Chile | Nummer 248 - Februar 1995

NAFTA-Fieber

Überschwengliche Reaktion auf die geplante Süderweiterung.

Auf dem panameri­kanischen Präsiden­ten­gipfel in Miami wurde endlich amtlich, wo­rauf die ChilenInnen so lange gewartet hatten: Die Mitglieder der nord­amerikani­schen Frei­handelszone NAFTA werden Bei­trittsverhandlungen mit Chile aufneh­men. Damit hat das Land, das sich selbst mit wachsender Begeisterung als “Tiger” Süd­amerikas betrachtet, endlich die inter­nationale Anerkennung er­halten, von der Regierung und Geschäftswelt seit Jahren träumen. GewerkschafterInnen sowie Bauern und Bäuerin­nen befürchten dagegen, daß sich durch NAFTA die soziale Kluft innerhalb Chiles weiter vertieft.

Jens Holst

Die Integration des Muster­landes des Kontinents, das sich in den vergangenen Jahren durch wirtschaft­liche Stabilität und steigende Wachstums­raten hervorgetan hatte, soll nach dem Willen der Präsiden­ten der bisherigen Mitgliedsstaaten USA, Kanada und Me­xi­ko die Süderweiterung der Frei­handels­zone einleiten, die bis zum Jahr 2005 den ge­samten Kontinent um­fas­sen soll. Die Ver­hand­lungen mit Chile sollen Mitte 1996 abgeschlossen sein.
APEC und NAFTA und MERCOSUR und …
Die chilenische Ge­schäftswelt ist von den Signalen aus Miami vom Anfang De­zember ebenso hellauf begeistert wie die Regierung. Präsident Eduardo Frei sprach von “einem historischen und entscheiden­den Augen­blick”, der allerdings auch ein großes Risiko mit sich bringe. “Wir ma­chen einen enormen Schritt vorwärts und brauchen dazu die Unterstützung des gan­zen Landes.” Nur gut drei Wochen zuvor war der Beitritt zur pazifischen Handels­gemeinschaft APEC unter Dach und Fach gebracht worden, wodurch sich Chile eine Ver­besserung der Wirt­schaftsbeziehungen zu Japan und den eigentlichen “Tigern” in Südostasien erhofft. Um eventuellen Zweifeln der Nachbarländer vorzubeugen, beeilte sich Außenminister José Miguel Insulza zu versichern, “die Verhandlungen mit der NAFTA stehen der Annäherung an den MERCOSUR nicht im Wege”. Das Interesse an der süd­amerikanischen Wirt­schafts­union (Argenti­nien, Brasilien, Pa­raguay, Uruguay) wurde nicht zuletzt durch die Teilnahme hochrangiger chile­nischer Regierungs­vertreter am konstituie­renden MERCOSUR-Treffen im brasilia­nischen Ouro Preto bekräftigt.
Nun stehen auch die Türen zu den tra­ditionellen Partnern im Norden weiter of­fen denn je. Bereits in der Vergangenheit wickelte Chile immerhin 18 Prozent der Exporte und 23 Prozent der Importe allein mit den USA ab.
Erwartet werden jetzt ein deutlicher Anstieg der Auslandsinvestitionen in Chile – 50 Prozent der bisherigen Investi­tionen stammen bereits aus den drei NAFTA-Staaten – sowie des Warenaus­tausches mit den Partnerstaaten im Nor­den. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen der drei NAFTA-Staaten werden bereits in den ersten Monaten nach dem Beitritt Steigerungen von 20 bzw. 25 Prozent er­wartet. Es erscheint aber sehr fragwürdig, ob sich die in den USA beobachtete posi­tive Auswirkung der NAFTA auf den Ar­beitsmarkt, wo seit Anfang dieses Jahres 130.000 Stellen neu geschaffen wurden, auf Chile übertragen läßt. Der chilenische Gewerkschaftsverband CUT befürchtet für Chile die gegenteilige Wirkung. Ihr Vizepräsident Arturo Martíriez geht davon aus, daß in den ersten beiden Jahren nach dem Beitritt mehr als 10.000 Arbeitsplätze verloren gehen, vergleichbar mit der sich in Mexiko abzeichnenden Entwicklung.
Nord-Süd-Gefälle außerhalb wie innerhalb Chiles
Ein entscheidender Grund für die ge­gen­läufigen Tendenzen in den bisherigen drei und bald vier NAFTA-Ländern liegt in den grundverschiedenen Ausgangsbe­dingungen. Das jahrhundertalte Nord-Süd-Gefäl­le ist auch durch das Wirtschafts­wachstum der vergangenen Jahre nicht überwunden. Ein Vergleich des Pro-Kopf-Einkommens ist überaus aufschlußreich: In den USA und in Kanada liegt es bei 20.000, in Mexiko dagegen nur bei 2.700 US-Dollar. Mit 3.300 US-Dollar pro Ein­wohnerIn wird auch Chile nicht über die Rolle eines Junior-Partners hinauskom­men.
Das spüren auch diejenigen, die wahr­scheinlich am heftig­sten vom NAFTA-Beitritt betroffen sein werden: Viele chi­lenische Landwirte wittern Kon­kurrenz aus dem hoch­technisierten Nor­den und dem Billiglohnland Mexiko. Ge­rade die mittleren und kleinen Produzen­t­Innen im Süden des Landes sehen ihre in­ländischen Absatz­märkte in Gefahr. Während in Zen­tral- und in Nordchile in den vergan­genen Jahren gerade in der Agrarwirt­schaft di­versifiziert wurde, ist das an ih­nen im Sü­den weitgehend vorbei­gegangen. Jetzt schickt Chile sich erneut an, zum Muster­schüler der Ent­wick­lungs­strategInnen zu wer­den, indem es – ob­wohl auf der süd­lichen Halbkugel gelegen – das Nord-Süd-Gefälle kopiert. Nach ei­ner Untersuchung der Agrarwis­sen­schaft­lerin Eugenia Muschnik von der Katho­lischen Uni­ver­si­tät in Santiago wer­den durch den NAFTA-Beitritt knapp 2.800 Arbeits­plätze in der Landwirtschaft ent­stehen. Neue Be­schäftigungs­mög­lich­kei­ten wird es aber ausschließlich in den nörd­lichen Lan­desteilen in der Landwirt­schaft (Wein und andere Obstsorten, Ta­bak, Spargel, Ge­flügel) und in der eben­falls dort ansässigen Agroindustrie (Fruchtsaft, Obst­kon­serven, Rosinen, To­ma­tenmark) geben. In der über­wiegend im mittleren Süden angesiedelten tra­ditio­nellen Land­wirt­schaft gehen gleich­zeitig 7.700 Ar­beitsplätze ver­loren.
Frei zeigt sich undiplomatisch
Widerstand kommt deshalb vor allem von den Land­wirtInnen im herkömmlich fruchtbaren Teil des Landes, das süd­lich der Hauptstadt Santiago beginnt und sich über mehr als 800 Kilometer erstreckt. En­de Dezember machten sie ihre Streik­an­drohung wahr und blockierten nach dem Vorbild der französischen Bau­ern und Bäuerinnen für mehrere Stunden die Pa­namericana im Süden des Landes.
Die Frei-Regierung, die sich durch ein eher technokratisches Manage­ment der Wirt­schafts­politik auszeichnet, hat bisher wenig diploma­tisches Geschick im Um­gang mit denen gezeigt, die Widerstand ge­gen ihre ausschließlich markt­orientierte Politik leisten. Der in allen Medien beju­belte NAFTA-Beitritt vertiefte den Gra­ben zwischen Regierung und ArbeiterIn­nen weiter.
Als wesentlichen Faktor der negativen Aus­wirkungen auf die ArbeitnehmerInnen bekämpft die CUT in erster Linie das chi­lenische Arbeitsgesetz. Fünf Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur sind nämlich weiter­hin wichtige Passagen des pinoche­tistischen Plan Laboral in Kraft, der unter anderem kaum Kündigungsschutz bietet und keine Tarif­verhand­lungen auf überbetrieb­licher Ebene zuläßt.
Der sozialistisch-sozialdemokratische Arbeits­minister Jorge Arrate versuchte, dem seit Wochen schwelenden Kon­flikt die Schärfe zu nehmen, indem er noch für Ja­nuar die Vorlage von Gesetzes­ent­würfen zur Änderung des Ar­beits­rechts ver­sprach. Ob er damit die chilenischen ArbeitnehmerInnen im Hin­blick auf den NAFTA-Beitritt beruhigen kann, ist eher zweifel­haft. Die Erinnerun­gen an die letzte große Weltmarkt­öffnung Anfang der 80er Jahre unter der Pinochet-Diktatur sind für Manuel Bustos und viele seiner Kolleg­Innen noch allzu gut in Erin­nerung, als daß die Gewerkschaftsbewegung nun den NAFTA-Beitritt begrüßen könnte. Damals brachen ganze Industrie­zweige zu­sammen, die Arbeitslosigkeit schnellte auf über 30 Prozent.
Deshalb fordern die Gewerk­schaften soziale und arbeits­recht­liche Bestimmun­gen als integrativen Bestand­teil des NAFTA-Vertrages, ähn­lich wie im EG-Vertrag verankert (siehe neben­stehendes Interview). Derartiges fehlt nämlich bis­her, und weder die chile­nischen Unter­nehmerInnen noch die US-Administration haben Interesse daran, sich diesbezüglich festlegen zu lassen.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren