Mesas spricht bereits offen über Hyperinflation und geht auf Betteltour bei den Geberländern. Land wird besetzt, obwohl eine Woche nach Antritt der neuen Regierung mit VertreterInnen der Landlosenbewegung ein Kompromiss unterschrieben wurde. Für Felipe Quispe und Evo Morales verkörpert Mesa die Fortsetzung der Politik von Sánchez de Lozada. Beide bekunden täglich, dass sie Mesa jeder Zeit stürzen könnten, wenn er sich einen Fehler erlaube. Mesa sei ein Produkt ihrer Proteste, sei also ihren Positionen verpflichtet. Schon jetzt merken alle, wie schwierig es sein wird, ein Referendum zum Thema Gas durchzuführen, ganz zu schweigen von der Komplexität einer neuen Verfassung durch eine Verfassungsgebende Versammlung.
Keiner der Konflikte, um die es in den letzten Wochen ging, wurde annähernd gelöst. Die beschriebenen Blöcke stehen sich weiterhin gegenüber und die Entscheidung, welcher davon das Land in den nächsten Jahren prägen wird, ist noch nicht gefallen. Wenn die Gesellschaft keinen politischen Weg findet, diese Fragen in nächster Zukunft zu beantworten, könnte es zu dem kommen, was DemonstrantInnen in La Paz tagelang forderten: „Bürgerkrieg!“

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