Bolivien | Nummer 507/508 - Sept./Okt. 2016

NEOLIBERALE KOOPERATIVEN

KONFLIKT ZWISCHEN BERGBAUKOOPERATIVEN UND REGIERUNG FORDERT TOTE

Der Bergbausektor in Bolivien ist umkämpft. Das wird zurzeit bei dem Konflikt um die gesetzliche Neuregelung der Belange der Kooperativen deutlich. Es sind unruhige Zeiten, spätestens nach dem Mord von Demonstrant*innen am Vize-Innenminister. Eine Bergarbeiter*innenelite und ihr Kampf um Privilegien.

Von Evelyn Linde & Fabian Grieger

Es war der traurige Höhepunkt der bisherigen Auseinandersetzung, als der bolivianische Innenminister Carlos Romero am Abend des 25. Augusts vor die Fernsehbildschirme trat und verkündete, dass sein Vize Rodolfo Illanes von demonstrierenden Bergarbeiter*innen ermordet worden sei. Zuvor starben bereits zwei Protestierende, mutmaßlich durch Schüsse der Polizei. Illanes war aufgebrochen, um mit den aufgebrachten Demonstrant*innen zu reden. Diese nahmen ihn stattdessen als Geisel, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Nach einem weiteren Zusammenstoß zwischen Polizei und Bergarbeiter*innen wird Illanes tot aufgefunden: Todesumstände ungeklärt. Klar ist: Der Schlichtungsversuch ist grausam gescheitert, der Kon­flikt zwischen der Kooperativenvereinigung FENCOMIN und der Regierung feindseliger ist denn je.
Dabei wenden sich die Protestierenden gegen das modifizierte Bergbau- und Metallverarbeitungsgesetz, das am achten August im bolivianischen Parlament verabschiedet wurde. Es regelt die Belange der Kooperativen neu, die in Bolivien neben staatlichen und (transnationalen) privaten Unternehmen einen Großteil des Bergbaus ausmachen. Das neue Gesetz sieht vor, dass Kooperativen keine Verträge mit nationalen und ausländischen Investor*innen ohne die Zustimmung der Regierung unterzeichnen dürfen. Das soll verhindern, dass Kooperativen sich Territorien aneignen, die transnationalen Konzernen zu Gute kommen könnten. Außerdem schreibt es die Gründung von Gewerkschaften innerhalb der Kooperativen fest. Die FENCOMIN lehnt diese beiden Eckpunkte ab und fordert außerdem die Aufhebung von Umweltauflagen sowie ihre kostenlose Energieversorgung durch den Staat. Der inhaltliche Konflikt spiegelte sich in den vergangenen Wochen auf den Straßen in Blockaden von Autobahnen und mehreren Demonstrationen. Die Polizei unterband diese mehrfach gewalttätig, wobei auch Demonstranten ums Leben kamen.
Dass scheinbar gemeinschaftliche Kooperativen gegen das Recht zur gewerkschaftlichen Vereinigung Sturm laufen und darüber hinaus die Möglichkeit zur Privatisierung staatlichen Bergbaus und den Verkauf an ausländische Investor*innen fordern, scheint paradox. Erklärungen für den jetzigen Konflikt und seine Brisanz finden sich in der jüngsten Bergbaugeschichte des Landes.
Als sich sowohl ausländische Unternehmen als auch die staatliche COMIBOL in den 80er- und 90er Jahren weitestgehend aus den Minen des Landes zurückzogen, hatte das Massenentlassungen von Bergarbeiter*innen zu Folge. Diese zogen zu großen Teilen ins wärmere Chapare, um Koka anzubauen oder in die sich neu formierende Millionenstadt El Alto bei La Paz. Jene, die in den schrumpfenden Bergbaugebieten im Hochland blieben, gingen auch fortan unter Tage, um den Bergen die letzten Edelmetalle zu entziehen. Später erhielten sie vom Staat die nötigen Konzessionen und Schürfrechte; die sogenannten Kooperativen entstanden: Lose Zusammenschlüsse von Minenarbeiter*innen, die vor allem auf sich selbst gestellt waren. Gearbeitet wurde auf eigene Rechnung, ohne Regeln, ohne Sicherheitsstandards oder soziale Absicherungen. Je nach Mine konnte die Organisation verschieden aussehen. In den meisten entwickelte sich aber ein hierarchisch geprägtes System, von dem jene profitierten, die Metalladern für sich beanspruchen und fortan andere „Kumpel“ für sich arbeiten lassen konnten. Am unteren Ende der Rangordnung stehen Frauen und Kinder, die oft schwere Arbeiten zu schlechtesten Bedingungen verrichten. Wer es sich leisten konnte, wurde „Socio“ – „Gesellschafter“ in den Kooperativen, die sich im Verband FENCOMIN zusammenschlossen. Manche der Kooperativen blieben klein, während andere schnell wuchsen. Mit dem steigenden Zinnpreis wuchs auch der Einfluss der FENCOMIN und sie wurde zu einem wichtigen Akteur in Boliviens Bergbauindustrie, kaufte zunehmend weitere Minen auf und dehnte sich aus. Auch politisch – in Konkurrenz zur sozialistischen und einst mächtigen FSTMB, die vor allem die staatlich beschäftigten Minenarbeiter*innen vertritt und Teil des bolivianischen Gewerkschaftsdachverbandes COB ist.
Statt mit der FSTMB gingen Präsident Evo Morales und die Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS) vor der Wahl 2005 eine Allianz mit der FENCOMIN ein, die mittlerweile rund 10.000 Bergarbeiter*innen aus 900 Genossenschaften vertritt. Der neue Minister für Bergbau wurde Walter Villaroel, einer der Führer der FENCOMIN, und dementsprechend entwickelte sich die Bergbau-Politik der Folgejahre im Sinne der Kooperativen. In vielen Bereichen wie beim Arbeitnehmer*innenschutz wurden Ausnahmeregelungen bestätigt oder geschaffen. Ein Großteil der Bergarbeiter*innen der FENCOMIN musste unter viel schlechteren Bedingungen arbeiten als ihre Kolleg*innen bei den verbliebenen Betrieben der staatlichen Bergbaugesellschaft COMIBOL – und das ohne Gewerkschaftsrechte.
Als Evo Morales nach der Wiederwahl mit Guillermo Dalence einen Minister mit Nähe zum COB ernannte, kam es zum Bruch zwischen MAS und FENCOMIN. Aus dem Streit entwickelte sich ein anhaltender Machtkampf.
Mit den neuen Gesetzesregelungen versucht die MAS also nicht nur, die Ressourcen als Gemeineigentum zu retten und Arbeitnehmer*innenrechte durchzusetzen, sondern auch die Macht der Kooperativen zu schwächen. Es ist ein Kampf um die Kontrolle über die mineralischen Ressourcen, wobei nach wie vor transnationale Konzerne den größten Profit einstreichen. Während die MAS von der Allianz mit den Kooperativen profitierte, wurden die rechtlichen und ökonomischen Lücken zu Gunsten der Kooperativen jahrelang ignoriert. Schon 2008 zeigte das Dokumentations- und Informationszentrum Bolivien CEDIB auf, dass in den Kooperativen private Gewinne nicht nur auf Kosten prekärer und unsicherer Erwerbsarbeit, sondern zum Teil sogar auf nicht entlohnter Arbeit zur Schuldentilgung erwirtschaftet werden.
Bei den Protesten zwischen dem 23. und 25. August starben neben dem Vizeminister noch fünf Minenarbeiter aus Kooperativen. Angesichts der (Polizei-)Gewalt stellt sich die Frage, ob ein neues Niveau der Eskalation erreicht wurde. Oder rückt in diesem Fall nicht vielmehr Gewalt ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die es an Orten des Bergbaus bereits gibt? Dort kommt es nämlich immer wieder zu gewaltvollen Konflikten, vor allem wenn sich Personen dem Bergbau widersetzen. Die Aufarbeitung der aktuellen Todesfälle beschäftigt zurzeit die Regierung und die Kooperativen, von denen inzwischen zehn Mitglieder in Untersuchungshaft sind.
Für die MAS bietet sich die Möglichkeit, sich in diesem Konflikt wieder ihrer Kernklientel zuzuwenden und als Regierung der Ausgebeuteten zu agieren. Als starker Staat reagierte die Regierung in den Tagen nach dem Tod ihres stellvertretenden Ministers: Drei Tage Staatstrauer und die postwendende Festnahme von 15 Minenarbeiter*innen, die für den Tod von Illanes verantwortlich sein sollen. Gegen den FENCOMIN-Vorsitzenden Carlos Mamani ist Anklage erhoben worden. Was als Showdown der Auseinandersetzung inszeniert wird, könnte nun der Anstoß für neue Zusammenstöße zwischen Staat und FENCOMIN sein.

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