Nicaragua | Nummer 373/374 - Juli/August 2005

Neuwahlen als Ausweg

Die politische Krise in Nicaragua soll an den Urnen gelöst werden

Mitte Juni spitzte sich der Konflikt zwischen Regierung und Opposition so zu, dass die OAS intervenierte. Nun sollen Parlament und Staatspräsident neu gewählt werden. Es ist jedoch fraglich, ob damit die Krise in dem zentralamerikanischen Land gelöst und die lautstarke Forderung tausender DemonstrantInnen nach „Mehr Demokratie und einer Stärkung des Rechtsstaates“ gehört wird.

Jessica Zeller / LN

Nur über den Termin für Neuwahlen sind sie sich noch uneinig: Während der ehemalige Staatschef und Präsident der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN, Daniel Ortega, einen Termin im November bevorzugt, hält der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), José Miguel Insulza, erst Februar 2006 für realistisch.
Dabei erschien die Krise eine Woche zuvor noch als geradezu ausweglos: Der erste Vermittlungsversuch der OAS zwischen Regierung und Opposition war gescheitert, nach viertägigem Aufenthalt verließ Insulza am 19. Juni Nicaragua unverrichteter Dinge. Die Positionen des konservativen Präsidenten Enrique Bolaños und der Opposition unter Führung der zwei ehemaligen Präsidenten Daniel Ortega (FSLN) und Arnoldo Alemán (Liberal Konstitutionalistische Partei, PLC) standen unversöhnlicher denn je nebeneinander.

Recht auf jedermanns Seite

Sowohl Bolaños als auch seine zwei miteinander verbündeten Widersacher (siehe LN 371) sehen sich in ihrem seit Monaten andauernden Streit im Recht. Hintergrund ist, dass das nicaraguanische Parlament im Januar diesen Jahres eine Verfassungsreform beschlossen hat, die unter anderem vorsieht, führende Posten in öffentlichen Ämtern und Staatsbetrieben nicht mehr durch den Präsidenten, sondern durch das Parlament vergeben zu lassen. Auch bei der Erennung von MinisterInnen soll das Parlament grundsätzlich Mitspracherecht haben. Im Parlament haben FSLN und PLC eine klare Mehrheit. Faktisch bedeutet die Reform eine Schwächung der Macht des Präsidenten und eine Stärkung der von Ortega und Alemán kontrollierten Legislative. Präsident Bolaños lehnt diese Pläne als „Verstoß gegen grundsätzliche demokratische Prinzipien“ strikt ab und vermutet als eigentliches Ziel, ihn politisch zu isolieren. Was die einen also als „Demokratisierung“ anpreisen, um den autoritären Führungsstil des Präsidenten zu mindern, bezeichnet der Präsident als „Diktatur“. Und während sich Bolaños auf ein Urteil des Zentralamerikanischen Gerichtshofs (CCJ) beruft, der die Verfassungsänderungen im März als „inakzeptabel“ bezeichnet hatte, stützen sich Ortega und Alemán auf das Oberste Gericht von Nicaragua, das wiederum das Urteil der CCJ als „nicht anwendbar“ bezeichnet.
Die Allianz zwischen FSLN und „Arnoldistas“ wird auch von Teilen der FSLN selbst kritisiert. Diese werfen Ortega vor, sein Vorhaben, wieder Präsident zu werden, um jeden Preis durchsetzen zu wollen – ungeachtet seiner einstigen Ideale und politischen Überzeugungen und auf Kosten der breiten Bevölkerungsmehrheit.
Doch auch Bolaños kann nicht auf Unterstützung durch die Massen setzen. Seine Politik wird von großen Teilen der Bevölkerung und der sozialen Bewegungen scharf kritisiert. Er gilt als US-hörig und autoritär.
Die politische und institutionelle Krise Nicaraguas erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt, als das Parlament Anfang Juni sechs Führungspostitionen des Aufsichtsorgans für Öffentliche Dienste (SISEP) ernannte – eine von den „Pactistas“ neu gegründete Institution. Diese verschafft der Legislative die Kontrolle über sämtliche öffentliche Güter. Das Parlament benannte daraufhin neues Führungspersonal für die staatlichen Wasser-, Strom- und Kommunikationsunternehmen. Die alten – von Präsident Bolaños eingesetzten – Funktionäre wehren sich jedoch gegen ihre Absetzung und Bolaños selbst ordnete die Bewachung der Unternehmenssitze durch die Polizei an, um die neu ernannten Funktionäre daran zu hindern, ihre Arbeit aufzunehmen. Gleichzeitig erbat der Präsident die Entsendung einer Delegation der OAS, um zu vermitteln und einen „landesweiten Dialog“ zu fördern.
In dieser angespannten Lage traf OAS-Chef Insulza am 15. Juni in Managua ein. Für den kommenden Tag hatten verschiedenste soziale Organisationen, Jugendgruppen, Frauenorganisationen, religiösen Gruppierungen aber auch Unternehmerverbände zu einer Demonstration „Gegen den Pakt, gegen die Korruption, für die Demokratie und für die Stärkung des Rechtsstaates“ aufgerufen. Trotz des Versuchs der FSLN-Führung, die Kundgebung durch Gegenmobilisierung zu stören, marschierten am 16. Juni etwa 50.000 DemonstrantInnen durch die Straßen Managuas. In einer verblüffend vielfältigen Zusammensetzung demonstrierten BefürworterInnen neoliberaler Wirtschaftsmodelle und ultra-konservative PolitikerInnen gemeinsam mit linken Organisationen, SchülerInnen und vielen anderen durch die Straßen der Hauptstadt. Auch viele FSLN-Mitglieder waren darunter – unter ihnen auch Nicaraguas zurzeit beliebtester Politiker, der frühere Bürgermeister von Managua, Herty Lewites. Die teilnehmenden Organisationen hatten sich über tiefe politische Unterschiede hinweg zu einer gemeinsamen Demonstration entschieden. Dabei ging es ihnen nicht „nur“ darum, gegen den Pakt der „Caudillos“ zu demonstrieren. Sie übten auch lautstark Kritik an der fehlenden Verhandlungsbereitschaft von Präsident Bolaños und brachten ihre Besorgnis über die demokratische Ordnung des Landes zum Ausdruck.

Neuwahlen

Angesichts dieser Polarisierung und der drei Tage später vorerst als gescheitert angesehenen Vermittlungsversuche der OAS, war es um so überraschender, dass Bolaños am 21. Juni der Forderung Ortegas nach Neuwahlen nachkam. Obwohl die PLC noch keine Zustimmung signalisiert hat, gilt der Erfolg der nächsten Vermittlung der OAS, die Ende Juni wieder nach Nicaragua reist, damit als gesichert.
Es steht zu vermuten, dass die neue Haltung Ortegas und Bolaños´ weniger auf ihren demokratischen Überzeugungen beruht, als vielmehr in ihrem schlichten Wunsch nach persönlichem Machterhalt und Machtzuwachs begründet liegt.
Denn nicht nur angesichts der verfahrenen juristischen und institutionellen Situation, sondern auch im Hinblick auf die steigenden Proteste der nicaraguanischen Bevölkerung, bietet eine „Tabula Rasa“ in Form von Präsidentschafts- und Parlamentswahlen paradoxerweise einen Ausweg.
Die größten Chancen auf einen Wahlsieg hätte zurzeit Ortegas schärfster Kontrahent Herty Lewites, dem Ortega durch Parteiausschluss bereits die Möglichkeit einer FSLN-Kandidatur zum Präsidentschaftskandidaten untersagte (siehe LN 371). Dieser jedoch kämpft weiter darum, bei den nächsten Wahlen kandidieren zu dürfen. Um Lewites Kandidatur zu verhindern, heißt es sowohl für Bolaños als auch für Ortega, das Gesicht zu wahren und sich möglichst schnell zumindest als formale Demokraten unter Beweis zu stellen.
Einen Vorgeschmack darauf, wie das aussieht, bekam die kritische Öffentlichkeit schon am selben Tag, an dem die Pläne für Neuwahlen bekannt wurden, zu spüren: Das Büro der unabhängigen Zeitung „Trinchera“ wurde von der Polizei gestürmt und geschlossen. Die offizielle Begründung: fehlende Steuerzahlungen. Kein Zeichen für eine Stärkung der Demokratie.

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