Bolivien | Nummer 404 - Februar 2008

„Wir wollen Beziehungen auf Augenhöhe”

Interview mit David Choquehuanca Céspedes, Außenminister von Bolivien über Verstaatlichungen, Industrialisierung und Boliviens neue Außenpolitik

David Choquehuanca Céspedes ist seit 2006 Außenminister von Bolivien. Seit den 1980er Jahren engagiert er sich in sozialen Bewegungen, unter anderem in der indigenen Bauerngewerkschaft CSUTCB. Im Rahmen seiner Europareise besuchte er im Januar auch Deutschland. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit ihm über den politischen Wandel in Bolivien, eine transparente Investitionspolitik und die Neubestimmung der Außenpolitik.

Interview: Timo Berger

Deutschland engagiert sich vor allem im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit in Bolivien. Nach den USA und Japan ist die BRD der drittgrößte Geldgeber für Hilfsprojekte. Was war der Grund Ihres Berlin-Besuchs, Herr Außenminister?

Natürlich geht es mir auch darum, die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern zu vertiefen. Doch der eigentliche Grund meiner Reise ist ein anderer: Bolivien durchläuft gerade eine historische Phase. Wir sind dabei, uns eine neue Verfassung zu geben, eine komplizierte und risikoreiche Geburt. In meinen Gesprächen mit Regierungsmitgliedern, Vertretern von Parteien, Gewerkschaften und Medien in Deutschland und anderen europäischen Ländern möchte ich von diesem Prozess berichten und um Verständnis für den politischen und ökonomischen Wandel werben, der gerade in Bolivien stattfindet.

Was charakterisiert diesen Wandel?

In Bolivien gab es in den vergangenen fünfhundert Jahren eine systematische Plünderung der natürlichen Ressourcen. Die Mehrzahl der Bevölkerung hat von dem Reichtum des Landes nie profitiert. Die aktuelle Regierung hat entschieden, diese Situation nicht mehr länger hinzunehmen. Unser Präsident Evo Morales ist fest entschlossen, die Interessen der Mehrheit der Bolivianer zu verteidigen. Doch um wirklich etwas zu verändern, genügt es nicht, ein paar Gesetze zu erlassen. Und deshalb haben wir eine Verfassungsgebende Versammlung einberufen. Die Bolivianer gaben ihr 2006 durch Wahlen den Auftrag, eine neue Konstitution auszuarbeiten.

Ein Teil der in der neuen Verfassung verankerten Reformen zielt auf eine Abkehr von der neoliberalen Wirtschaftspolitik der Vorgängerregierungen ab. Bereits am 1. Mai 2006 hatte Morales die Verstaatlichung der Treibstoffindustrie angeordnet – jetzt sollen weitere Schlüsselindustrien wie der Bergbau folgen.

Die »Nationalisierung« – wie wir sie nennen – der Treibstoffreserven, war ein Auftrag, den die Bewegung zum Sozialismus MAS mit ihrer Wahl 2005 vom Volke erhalten hat. Evo Morales hat mit der Nationalisierung also ein Wahlversprechen erfüllt. Wir wollen Beziehungen auf Augenhöhe. Die Investitionen, die bisher in Bolivien getätigt wurden, haben dafür gesorgt, dass der Reichtum aus dem Land abfloss statt der Bevölkerung zugute zu kommen. Wir wollen keine Investitionen mehr, die uns arm machen. Wir wollen Investitionen, die uns helfen, die Armut zu überwinden. Am Anfang hat das zu Spannungen geführt. Doch inzwischen haben alle multinationalen Unternehmen neue Verträge ausgehandelt und sind im Land geblieben.

Was bedeuten die neuen Regelungen für die Unternehmen, die in Bolivien tätig sind?

Für die Unternehmen sind die neuen Regelugen mit höheren Abgaben verbunden. Aber die Nationalisierung ist nicht gegen die Unternehmen gerichtet, sie erlaubt ihnen sogar weiter, Gewinne zu machen. Zudem wird ihnen Rechtssicherheit gewährt. Das ist neu. Unter den vorherigen Regierungen waren die Förderverträge geheim. Sie wurden nicht – wir es die Verfassung vorschreibt – vom Parlament bestätigt. Das haben wir geändert. Die neuen Verträge sind transparent, und der bolivianische Kongress hat ihnen zugestimmt.

Zu den größten Investoren in Bolivien gehört Petrobras, der staatliche Ölkonzern Brasiliens. Haben die Verstaatlichungen zu Spannungen mit dem Nachbarland geführt?

Zuerst war Petrobras wie andere Unternehmen mit den neuen Bedingungen nicht einverstanden. Inzwischen hat sich geändert. Beim letzten Gipfel zwischen beiden Ländern im Dezember, dem Besuch des brasilianischen Präsenten Inácio »Lula« da Silva in der bolivianischen Hauptstadt La Paz, war auch der Präsident von Petrobras dabei. Er hat seine Meinung gewandelt und kündigte bedeutende Neuinvestitionen an: Zwischen 750 Millionen und einer Milliarde US-Dollar will der Konzern ausgeben, um die Gasförderung in Bolivien zu steigern. Mit diesen Investitionen – auch das haben wir vereinbart – muss zuallererst die Versorgung unseres Binnenmarkts garantiert werden. Immer noch sind viele Bolivianer nicht ans Gasnetz angeschlossen. Dann müssen wir die bestehenden Lieferverträge mit Argentinien und Brasilien erfüllen. Und als weiteres Ziel wollen wir in die Etappe der industriellen Weiterverarbeitung dieser Rohstoffe eintreten. Wir werden in Bolivien eine petrochemische Industrie errichten.
Die Industrialisierung wäre auch ein Weg, aus der Abhängigkeit von ausländischen Hilfszahlungen und den schwankenden Rohstoffpreisen herauszukommen. Aber die meisten Projekte, wie die Erschließung neuer Gasfelder und die Weiterverarbeitung der Rohstoffe, befinden sich immer noch im Planungsstadium.
Es gibt viele Firmen aus aller Welt, die gespannt auf Bolivien schauen: Wir sind eines der rohstoffreichsten Länder. Und wir benötigen Investitionen und Technologie, um uns zu entwickeln. Doch zuerst brauchen wir neue Spielregeln – wie sie in der neuen Verfassung festgeschrieben sind. Die alten Verträge waren nicht darauf angelegt, dass wir die Rohstoffe im Land selbst verarbeiten können, sondern es ging nur darum, sie möglichst schnell und billig auszuführen. Wir brauchen Garantien, die verhindern, dass es wieder zu Korruption kommt wie in den vergangenen Jahren: Wir brauchen Investitionen mit Transparenz. In den kommenden fünf Jahren wird zum Beispiel der indische Konzern Jindal Steel umgerechnet 1,5 Milliarden Euro in die Ausbeutung des Eisenerzlagers El Mutún an der bolivianisch-brasilianischen Grenze stecken. Doch das Erz wird dort nicht nur abgebaut, Jindal Steel wird über eine Tochterfirma auch selbst Stahl in Bolivien herstellen. So werden insgesamt 30.000 neue Jobs entstehen.

Auch außenpolitisch hat die Regierung Morales einen neuen Kurs eingeschlagen. Bisher suchten bolivianische Präsidenten oft die Nähe der USA. Jetzt sucht Bolivien seine Bündnispartner vor allem in Lateinamerika und in Europa.
Wir hatten keine normalen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu den USA. Wir standen in einer Beziehung der Abhängigkeit zu ihnen. Doch jetzt wollen wir ein gleichberechtigtes Verhältnis wie es sich für souveräne Staaten gehört. Die USA haben nach anfänglichen Spannungen verstanden, dass sich die bolivianische Außenpolitik verändert hat. Wir sind zwar weiter an guten Beziehungen interessiert, doch sie müssen jetzt unter anderen Vorzeichen gestaltet werden.

An welchen Bündnissen ist Bolivien zur Zeit beteiligt?

Bolivien ist Mitglied mehrerer Bündnisse: der Andengemeinschaft CAN, der Union Südamerikanischer Staaten UNASUR, außerdem wollen wir dem Gemeinsamen Markt des Südens (Mercosur) beitreten. Doch eines der wichtigsten und fortschrittlichsten Bündnisse ist für uns die Bolivarianische Alternative die Amerikas ALBA. Zusammen mit Venezuela, Kuba und Nicaragua wollen wir nicht nur Wirtschaftsprojekte verwirklichen, sondern uns auch politisch integrieren. Es gibt ideologische Übereinstimmungen. ALBA fördert ein harmonisches Leben unter den Menschen und zwischen den verschiedenen Gemeinschaften mit besonderer Rücksicht auf die Umwelt.

Derzeit verhandelt Bolivien über ein Assoziierungsabkommen zwischen der Andengemeinschaft und der Europäischen Gemeinschaft. Was erwartet Bolivien von einem Vertrag mit der Europäischen Union?

Es kommt uns in den Verhandlungen mit der EU darauf an, daß der Assoziierungsvertrag die bestehenden Asymmetrien zwischen den Ländern anerkennt und ihnen Rechnung trägt – damit wir sie überwinden. Die deutsche Regierung könnte uns helfen, indem sie uns in diesem Anliegen unterstützt. Wir haben durchgesetzt, dass die Länder der Andengemeinschaft in den Verhandlungen nicht als ein einheitlicher Block behandelt werden, sondern dass ihre Besonderheiten gesehen werden. Eine spezielle Arbeitsgruppe beschäftigt sich nun mit diesen Asymmetrien. Denn wir haben weder die gleiche Wirtschaftsleistung und Entwicklungsgeschichte noch verfolgen wir alle das gleiche ökonomische Modell.

Mit dem Nachbarn Chile bestehen seit 1978 keine offiziellen diplomatischen Beziehungen. Bolivien beansprucht den im Salpeterkrieg verlorenen Zugang zum Meer. In der neuen Verfassung gibt es einen entsprechend Passus, der diesen Anspruch erneut bekräftigt. Wird es bald einen bolivianischen Pazifikhafen geben?

Es gab in den vergangenen zwei Jahren eine Reihe von Besuchen. Die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet war zuletzt Mitte Dezember in La Paz. Durch diese Treffen haben sich unsere beiden Länder angenähert. Bei Bachelets Besuch gab es eine Agenda mit 13 Punkten, die kein Thema ausschloss, auch nicht den Meerzugang. Beide Regierungen haben ihr Interesse bekundet, eine friedliche Lösung des historischen Anspruchs Boliviens zu erreichen. Für Bolivien ist der Meerzugang eine Frage der nationalen Souveränität. Wir sind zum ersten Mal in der Geschichte wieder soweit, dass wir direkt, bilateral verhandeln. Aber es gibt noch viel zu tun. Derzeit arbeiten wir daran, das gegenseitige Vertrauen zu stärken. Wir fördern den Austausch und die Begegnung zwischen Repräsentanten beider Streitkräfte, zwischen Abgeordneten, Journalisten, Künstlern und Studenten. Zudem intensivieren wir die Wirtschaftsbeziehungen und reden über die Wiedereröffnung einer Eisenbahnlinie sowie einen Korridor für Waren, der von Brasilien über Bolivien nach Chile führen soll.

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