Nummer 241/242 - Juli/August 1994 | Venezuela

Notmaßnahmen und Putschgerüchte

Notmaßnahmen und Putschgerüchte

Am 29. Juni griff Rafael Caldera, erst wenige Monate im Präsidentenamt, zu ei­ner drastischen Maßnahme: Staatliche Devisenbewirtschaftung wird einge­führt. Damit erlebt Venezuela die Wiederauferstehung einer wirtschaftspoliti­schen Maßnahme, die in der neoliberalen Rezeptur, die in Lateinamerika in so vielen Ländern penibel umgesetzt wird, geradezu als Teufelswerk angesehen wird. Die venezolanische Wirtschaft, einst durch den stetigen Dollarzufluß aus dem Erdölexport eine Insel der Stabilität in Lateinamerika, steckt in einer tiefen Krise. Auch die frühere politische Stabilität ist dahin, schon kursieren wieder Putschgerüchte. Dorothea Melcher, Soziologin an der Uni­versität Mérida in Venezuela analysiert im folgenden Beitrag die strukturellen Gründe für die Wirtschaftkrise und deren Auswirkungen auf die venezolanische Po­litik.

Dorothea Melcher

Die Einführung der Devisenbewirtschaf­tung durch Präsident Caldera ist der ver­zweifelte Versuch, die schwere Finanz­krise unter Kontrolle zu bekommen, die Venezuela seit Anfang des Jahres erfaßt hat. Das Vertrauen in das nationale Ban­kensystem ist zusammengebrochen, die Devisenreserven sind durch Kapitalflucht geplündert. Die venezolanische Währung, der Bolívar, hat seit Anfang des Jahres ra­pide an Außenwert verloren. Entsprachen im Januar einem US-Dollar noch 90 Bolí­vares, mußten am 23. Juni schon 200 Bolí­vares für einen Dollar hingelegt werden. Gleichzeitig hat auch der Bin­nenwert in­folge der kräftig anzieh­enden Inflation von inzwischen etwa 70 Prozent stark ge­litten. Alle Stabilisierungs­versuche ohne Devisenkontrolle schlugen fehl, weshalb nun zur Devisenbewirt­schaftung gegriffen wurde.
Die ansteigende soziale und politische Unruhe untergrub die Stabilität der Regie­rung. Es war erneut die Rede von Militärputsch, immer häufiger kam es zu StudentInnenunruhen und anderen Protest­aktionen. Das erleichterte Aufatmen nach dem Wahlsieg Calderas im Dezem­ber und die stumme Hoffnung auf eine zwar langsame, aber sichere Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Verhält­nisse, die die Bevölkerung auf diesen al­ten und bewährten Politiker gesetzt hatte, ist in steigenden Zorn und Ungeduld um­geschlagen. Die erwarteten mutigen Re­formen sind nicht eingetreten, wobei die Regierung keine rechte Klarheit darüber herstellte, in welcher Weise sie vorge­nommen werden sollten, da die traditio­nellen Machtinteressen in ihr stärker ver­treten sind, als das wohl der Wunsch der WählerInnen gewesen ist.
Immer im Mittelpunkt: die Ölindustrie
Die Veränderungen in der Weltwirtschaft und der Druck zur Öffnung der nationalen Wirtschaft gegenüber den internationalen Märkten haben in Venezuela einen beson­deren Stellenwert. Das Land lebt von der Ausbeutung großer Rohstoff-Lagerstätten, vor allem dem Erdöl, daneben Eisenerz und Aluminium, neuerdings kommt Kohle hinzu. Die Erdöl-Exporte sind trotz der gesunkenen Preise weiterhin die wichtig­ste Devisenquelle und auch die wichtigste Einnahmequelle für den Staatshaushalt, wenn auch die relative Bedeutung abge­nommen hat. Daher ist die Stellung der Ölindustrie in der nationalen Wirtschaft erneut eine zentrale politische Frage.
Seit der Nationalisierung von 1975 ist die Ölindustrie in einer großen Staatsholding, PDVSA, zusammengefaßt, als oberste Verwaltungsinstanz der verschiedenen Nachfolgegesellschaften der großen aus­ländischen Unternehmen (Lagoven (Esso), Maraven (Shell) etc.). Die Übernahme der schon existierenden Strukturen der Ölkon­zerne erleichterte den Übergang in die staatliche Verwaltung und stützte sich auf die venezolanischen Techniker und Ange­stellten mit anerkannt sehr hohem Quali­fikationsniveau. PDVSA ist also das Un­ternehmen, das den venezolanischen Staat in der Ölindustrie vertritt. Allerdings be­steht daneben weiterhin das Ministerium für Energie und Bergbau, das als eigentli­che Regierungsinstanz die Kontrollfunk­tion innehat.
Ölmärkte: Strategische Planungen
PDVSA verfolgte in den vergangenen Jahren eine Politik der “Internationali­sierung”, der strategischen Ausdehnung der venezolanischen Indu­strie in die aus­ländischen Konsumenten­märkte durch den Aufkauf oder die Betei­ligung an Ver­marktungsorganisationen für Erdölpro­dukte in den USA, Kanada und Europa (Citgo, Veba etc.). Diese Strategie basiert auf der Erkenntnis, daß die neue Situation auf dem Erdölmarkt mehr auf die Sich­erung von Märkten auszurichten ist als auf die Strategie der hohen Preise. Eine wei­tere Überlegung venezolanischer Wirt­schaftsplanerInnen läuft darauf hin­aus, daß der Konsum von Erdöl als Ener­gie­träger in den nächsten Jahren eher sta­gnie­ren oder sogar sinken werde, so daß es “sich nicht lohnt”, das ganze Erdöl im Bo­den zu lassen und auf höhere Preise zu warten, sondern es besser ist, jetzt größere Mengen abzusetzen, solange es noch wirt­schaftlich interessant ist.
Eine weitere wichtige Überlegung von PDVSA geht dahin, daß die bisher er­schlossenen Erdöllagerstätten bald er­schöpft sein werden und es daher notwen­dig ist, die Industrie mit kräftigen Neuin­vestitionen auf den modernsten techni­schen Stand zu bringen. Im Bewußtsein der venezolanischen Regierungen und der Bevölkerung ist die Ölindustrie im we­sentlichen als eine Einnahmequelle für Devisen präsent, kaum aber als integraler Bestandteil der venezolanischen Industrie, so daß viele WirtschaftheoretikerInnen immer noch die Öleinnahmen und die hinter ihr stehenden Industrieinvestitionen als “nicht-nationale Wirtschaft” einstufen.
So entstand der Konflikt zwischen PDVSA und der Regierung dadurch, daß die Konzernführung beanspruchte, auch in Sachen Besteuerung wie eine ganz nor­male Industrie behandelt zu werden, um weiterhin adäquat funktionieren zu kön­nen. Die Ölindustrie wird traditionell mit einem besonderen Steuersatz belegt: Wäh­rend die “normalen” Unternehmen maxi­mal 34 Prozent Steuern bezahlen, erhebt der Staat bei im Erdölsektor tätigen Be­trieben 67 Prozent. Diese Aufspaltung stützt sich darauf, daß die Erdölindustrie besonders hohe Gewinne machen kann, weil die Preise für ihre Produkte im Aus­land durch die spezielle Form der Preis­bildung (Renten) besonders hohe Gewinn­spannen ermöglichen. Die Abschöpfung dieser hohen Gewinne, die man als natio­nales Eigentum und nicht als Privatge­winn des Unternehmens betrachtet, wer­den über ein historisch entwickeltes Sy­stem von Produktionssteuern (royalty von mindestens 16,6 Prozent des Produkti­onswertes) und Einkommensteuern vor­genommen. Die Einkommensteuerrege­lung, seit 1943 als flexible Maßnahme in Händen der Regierung gegen die auslän­dischen Unternehmen eingeführt, blieb nach der Nationalisierung bestehen. Der Staat hat seitdem auch noch stets weitere Zugriffe auf das Geldvermögen des Kon­zerns unternommen, wenn er in finanzielle Schwierigkeiten geriet. PDVSA behauptet nun, dies habe zu einer unzureichenden Kapitaldecke geführt, die die Eigenfinan­zierung der Investitionen zur Modernisie­rung und Ausdehnung der Produktionska­pazitäten unmöglich mache.
Abbau von Errungenschaften
Dagegen entwickelte sie zwei Strategien: die Forderung nach Abschaffung des be­sonderen Steuersatzes für Erdöl und die strategische Verbindung mit ausländi­schen Unternehmen, die neueste Techno­logien beherrschen und mit ihr in joint ventures bestimmte Lagerstätten und Erdöltypen (superschweres Öl sowie Bi­tumen, die sogenannte orimulsión) so­wie Erdgas ausbeuten sollen. Das erste Projekt unter dem Namen Cristóbal Co­lón wurde bereits vertraglich fest verein­bart, ohne allerdings umgesetzt worden zu sein.
Als sehr bedenklich wird von Beobachter­Innen kritisiert, daß die Verträge mit dem ausländischen Unternehmen wesentliche Errungenschaften der venezolanischen Ölpolitik dieses Jahrhunderts über Bord geworfen haben. Zum einen versichert Lagoven in einer Sonderklausel als unter­geordnetes Unternehmen von PDVSA, daß alle im Vertrag festgelegten Zahlun­gen fest bestehen bleiben und keine weite­ren hinzukommen dürfen. Sollte die Zen­tralregierung, die Landesregierung oder die Gemeinde durch irgendwelche Steuern oder Abgabenveränderungen höhere La­sten beschließen, müsse Lagoven (also der venezolanische Staat) den ausländischen Partner dafür entschädigen. Dies schränkt die venezolanische Steuerhoheit ein, die 1943 gegen die Ölkonzerne erkämpft werden konnte. Außerdem sieht der Ver­trag die Schlichtung von Streitigkeiten vor internationalen Instanzen vor, auf jeden Fall nicht vor venezolanischen Gerichten, was wiederum einen schweren Rückschritt für die venezolanische Souveränität be­deutet, die seit dem Beginn der Ölaus­beutung Anfang des Jahrhunderts die ve­nezolanische Justiz zuständig bleiben ließ. Ferner wurde für die PartnerInnen der “normale” Höchststeuersatz von 34 Pro­zent festgelegt, also auf diese Weise für sie die Ölsteuer abgeschafft, während der Partner Lagoven weiterhin den erhöhten Satz von 67 Prozent zahlen muß. Alle späteren Veränderungen über Steuern etc. müßten also an das ausländische Unter­nehmen zurückbezahlt werden und zwar nach Maßgabe internationaler Gerichts­barkeit.
Der Cristobal Colón-Vertrag wurde unter der Regierung von Ramón J. Veláz­quez, dem Interimspräsidenten, und unter Ausübung von vom Parlament erteilten präsidentiellen Ausnahmerechten unter­zeichnet. Es gab zwar heftige Kritik von Seiten der KennerInnen der Ölproblema­tik, aber ihre Kritiken fanden weder bei der Regierung noch in der Öffentlichkeit Gehör: Die Regierung und der Kongreß verlassen sich auf die hohen PDVSA-Funktionäre, während die Abgeordneten meist nichts von der Materie verstehen und sich durch Reisen und sonstige Einla­dungen leicht Sand in die Augen streuen lassen.
Der erwähnte Vertrag hat eine tiefe Bre­sche in die venezolanische nationalistische Gesetzgebung geschlagen und gilt nun als Modell für weitere Assoziationsprojekte. Von Seiten der internationalen Ölindu­strie, von PDVSA und von der “Camara Venezolana del Petróleo”, der Sprecherin der privaten Erdölinteressen im Land, wird heftiger Druck ausgeübt, um rasch die Reform der Ölgesetzgebung zu errei­chen. Ziel ist, die Ölindustrie auf allen Ebenen zu privatisieren und die Steuer­sätze zu senken.
Ächzen und Knirschen im Finanzsystem
Das venezolanische Finanzsystem geriet seit Anfang 1994 in den Strudel der Ka­pitalflucht, der Abwertung und der Ban­kenzusammenbrüche, Folgen der andau­ernden Krise des wirtschaftlichen und po­litischen Systems. Die Zentralbank wen­dete den Abwertungsmechanismus des crawling peg an, durch den der Bolívar gegenüber dem US-Dollar täglich zu ei­nem vorab festgelegten Prozentsatz abge­wertet wurde, um den AkteurInnen Pla­nungssicherheit bezüglich des zukünftigen Wechselkurses zu geben. Mit einer über der Abwertungsrate liegenden Verzinsung sollte eine weitere Kapitalflucht vermie­den werden. Über die Ausgabe von spe­ziellen Staatsanleihen, den sogenanten Ze­robonds, sollte die umlaufende Geld­menge reduziert werden.
Was monatelang gut ging, stellte sich schließlich als struktureller Sprengstoff heraus: Die bis auf 80 Prozent steigende Zinsrate verteuerte die Kreditaufnahme, so daß die Investitionen in die produzie­rende Industrie stetig zurückgingen. Die wirtschaftliche Stagnation mit gleichzeitig steigender Investition in nicht-produktives Sachvermögen erhöhte ständig das spe­kulative Finanzkapital, und die Banken konnten ihre Zinszahlungen an die Einle­gerInnen immer weniger bedienen, da sie nur aus spekulativen Bewegungen Ein­nahmen bekamen.
Die Lawine ins Rollen brachte je­doch die politische Seite. Noch vor dem Antritt der neugewählten Regierung Caldera be­schloß die Regierung Veláz­quez im Janu­ar, die drittgrößte Bank des Landes, die Banco Latino, unter dem Vorwurf schwe­ren Betrugs und der Zah­lungsunfähigkeit unter staatliche Kontrolle zu stellen. Als politisch wurde dieser Schritt angesehen, weil die Banco Latino des verstorbenen Ex-Finanzmini­sters Pedro Tinoco einer der Standpfeiler des abgesetzten Präsidenten Carlos An­drés Pérez war, der trotz des gegen ihn laufenden Prozesses und seiner Entmach­tung noch weiterhin aktiv am politischen Spiel teilnahm. Die führenden Manager der Bank und einer Reihe angeschlossener Banken wurden per Haftbefehl gesucht und flohen teilweise ins Ausland. Die Schließung der Bank während mehr als einem Monat sorgte in manchen Orten, in denen sie die wichtigste lokale Banknie­derlassung gewesen war, dafür, daß die Wirtschaft ins Stocken geriet. Viele alte Menschen, denen man besonders hohe Zinsen angeboten hatte, sahen ihre Er­sparnisse und somit den Unterhalt für ih­ren Lebensabend gefährdet.
Flucht in den Dollar
Um die Folgen dieser Intervention zu mil­dern, wurden die Ersparnisse und kleine­ren Guthaben garantiert und nach und nach voll ausbezahlt. Sogar Inhaber gut gefüllter Konten erhielten bis zu 10 Mil­lionen Bolívares (ca. 100.000 DM) aus­bezahlt, was darüber ging, wurde als An­teil kapitalisiert. Die Bank wurde unter staatlicher Regie wieder eröffnet, und der Präsident rief wiederholt die Bürger zu Vertrauen auf. Die große Gefahr schien nun zu sein, daß ein Vertrauensverlust ge­genüber der nationalen Währung die Dol­larisierung in Gang bringen würde und viele versuchen würden, noch schnell alles Geld in Devisen zu tauschen und aus dem Land zu schaffen. Da mit der Banco La­tino auch die Schwäche der meisten ande­ren mittleren Banken bekannt wurde, be­gann die Regierung mittels einer Banken­stützung, den wackligen Instituten wach­sende Zuschüsse zu geben, um ihr Funk­tionieren aufrechtzuerhalten. Die dazu verwendeten Mittel beliefen sich zuletzt auf etwa die Hälfte des gesamten Staats­haushalts von 1994 und waren letzten En­des nur durch Geldschöpfung der Zentral­bank aufzubringen.
Als die noch unter Carlos Andrés Pérez ernannte Präsidentin der Zentralbank, Ruth de Crivoy, Anfang April ihren Rücktritt erklärte, führte dieser Schritt zu einer Welle von Kapitalflucht und einem dramatischen Absinken der Devisenreser­ven. Grund für den Rücktritt de Crivoys war, daß sie die Absicht der Regierung, den Mechanismus des crawling peg auf­zugeben, die Zinsen zu senken und die Zero-Bonds durch konventionelle Staats­anleihen zu ersetzen, als eine unzulässige Einschränkung der Hoheit der Zentralbank ansah. Alle Versuche der Regierung, das Vertrauen der KapitalbesitzerInnen wie­derzugewinnen, blieben erfolglos. Auch die Entlassung aller MinisterInnen, die den Privatisierungen, der neuen Erdölpo­litik und der grenzenlosen Stützung der Banken ablehnend gegenüberstanden, half nichts. Als dann im Juni weitere acht Banken unter staatliche Aufsicht gestellt wurden und die verbliebenen Banken nicht mehr aus der Gerüchteküche heraus­kamen, stieg der Dollar auf über 200 Bo­lívares, und die Regierung entschloß sich zu dem zu Anfang erwähnten drastischen Schritt.
Mit Küchenschaben
an die Macht
Nach zwei gescheiterten Putschversuchen verschiedener Armee-Fraktionen 1992 war es schließlich ein Prozeß wegen Kor­ruption im Amt, der Präsident Carlos Andrés Pérez (CAP) Mitte 1993 aus dem Amt entfernte. Dabei spielte der Oberste Staatsanwalt Ramón Escobar Salóm die Rolle des Anklägers, der Oberste Ge­richtshof gab der Klage statt, der Natio­nalkongreß, in dem CAP die Unterstüt­zung seiner eigenen Partei verloren hatte, ersetzte ihn durch den Senator und Geschichtsprofessor Ramón J. Velázquez, ein altes Kongreßmitglied der sozialde­mokratischen Pérez-Partei AD, mit dem Auftrag, die Regierungsgeschäfte solange zu verwalten, bis am 5.Dezember ein neuer Präsident gewählt sein würde.
Schon vor der Absetzung von Pérez hatte sich der Zerfall der Vertrauensbasis der traditionellen Parteien gezeigt: Die AD verlor viele AnhängerInnen und stellte einen intern durch Fraktionskämpfe ge­schwächten Kandidaten auf; Die christ­demokratische Oppositionspartei COPEI spaltete sich durch die Kandidatur ihres Gründers Rafael Caldera gegen den offi­ziellen Parteikandidaten Osvaldo Alvarez Paz, dem Landeschef des Bundesstaats Zulia (Maracaibo). Caldera baute erfolg­reich auf sein durch seine klare Haltung gegenüber dem Staatsstreich vom 4. Fe­bruar 1992 erworbenes Charisma, nahm eine Minderheit von COPEI-Mitgliedern in seiner kleinen Partei “Convergencia” auf und fand Unterstützung bei den klei­nen linken Parteien MAS, MEP, PCV, URD und wie sie sonst alle heißen. Seiner Bewegung trug dies den Namen “El Chi­ripero” ein, den sie mit Stolz als Wahl­propaganda aufnahm (chiripas sind kleine Küchenschaben, die man nachts beim Lichtmachen als nach allen Richtun­gen davonrennendes Gewimmel über­rascht).
Als vierte wichtige Partei hatte sich be­reits seit den Gouverneurswahlen im Vorjahr die Causa R mit ihrem Kandida­ten Andrés Velázquez (nicht zu verwech­seln mit Ramón J. Velázquez!) profiliert. Aus der Gewerkschaftsbewegung der Stahlarbeiter hervorgegangen besitzt sie ihre regionale Basis im Osten des Landes im Bundesstaat Bolívar. Nach ihrem Wahlsieg im Herzen von Caracas trat die Partei als die eigentliche Alternative zu den alten Parteien auf, gegen Bürokra­tInnen und korrupte PolitikerInnen. An­drés Velázquez gab sich sehr siegesgewiß, aber er überzog etwas sein Image gegenüber den WählerInnen aus den Mittelschichten. Außerdem mußte er in anderen Regionen mit KandidatInnen an­treten, die nicht seiner eigenen Partei ent­stammten, sondern oft als politiqueros, als auf ihren eigenen Vorteil bedachte OpportunistInnen, unangenehm bekannt waren.
In den Wahlkampf griff auch der neue Verteidigungsminister General Rafael Muñoz León massiv ein, dem später vor­geworfen wurde, einen Putsch vorbereitet zu haben. Er nahm mit forschen Reden of­fen Partei gegen Caldera und vor allem gegen die Causa R und ihren Sprecher in Caracas, Pablo Medina, den er sogar unter dem Vorwand von Waffenbesitz aus frü­heren Putschversuchen zu verhaften ver­suchte.
Caldera: 78-jähriger Präsident ohne Mehrheit
Es spricht für die politische Stabilität des Landes, daß trotz allem die Wahlen abge­halten werden konnten. Trotz vieler An­schuldigungen wegen Wahlfälschung wurden die Ergebnisse einschließlich vieler Neuauszählungen akzeptiert. Der Gewinner war Rafael Caldera, der mit seinen 78 Jahren die Rolle des vermitteln­den, weisen und doch bestimmten Politi­kers mit sozialer Rücksichtnahme spielte. Im Parlament jedoch besitzt er keine Mehrheit: Dort fanden sich die beiden Parteien COPEI und AD als Mehrheitsal­lianz zusammen, während dem chiripero die Fraktionsqualität abgeschla­gen wurde, so daß alle Ausschußvorsit­zenden den drei großen Parteien AD, CO­PEI und Causa R angehören. Einerseits hat Caldera damit weitgehend freie Hand gegenüber seinen so ungleichen Gefolgs­leuten, muß aber seine gesetzlichen Initia­tiven mit den beiden Großen abstimmen. Daher wurde von Anfang an von einem möglichen fujimorazo gesprochen, also der Aus­schaltung des Kongresses durch den Prä­sidenten. Die Causa R verlangte sofort die Auflösung des Parlaments, die Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung und die Erarbeitung einer neuen, demokrati­schen Verfassung.
Bis zur Amtsübergabe am 2. Februar 1994 regierte Ramón J. Velázquez mit seinen Ministern mit Hilfe eines Ermächtigungs­gesetzes. Ein neues Bankengesetz wurde auf diesem Weg erlassen, nach dem aus­ländische Banken in Venezuela direkt zu­gelassen werden können, die verhaßte Mehrwertsteuer wurde eingeführt, und das Projekt Cristóbal Colón wurde ebenso durchge­setzt wie die staatliche Kontrolle über die Banco Latino. Skandale umwittern das Ende seiner Interims­präsidentschaft: Nur ein Beispiel dafür ist die angeblich durch einen Trick gegen sein Wissen erreichte Unterschrift zur Begnadigung eines hohen kolumbiani­schen Drogenhändlers.
Vermißt: klare politische Linie
Seit ihrem Amtsantritt am 2. Februar hat die Regierung Caldera im wesentlichen die VenezolanerInnen enttäuscht. Mit der Finanzkrise, dem Rückgang der produkti­ven Investitionen und der Inflation hat die Arbeitslosigkeit stark zugenommen. Die Zahl der im informellen Sektor außerhalb des erst 1991 in Kraft getretenen neuen, von Caldera durchgesetzten fortschrittli­chen, schützenden Arbeitsrechts Tätigen, hat stark zugenommen. Die Sozialversi­cherung leidet durch Mißwirtschaft an chronischer Geldknappheit, und es gibt immer wieder Demonstrationen der Rent­nerInnen um ihre Zahlungen.
Statt der erwarteten regulierenden Ein­griffe in den Markt zum Schutz der Ver­braucherInnen und sozial schwachen Schichten, statt der energischen Lösung der Finanzkrise und des Steuerproblems befaßte sich die Regierung damit, die Fol­geprobleme des Eingriffes in die Banco Latino zu lösen, ohne den beteiligten mächtigen Finanzsektoren weh zu tun. Die Mehrwertsteuer auf KonsumentInnen-ebene wurde zwar wieder aufgehoben, aber verschiedene Minister traten immer wie­der für ihre Notwendigkeit ein. Die Ab­wertung der Währung beschleunigte die Inflation, und die Dollarknappheit führte zu Versorgungsproblemen. Die neue Maßnahme der Devisenkontrolle und das Einfrieren der KonsumentInnenpreise finden daher unter der Mehrheit der Be­völkerung großen Anklang.
Ein weiteres offenes Problem ist die Frage der Außenverschuldung. Man hoffte, Caldera werde ein Schuldenmoratorium erreichen, da er immer von der ungerech­ten Einseitigkeit der Schuldenlast der Entwicklungsländer gesprochen hatte. Bisher sah es jedoch so aus, als wenn die Unterwerfung unter die Regeln des IWF weitergehen würde. Mit Spannung wird zu verfolgen sein, ob die jüngsten Maßnah­men, die mit den Vorgaben des IWF kaum vereinbar sind, zu einer Neuorientierung des Verhältnisses Venezuelas zum IWF führen wird.

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