Argentinien | Nummer 299 - Mai 1999

Noche triste

Mit Sitte und Anstand gegen die „Erregung öffentlichen Ärgernisses“

In Argentinien haben seit einigen Monaten wieder Sitte und Anstand Konjunktur – zumindest in den täglichen Schlagzeilen und TV-Talkshows. Seit Fernando De la Rua in Buenos Aires Bürgermeister sei, hetzt Präsident Carlos Menem, könne an jeder Straßenecke ungestraft Sex feilgeboten werden. Nun zieht De la Rua seinerseits gegen „das Leid, das den Anwohnern von Palermo auf offener Straße durch das skandalöse Benehmen der Transvestiten zugefügt wird“ zu Felde.

Ana Alvarez

Micaela war früh zur Arbeit gegangen. Es war Ende Juni, und die Kälte war schon zu spüren. Sie arbeitete als Prostituierte in der Nähe des Zentrums. Seit einigen Monaten war sie beim Aufbau einer Organisation für die Rechte von Transvestiten aktiv, die Polizei hatte sie schon eine Weile auf der Liste. Sie setzte sich nicht widerstandslos in den Streifenwagen, wenn sie abgeführt wurde, zahlte keine coima (Schutzgeld) an den örtlichen Kommissar, und auf der Wache schrie sie die ganze Nacht, um die canas um ihren Schlaf zu bringen. Aber diesmal hatte sie kein Glück. „Sie schlugen mir mit der Spitze des Gummiknüppels ins Auge. Die Mädels liefen völlig entsetzt davon. Auf einmal kamen haufenweise Streifenwagen, ich wurde in Handschellen gelegt und weiter verprügelt. Und dann das große Trara auf dem Weg zum Kommissariat, weil ich einen der Polizisten gebissen hatte und sagte, ich hätte AIDS. ‘Du Hurensohn, ich bring dich um!’ ‘Und wenn schon, sagte ich, du bringst mich um, aber du begleitest mich auf den Friedhof.’ Eine halbe Stunde schlugen sie im Streifenwagen auf mich ein. Danach brachten sie mich raus zu den Wäldern von Palermo und sagten, wenn sie mich hier umlegten, hätte danach niemand was gesehen.“ Micaela kam noch einmal davon, weil eine andere Transvestiten-Aktivistin gesehen hatte, wie sie abgeführt wurde, und sofort ihre Kameradinnen verständigt hatte. Obwohl sie später Anzeige erstattete, kam es nie zu einem Prozeß. Micaela wurde wegen Verstoßes gegen das Edikt 2F („Erregung öffentlichen Ärgernisses“) festgenommen, das es verbietet, „sich auf offener Straße im Kostüm des anderen Geschlechts zu zeigen“.
Die Szene geschah im Winter 1996, doch nach der jüngsten Verschärfung des Ordnungskodex in Buenos Aires bekommt sie wieder Aktualität.
Dies ist umso schmerzlicher, als damit eine Phase der Liberalisierung unterbrochen wurde, die in den letzten beiden Jahren zu beobachten gewesen war: Nachdem die letzte Verfassungsänderung die Autonomie der Hauptstadt Buenos Aires herbeigeführt hatte, war 1997 eine Verfassungsgebende Versammlung für die Hauptstadt zusammengetreten und hatte auf massiven Druck von Initiativen sexueller Minderheiten unter anderem die Rücknahme der sogenannten Polizeiedikte beschlossen. Dies sind Verordnungen aus dem vergangenen Jahrhundert, die, von den Militärregimes noch verschärft, bestimmtes Verhalten unter Strafe stellen, das von der bürgerlichen Rechtsprechung nicht belangt wird. Kurz darauf gewann Fernando De la Rua, der Kandidat der sozialdemokratisch orientierten UCR, knapp vor dem Kandidaten der Frepaso, der Front für ein solidarisches Land, die Bürgermeisterwahlen. Die peronistische Partei von Präsident Menem kam nur auf 12 Prozent. Die Hauptstadt war damit – erst recht nach dem Zusammenschluß von UCR und Frepaso zum Bündnis Alianza – zum Laboratorium einer künftigen Regierung geworden. Zunächst versuchte die neue Stadtregierung, Buenos Aires als Beispiel der Toleranz der rechtslastigen Politik der Nationalregierung entgegenzustellen. So beschloß das Stadtparlament nach der Rücknahme der Polizeiedikte auch einen Ordnungskodex, der die Rechte des Individuums stärkte. Zum ersten Mal in der politischen Geschichte Argentiniens wurde der Polizei die absolute Kontrolle über marginalisierte Gruppen der Bevölkerung genommen – unter ihnen auch Prostituierte und Transvestiten.
Doch hat es die nach dem Fall Cabezas (siehe nachfolgenden Artikel) und den Affären um die Attentate auf jüdische Einrichtungen ins Zwielicht geratene Polizei – unter tätiger Mithilfe der „progressiven“ Stadtregierung – in den letzten Monaten verstanden, sich im Bündnis mit rechtslastigen „Nachbarschaftsorganisationen“ zumindest wieder als Hüter der Moral in Szene zu setzen: Politik und Medien bemühten zuletzt immer wieder das Bild schutzloser Kinder, die zusehen müßten, wie vor ihrer Haustür Sex feilgeboten und konsumiert wird. Und, schlimmer noch, transsexueller Sex, ganz als könnte dieser wie ein Virus die unschuldigen Seelen derer für immer vergiften, die irgendwie in seine Nähe kämen. Im März zeigte die Strategie Wirkung, als das Stadtparlament nach massivem Druck von seiten der Führungsebene der Alianza eine Reform des Ordnungskodex verabschiedete, nach dem nicht nur die „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ erneut unter Strafe gestellt, sondern nunmehr auch im Wiederholungsfall mit verschärften Repressalien belegt werden kann. Ein Transvestit kann nunmehr bis zu dreißig Tage in Haft verbringen, nur weil er hinaus auf die Straße gegangen ist. Obwohl es formal Gerichtsstände für Ordnungswidrigkeiten gibt, überlassen Richter und Staatsanwälte immer noch der Polizei jegliche Kontrolle: Zum ersten Mal jedoch kann sich diese jetzt auf die Legitimation durch zivile und „demokratische“ Institutionen stützen.

Diskriminierung gibt’s zum Ortstarif

Das Interesse der Polizei an der Kontrolle über die Transvestie geht über machismo und Diskriminierung weit hinaus. Die niedrigen Löhne, das absolute Fehlen von Kontrolle durch die übrigen Staatsgewalten und die Sonderverordnungen haben dazu geführt, daß Korruption in der argentinischen Polizei eine institutionalisierte Praxis ist. Die Polizei kontrolliert zum Großteil das Netz der kleineren Delikte wie Glücksspiel, Hehlerei und Zuhälterei. Festnahmen haben zum Ziel, Prostituierten und Transvestiten zu beweisen, daß sie unter absoluter Kontrolle der Polizei stehen und – falls sie arbeiten wollen – ein Schutzgeld entrichten müssen. Der „Ortstarif“ ist in allen Kommissariaten gleich: 50 US-Dollar pro Tag. Für Festnahmen – falls nicht gezahlt wurde und oft auch, wenn gezahlt wurde – wird eine zusätzliche Strafgebühr von rund 15 US-Dollar eingezogen. Wenn man bedenkt, daß allein im Hauptstadt-Distrikt von Buenos Aires 2.000 Transvestiten aktiv sind, bekommt man eine Vorstellung von der Bedeutung dieser Erpressungsgelder für die Polizei.
Die Repressalien gegen Transvestiten ließen nach der Verschärfung des Ordnungskodex nicht auf sich warten. Bereits am Tag danach wurden in den wichtigsten Strichvierteln von Buenos Aires einige bekannte Transvestiten-Aktivistinnen zusammengeschlagen. Ein besonders tragischer Fall war der von Vanina, die im Viertel Constitución von Beamten des 16. Kommissariats brutal mißhandelt wurde und mit schweren Gesichtsverletzungen, einer dreifachen Fraktur am rechten Arm und mehreren gebrochenen Rippen ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Dort weigerten sich die Ärzte zunächst, sie aufzunehmen, doch auf massiven Druck herbeigeeilter Aktivistinnen der Travestie-Organisationen und in Anwesenheit von Pressevertretern wurde sie schließlich doch noch eingewiesen: in den Frauenschlafsaal.

Ein Leben am Rande der Gesellschaft

Verhaftungen und Gewalt sind für Transvestiten in Buenos Aires damit wieder Alltag. Von ihrer Initiation im Transvestismus meist in frühester Jugend an, wird ihr Leben von der Polizei diktiert. Jede noch so alltägliche Situation – einkaufen gehen, eine Rechnung bei der Bank bezahlen, tanzen gehen, eine Freundin besuchen – wird zum Risiko. Eine Festnahme kann, je nach Provinz, von einem Tag bis zu einem Monat Gefängnis bedeuten.
Häufig werden Transvestiten bei Festnahmen in Handschellen oder sogar in Ketten aufs Kommissariat gebracht, obwohl sie unbewaffnet sind. Noch schlimmer sind die Mißhandlungen in den Kommissariaten. Viele Opfer berichten von Folter, Schlägen und Vergewaltigungen. Die Transvestiten-Organisationen sprechen von 200 Mordfällen seit Anfang der 80er Jahre, bei denen ein dringender Verdacht gegen Polizeiangehörige besteht. Doch die wenigen Fälle, die überhaupt vor Gericht kommen, stellen keine Gefahr für die Repressoren dar, denn noch nie hat es eine Verurteilung gegeben.
Die meisten Transvestiten meiden „normalen“ sozialen Umgang, weil jeder Gang auf die Straße die Bereitschaft zum Risiko voraussetzt. Dies bedeutet auch, daß die Sonderverordnungen das zentrale Instrument sind, um Transvestiten den Zugang zu Arbeit zu verweigern und sie aus dem öffentlichen Raum praktisch auszusperren. Das Coming-Out als Transvestit ist in Argentinien der Beginn eines Lebens am Rand der Gesellschaft.

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