Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit
Ist das Modell Chile reformierbar?
“Modernisierungserfolge”
Die Diktatur leitete einen Prozeß der Modernisierung der Außenwirtschaft und Diversifizierung der Abnehmermärkte ein, der von der demokratisch legitimierten Regierung Aylwin fortgesetzt wurde. Die Inflationsrate konnte seit 1990 kontinuierlich gesenkt werden. Wer an andere lateinamerikanische Staaten denkt, die nach wie vor mit extremem Geldwertverfall zu kämpfen haben, wird diesen Erfolg und seine sozialen Konsequenzen nicht unterschätzen dürfen. Als eine der bedeutenden Früchte der Anpassungspolitik wird zudem das Schrumpfen des aufgeblähten Staatsapparates angesehen.
Römpczyk weist jedoch darauf hin, daß trotz der Diversifizierung etwa bei agrarischen Exportprodukten nach wie vor etwa 50Prozent der Deviseneinnahmen des Landes aus der Kupferproduktion kommen. Dagegen stellt Chile nur 9Prozent seiner Investitionsgüter selbst her. Neben Kupfer stützen sich die Exporterlöse vor allem auf Obst, Holz und Fischmehl. Gerade in diesen dynamischen und einträglichen Sektoren entstehen jedoch auch die höchsten ökologischen Kosten. Zudem wird hier die allgemein wachsende Kapitalkonzentration am deutlichsten sichtbar. Die Schrumpfung des Staatsapparates hat zur Erhöhung der Erwerbslosigkeit auf 15 Prozent beigetragen. Und die lange ersehnten und inzwischen steigenden Auslandsinvestitionen beruhen bisher zu einem Großteil auf Unternehmenskäufen.
Akzeptanz auch in der Linken
Was viele ChilebesucherInnen und insbesondere aus dem Exil heimkehrende ChilenInnen überrascht, ist die weitgehende Akzeptanz, auf die das Wirtschaftsmodell im Land selbst stößt. Bis weit hinein in die Linke sieht man keine Alternative zum herrschenden Entwicklungsmodell. Die “Modernisierungserfolge”, wie sie der Autor selbst nennt, scheinen zu blenden. Oder sind nach langen Jahren der politischen Verfolgung, Korruption und Inflation nun Zeiten gekommen, in denen man froh sein muß über Wachstumsraten und die Tatsache, zumindest einige ökonomische Früchte ernten zu können? Muß man sich nicht gar über die innenpolitische Stabilität und angesichts der immer noch starken gesellschaftlichen Stellung der Streitkräfte über das Gelingen des demokratischen Übergangs freuen? Die Mehrheit der chilenischen Linken definiert die aktuelle Situation als eine des Übergangs (“transición”). Von manchen wird das momentane Fehlen eines alternativen Politikmodells zumindest offen zugegeben. Mit Eintritt in die Regierungsverantwortung haben, so stellt Römpczyk kritisch fest, Politiker der sozialistischen Partei zunehmend den Kontakt zu Nicht-Regierungs-Organisationen verloren, aus denen sie selbst einmal hervorgegangen sind.
Hohe Umwelt- und Sozialkosten
Im Zentrum der Veröffentlichung steht die Untersuchung zweier Politikfelder: der Umwelt- und Sozialpolitik. Bedeutender Indikator für die sozialen Verhältnisse ist zunächst die Einkommensverteilung. Im heutigen Chile verfügen 25Prozent der Bevölkerung über 75Prozent der Einkommen, während umgekehrt weitere 25Prozent der Bevölkerung über nur 5Prozent der Einkommen verfügen. Die Schere zwischen arm und reich hat sich weiter geöffnet. Die Verantwortung für die öffentlichen Schulen ist den Kommunen zugewiesen worden, gleichzeitig stehen diesen jedoch nicht die nötigen Mittel zur Verfügung. Mehr denn je schickt, wer es sich leisten kann, seine Kinder auf Privatschulen. Außer für die Zöglinge des gutverdienenden Bevölkerungsviertels muß von einem Bildungsnotstand gesprochen werden. Zudem stellt Römpczyk fest, daß die berufliche Bildung nicht auf die Modernisierungserfordernisse abgestimmt sei.
Besonderer Sprengstoff liegt in der Neuregelung des Gesundheitssektors. Auch hier wurde die Verantwortung auf die Kommunen abgewälzt. Sie sollen für die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung aufkommen, dabei reichen die Mittel vorne und hinten nicht. Die staatliche Sozialversicherung wurde privatisiert. Die eingezahlten Beiträge werden von wenigen großen Versicherungsgesellschaften kontrolliert, die wie Banken damit wirtschaften und spekulieren. Die spätere Rente eines Versicherungsnehmers ist damit von den wirtschaftlichen Entscheidungen weniger privater Versicherungsunternehmen abhängig geworden. Für die Angehörigen der Streitkräfte und der Polizei allerdings blieb das öffentliche Versicherungssystem bestehen. Insgesamt ist heute der reale Anteil der Arbeitnehmer mit Versorgungsansprüchen an die privaten Rentenversicherungsträger niedriger als 1980 der bei den staatlichen Pensionskassen.
Im umweltpolitischen Bereich wird zwar inzwischen eine umfangreichere Gesetzgebung entwickelt, einleitend stellt Römpczyk jedoch fest, daß über so zentrale Bereiche wie die wachsenden Umweltkosten in Chile keine öffentliche Diskussion stattfindet. Zwar wurde die Institutionalisierung der Umweltpolitik mit der Gründung der Nationalen Umweltkommission CONAMA 1990 eingeleitet, die entscheidenden Kompetenzen blieben jedoch sehr zersplittert auf verschiedene Ministerien verteilt. Von der neugewählten Regierung Frei ist nicht zu erwarten, daß ein Umweltministerium eingerichtet wird. Ein Umweltrahmengesetz wird seit Anfang 1993 im Kongreß beraten. Zwar wird damit der Versuch gemacht, die umweltrechtlichen Bestimmungen zu bündeln und die Umweltpolitik konsistenter zu gestalten. Römpczyk kritisiert jedoch die Konzentration auf den nachsorgenden Umweltschutz und das Fehlen politischer Steuerungsinstrumente. Eine Analyse der größten Herausforderungen für die chilenische Umweltpolitik läßt dagegen die gewaltigen Probleme erkennen, denen sich die chilenische Politik gegenübersieht: Überfischung, Überforstung, industrielle Verschmutzung, Umweltzerstörung durch die modernen Agroindustrien, eine “verkrüppelte” Energiepolitik, Umweltschäden durch die Kupferproduktion, Fehlnutzung von Wasser sowie die Zerstörung kultureller Lebensräume und der Indianerkulturen – die hier aufgelisteten Problembereiche sind hinreichend Beleg für die geringe Dauerhaftigkeit und fehlende Nachhaltigkeit des chilenischen Wirtschaftsmodells.
“Chance als Modelland besteht”
So Römpczyks These schon zu Beginn des Buches. Dazu müsse der Staat allerdings in Zukunft eine aktivere Rolle einnehmen. Ihm müsse die Außensteuerung der nationalen Wirtschaft zugestanden werden. Eine zweite Exportphase müsse eingeleitet werden, die auf den Export weiterverarbeiteter Produkte setze. Die natürlichen und menschlichen Ressourcen müßten dazu in Zukunft anders genutzt werden.
Bezugnehmend auf die neue Linie der CEPAL (UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika) steht für Römpczyk die “wirtschaftliche Entwicklung mit sozialer Gerechtigkeit” auf der Tagesordnung. Zum Leitbild wird ein “Kapitalismus des XXI. Jahrhunderts” jenseits eines rein neoliberalen Konzepts bedingungsloser Öffnung zum Weltmarkt, wie es die Diktatur lange betrieben hatte. Die Freie Marktwirtschaft dürfe nicht Ziel, sondern solle zum gestaltenden Instrument werden, mahnt der Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung die politische Klasse Chiles.
Ansätze zum Erreichen eines “sozial und ökologisch balancierten Kapitalismus” sieht Römpczyk in der wachsenden politischen Autonomie der Gemeinden und dem Aufbau eines nationalen Kommunalverbandes, der zunehmenden Politisierung und Modernisierung der Gewerkschaftspolitik, der Modernisierung der Berufsbildung, einer an Nachhaltigkeit orientierten Entwicklungspolitik sowie einer gestärkten Zivilgesellschaft und professionalisierten NGO-Arbeit. Als ein gutes Zeichen für das politische Klima sei die Tatsache zu werten, daß der Christdemokrat Frei einen entideologisierten Wahlkampf geführt habe und zu erwarten sei, daß die Linke das Regierungsbündnis mittelfristig mittragen werde. Offensichtlich erwartet sich Römpczyk von der Regierung Frei einen pragmatischen Kurs und die Fähigkeit zur sozialen Reformpolitik.
Trotz der zuvor konstatierten konservativen Grundströmung in der chilenischen Politik, des nach wie vor konfliktiven Verhältnisses zwischen Streitkräften und Zivilgesellschaft, der bisherigen Alternativlosigkeit der Linken und der Demobilisierung der sozialen Bewegungen setzt Römpczyk auf die Reformfähigkeit des chilenischen Modells. Überraschend erscheint daher im nachhinein, daß der Titel des Buches nicht mit einem Fragezeichen beendet wurde. Zu optimistisch erscheint die abschließende Bewertung, daß die tönernen Füße des “Modells Chile” gegen einen “soliden Unterbau aus Sozialverträglichkeit und Umweltverträglichkeit” eingetauscht werden könnten. Zweifel an der Umsetzung einer ökologischen und sozialen Reformpolitik und ihrer Durchsetzungsfähigkeit gegen bestehende Interessen scheinen dagegen allzu berechtigt. Und: Wie lange würde ein sozial und ökologisch reformiertes Exportmodell bei den bestehenden Weltmarktstrukturen wohl konkurrenzfähig sein?
Elmar Römpczyk: Chile – Modell auf Ton, Horlemann Verlag, Unkel/Rhein und Bad Honnef 1994, ISBN 3-927905-88-7.