NAFTA-Fieber
Überschwengliche Reaktion auf die geplante Süderweiterung.
Die Integration des Musterlandes des Kontinents, das sich in den vergangenen Jahren durch wirtschaftliche Stabilität und steigende Wachstumsraten hervorgetan hatte, soll nach dem Willen der Präsidenten der bisherigen Mitgliedsstaaten USA, Kanada und Mexiko die Süderweiterung der Freihandelszone einleiten, die bis zum Jahr 2005 den gesamten Kontinent umfassen soll. Die Verhandlungen mit Chile sollen Mitte 1996 abgeschlossen sein.
APEC und NAFTA und MERCOSUR und …
Die chilenische Geschäftswelt ist von den Signalen aus Miami vom Anfang Dezember ebenso hellauf begeistert wie die Regierung. Präsident Eduardo Frei sprach von “einem historischen und entscheidenden Augenblick”, der allerdings auch ein großes Risiko mit sich bringe. “Wir machen einen enormen Schritt vorwärts und brauchen dazu die Unterstützung des ganzen Landes.” Nur gut drei Wochen zuvor war der Beitritt zur pazifischen Handelsgemeinschaft APEC unter Dach und Fach gebracht worden, wodurch sich Chile eine Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen zu Japan und den eigentlichen “Tigern” in Südostasien erhofft. Um eventuellen Zweifeln der Nachbarländer vorzubeugen, beeilte sich Außenminister José Miguel Insulza zu versichern, “die Verhandlungen mit der NAFTA stehen der Annäherung an den MERCOSUR nicht im Wege”. Das Interesse an der südamerikanischen Wirtschaftsunion (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay) wurde nicht zuletzt durch die Teilnahme hochrangiger chilenischer Regierungsvertreter am konstituierenden MERCOSUR-Treffen im brasilianischen Ouro Preto bekräftigt.
Nun stehen auch die Türen zu den traditionellen Partnern im Norden weiter offen denn je. Bereits in der Vergangenheit wickelte Chile immerhin 18 Prozent der Exporte und 23 Prozent der Importe allein mit den USA ab.
Erwartet werden jetzt ein deutlicher Anstieg der Auslandsinvestitionen in Chile – 50 Prozent der bisherigen Investitionen stammen bereits aus den drei NAFTA-Staaten – sowie des Warenaustausches mit den Partnerstaaten im Norden. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen der drei NAFTA-Staaten werden bereits in den ersten Monaten nach dem Beitritt Steigerungen von 20 bzw. 25 Prozent erwartet. Es erscheint aber sehr fragwürdig, ob sich die in den USA beobachtete positive Auswirkung der NAFTA auf den Arbeitsmarkt, wo seit Anfang dieses Jahres 130.000 Stellen neu geschaffen wurden, auf Chile übertragen läßt. Der chilenische Gewerkschaftsverband CUT befürchtet für Chile die gegenteilige Wirkung. Ihr Vizepräsident Arturo Martíriez geht davon aus, daß in den ersten beiden Jahren nach dem Beitritt mehr als 10.000 Arbeitsplätze verloren gehen, vergleichbar mit der sich in Mexiko abzeichnenden Entwicklung.
Nord-Süd-Gefälle außerhalb wie innerhalb Chiles
Ein entscheidender Grund für die gegenläufigen Tendenzen in den bisherigen drei und bald vier NAFTA-Ländern liegt in den grundverschiedenen Ausgangsbedingungen. Das jahrhundertalte Nord-Süd-Gefälle ist auch durch das Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre nicht überwunden. Ein Vergleich des Pro-Kopf-Einkommens ist überaus aufschlußreich: In den USA und in Kanada liegt es bei 20.000, in Mexiko dagegen nur bei 2.700 US-Dollar. Mit 3.300 US-Dollar pro EinwohnerIn wird auch Chile nicht über die Rolle eines Junior-Partners hinauskommen.
Das spüren auch diejenigen, die wahrscheinlich am heftigsten vom NAFTA-Beitritt betroffen sein werden: Viele chilenische Landwirte wittern Konkurrenz aus dem hochtechnisierten Norden und dem Billiglohnland Mexiko. Gerade die mittleren und kleinen ProduzentInnen im Süden des Landes sehen ihre inländischen Absatzmärkte in Gefahr. Während in Zentral- und in Nordchile in den vergangenen Jahren gerade in der Agrarwirtschaft diversifiziert wurde, ist das an ihnen im Süden weitgehend vorbeigegangen. Jetzt schickt Chile sich erneut an, zum Musterschüler der EntwicklungsstrategInnen zu werden, indem es – obwohl auf der südlichen Halbkugel gelegen – das Nord-Süd-Gefälle kopiert. Nach einer Untersuchung der Agrarwissenschaftlerin Eugenia Muschnik von der Katholischen Universität in Santiago werden durch den NAFTA-Beitritt knapp 2.800 Arbeitsplätze in der Landwirtschaft entstehen. Neue Beschäftigungsmöglichkeiten wird es aber ausschließlich in den nördlichen Landesteilen in der Landwirtschaft (Wein und andere Obstsorten, Tabak, Spargel, Geflügel) und in der ebenfalls dort ansässigen Agroindustrie (Fruchtsaft, Obstkonserven, Rosinen, Tomatenmark) geben. In der überwiegend im mittleren Süden angesiedelten traditionellen Landwirtschaft gehen gleichzeitig 7.700 Arbeitsplätze verloren.
Frei zeigt sich undiplomatisch
Widerstand kommt deshalb vor allem von den LandwirtInnen im herkömmlich fruchtbaren Teil des Landes, das südlich der Hauptstadt Santiago beginnt und sich über mehr als 800 Kilometer erstreckt. Ende Dezember machten sie ihre Streikandrohung wahr und blockierten nach dem Vorbild der französischen Bauern und Bäuerinnen für mehrere Stunden die Panamericana im Süden des Landes.
Die Frei-Regierung, die sich durch ein eher technokratisches Management der Wirtschaftspolitik auszeichnet, hat bisher wenig diplomatisches Geschick im Umgang mit denen gezeigt, die Widerstand gegen ihre ausschließlich marktorientierte Politik leisten. Der in allen Medien bejubelte NAFTA-Beitritt vertiefte den Graben zwischen Regierung und ArbeiterInnen weiter.
Als wesentlichen Faktor der negativen Auswirkungen auf die ArbeitnehmerInnen bekämpft die CUT in erster Linie das chilenische Arbeitsgesetz. Fünf Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur sind nämlich weiterhin wichtige Passagen des pinochetistischen Plan Laboral in Kraft, der unter anderem kaum Kündigungsschutz bietet und keine Tarifverhandlungen auf überbetrieblicher Ebene zuläßt.
Der sozialistisch-sozialdemokratische Arbeitsminister Jorge Arrate versuchte, dem seit Wochen schwelenden Konflikt die Schärfe zu nehmen, indem er noch für Januar die Vorlage von Gesetzesentwürfen zur Änderung des Arbeitsrechts versprach. Ob er damit die chilenischen ArbeitnehmerInnen im Hinblick auf den NAFTA-Beitritt beruhigen kann, ist eher zweifelhaft. Die Erinnerungen an die letzte große Weltmarktöffnung Anfang der 80er Jahre unter der Pinochet-Diktatur sind für Manuel Bustos und viele seiner KollegInnen noch allzu gut in Erinnerung, als daß die Gewerkschaftsbewegung nun den NAFTA-Beitritt begrüßen könnte. Damals brachen ganze Industriezweige zusammen, die Arbeitslosigkeit schnellte auf über 30 Prozent.
Deshalb fordern die Gewerkschaften soziale und arbeitsrechtliche Bestimmungen als integrativen Bestandteil des NAFTA-Vertrages, ähnlich wie im EG-Vertrag verankert (siehe nebenstehendes Interview). Derartiges fehlt nämlich bisher, und weder die chilenischen UnternehmerInnen noch die US-Administration haben Interesse daran, sich diesbezüglich festlegen zu lassen.