Notmaßnahmen und Putschgerüchte
Notmaßnahmen und Putschgerüchte
Die Einführung der Devisenbewirtschaftung durch Präsident Caldera ist der verzweifelte Versuch, die schwere Finanzkrise unter Kontrolle zu bekommen, die Venezuela seit Anfang des Jahres erfaßt hat. Das Vertrauen in das nationale Bankensystem ist zusammengebrochen, die Devisenreserven sind durch Kapitalflucht geplündert. Die venezolanische Währung, der Bolívar, hat seit Anfang des Jahres rapide an Außenwert verloren. Entsprachen im Januar einem US-Dollar noch 90 Bolívares, mußten am 23. Juni schon 200 Bolívares für einen Dollar hingelegt werden. Gleichzeitig hat auch der Binnenwert infolge der kräftig anziehenden Inflation von inzwischen etwa 70 Prozent stark gelitten. Alle Stabilisierungsversuche ohne Devisenkontrolle schlugen fehl, weshalb nun zur Devisenbewirtschaftung gegriffen wurde.
Die ansteigende soziale und politische Unruhe untergrub die Stabilität der Regierung. Es war erneut die Rede von Militärputsch, immer häufiger kam es zu StudentInnenunruhen und anderen Protestaktionen. Das erleichterte Aufatmen nach dem Wahlsieg Calderas im Dezember und die stumme Hoffnung auf eine zwar langsame, aber sichere Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, die die Bevölkerung auf diesen alten und bewährten Politiker gesetzt hatte, ist in steigenden Zorn und Ungeduld umgeschlagen. Die erwarteten mutigen Reformen sind nicht eingetreten, wobei die Regierung keine rechte Klarheit darüber herstellte, in welcher Weise sie vorgenommen werden sollten, da die traditionellen Machtinteressen in ihr stärker vertreten sind, als das wohl der Wunsch der WählerInnen gewesen ist.
Immer im Mittelpunkt: die Ölindustrie
Die Veränderungen in der Weltwirtschaft und der Druck zur Öffnung der nationalen Wirtschaft gegenüber den internationalen Märkten haben in Venezuela einen besonderen Stellenwert. Das Land lebt von der Ausbeutung großer Rohstoff-Lagerstätten, vor allem dem Erdöl, daneben Eisenerz und Aluminium, neuerdings kommt Kohle hinzu. Die Erdöl-Exporte sind trotz der gesunkenen Preise weiterhin die wichtigste Devisenquelle und auch die wichtigste Einnahmequelle für den Staatshaushalt, wenn auch die relative Bedeutung abgenommen hat. Daher ist die Stellung der Ölindustrie in der nationalen Wirtschaft erneut eine zentrale politische Frage.
Seit der Nationalisierung von 1975 ist die Ölindustrie in einer großen Staatsholding, PDVSA, zusammengefaßt, als oberste Verwaltungsinstanz der verschiedenen Nachfolgegesellschaften der großen ausländischen Unternehmen (Lagoven (Esso), Maraven (Shell) etc.). Die Übernahme der schon existierenden Strukturen der Ölkonzerne erleichterte den Übergang in die staatliche Verwaltung und stützte sich auf die venezolanischen Techniker und Angestellten mit anerkannt sehr hohem Qualifikationsniveau. PDVSA ist also das Unternehmen, das den venezolanischen Staat in der Ölindustrie vertritt. Allerdings besteht daneben weiterhin das Ministerium für Energie und Bergbau, das als eigentliche Regierungsinstanz die Kontrollfunktion innehat.
Ölmärkte: Strategische Planungen
PDVSA verfolgte in den vergangenen Jahren eine Politik der “Internationalisierung”, der strategischen Ausdehnung der venezolanischen Industrie in die ausländischen Konsumentenmärkte durch den Aufkauf oder die Beteiligung an Vermarktungsorganisationen für Erdölprodukte in den USA, Kanada und Europa (Citgo, Veba etc.). Diese Strategie basiert auf der Erkenntnis, daß die neue Situation auf dem Erdölmarkt mehr auf die Sicherung von Märkten auszurichten ist als auf die Strategie der hohen Preise. Eine weitere Überlegung venezolanischer WirtschaftsplanerInnen läuft darauf hinaus, daß der Konsum von Erdöl als Energieträger in den nächsten Jahren eher stagnieren oder sogar sinken werde, so daß es “sich nicht lohnt”, das ganze Erdöl im Boden zu lassen und auf höhere Preise zu warten, sondern es besser ist, jetzt größere Mengen abzusetzen, solange es noch wirtschaftlich interessant ist.
Eine weitere wichtige Überlegung von PDVSA geht dahin, daß die bisher erschlossenen Erdöllagerstätten bald erschöpft sein werden und es daher notwendig ist, die Industrie mit kräftigen Neuinvestitionen auf den modernsten technischen Stand zu bringen. Im Bewußtsein der venezolanischen Regierungen und der Bevölkerung ist die Ölindustrie im wesentlichen als eine Einnahmequelle für Devisen präsent, kaum aber als integraler Bestandteil der venezolanischen Industrie, so daß viele WirtschaftheoretikerInnen immer noch die Öleinnahmen und die hinter ihr stehenden Industrieinvestitionen als “nicht-nationale Wirtschaft” einstufen.
So entstand der Konflikt zwischen PDVSA und der Regierung dadurch, daß die Konzernführung beanspruchte, auch in Sachen Besteuerung wie eine ganz normale Industrie behandelt zu werden, um weiterhin adäquat funktionieren zu können. Die Ölindustrie wird traditionell mit einem besonderen Steuersatz belegt: Während die “normalen” Unternehmen maximal 34 Prozent Steuern bezahlen, erhebt der Staat bei im Erdölsektor tätigen Betrieben 67 Prozent. Diese Aufspaltung stützt sich darauf, daß die Erdölindustrie besonders hohe Gewinne machen kann, weil die Preise für ihre Produkte im Ausland durch die spezielle Form der Preisbildung (Renten) besonders hohe Gewinnspannen ermöglichen. Die Abschöpfung dieser hohen Gewinne, die man als nationales Eigentum und nicht als Privatgewinn des Unternehmens betrachtet, werden über ein historisch entwickeltes System von Produktionssteuern (royalty von mindestens 16,6 Prozent des Produktionswertes) und Einkommensteuern vorgenommen. Die Einkommensteuerregelung, seit 1943 als flexible Maßnahme in Händen der Regierung gegen die ausländischen Unternehmen eingeführt, blieb nach der Nationalisierung bestehen. Der Staat hat seitdem auch noch stets weitere Zugriffe auf das Geldvermögen des Konzerns unternommen, wenn er in finanzielle Schwierigkeiten geriet. PDVSA behauptet nun, dies habe zu einer unzureichenden Kapitaldecke geführt, die die Eigenfinanzierung der Investitionen zur Modernisierung und Ausdehnung der Produktionskapazitäten unmöglich mache.
Abbau von Errungenschaften
Dagegen entwickelte sie zwei Strategien: die Forderung nach Abschaffung des besonderen Steuersatzes für Erdöl und die strategische Verbindung mit ausländischen Unternehmen, die neueste Technologien beherrschen und mit ihr in joint ventures bestimmte Lagerstätten und Erdöltypen (superschweres Öl sowie Bitumen, die sogenannte orimulsión) sowie Erdgas ausbeuten sollen. Das erste Projekt unter dem Namen Cristóbal Colón wurde bereits vertraglich fest vereinbart, ohne allerdings umgesetzt worden zu sein.
Als sehr bedenklich wird von BeobachterInnen kritisiert, daß die Verträge mit dem ausländischen Unternehmen wesentliche Errungenschaften der venezolanischen Ölpolitik dieses Jahrhunderts über Bord geworfen haben. Zum einen versichert Lagoven in einer Sonderklausel als untergeordnetes Unternehmen von PDVSA, daß alle im Vertrag festgelegten Zahlungen fest bestehen bleiben und keine weiteren hinzukommen dürfen. Sollte die Zentralregierung, die Landesregierung oder die Gemeinde durch irgendwelche Steuern oder Abgabenveränderungen höhere Lasten beschließen, müsse Lagoven (also der venezolanische Staat) den ausländischen Partner dafür entschädigen. Dies schränkt die venezolanische Steuerhoheit ein, die 1943 gegen die Ölkonzerne erkämpft werden konnte. Außerdem sieht der Vertrag die Schlichtung von Streitigkeiten vor internationalen Instanzen vor, auf jeden Fall nicht vor venezolanischen Gerichten, was wiederum einen schweren Rückschritt für die venezolanische Souveränität bedeutet, die seit dem Beginn der Ölausbeutung Anfang des Jahrhunderts die venezolanische Justiz zuständig bleiben ließ. Ferner wurde für die PartnerInnen der “normale” Höchststeuersatz von 34 Prozent festgelegt, also auf diese Weise für sie die Ölsteuer abgeschafft, während der Partner Lagoven weiterhin den erhöhten Satz von 67 Prozent zahlen muß. Alle späteren Veränderungen über Steuern etc. müßten also an das ausländische Unternehmen zurückbezahlt werden und zwar nach Maßgabe internationaler Gerichtsbarkeit.
Der Cristobal Colón-Vertrag wurde unter der Regierung von Ramón J. Velázquez, dem Interimspräsidenten, und unter Ausübung von vom Parlament erteilten präsidentiellen Ausnahmerechten unterzeichnet. Es gab zwar heftige Kritik von Seiten der KennerInnen der Ölproblematik, aber ihre Kritiken fanden weder bei der Regierung noch in der Öffentlichkeit Gehör: Die Regierung und der Kongreß verlassen sich auf die hohen PDVSA-Funktionäre, während die Abgeordneten meist nichts von der Materie verstehen und sich durch Reisen und sonstige Einladungen leicht Sand in die Augen streuen lassen.
Der erwähnte Vertrag hat eine tiefe Bresche in die venezolanische nationalistische Gesetzgebung geschlagen und gilt nun als Modell für weitere Assoziationsprojekte. Von Seiten der internationalen Ölindustrie, von PDVSA und von der “Camara Venezolana del Petróleo”, der Sprecherin der privaten Erdölinteressen im Land, wird heftiger Druck ausgeübt, um rasch die Reform der Ölgesetzgebung zu erreichen. Ziel ist, die Ölindustrie auf allen Ebenen zu privatisieren und die Steuersätze zu senken.
Ächzen und Knirschen im Finanzsystem
Das venezolanische Finanzsystem geriet seit Anfang 1994 in den Strudel der Kapitalflucht, der Abwertung und der Bankenzusammenbrüche, Folgen der andauernden Krise des wirtschaftlichen und politischen Systems. Die Zentralbank wendete den Abwertungsmechanismus des crawling peg an, durch den der Bolívar gegenüber dem US-Dollar täglich zu einem vorab festgelegten Prozentsatz abgewertet wurde, um den AkteurInnen Planungssicherheit bezüglich des zukünftigen Wechselkurses zu geben. Mit einer über der Abwertungsrate liegenden Verzinsung sollte eine weitere Kapitalflucht vermieden werden. Über die Ausgabe von speziellen Staatsanleihen, den sogenanten Zerobonds, sollte die umlaufende Geldmenge reduziert werden.
Was monatelang gut ging, stellte sich schließlich als struktureller Sprengstoff heraus: Die bis auf 80 Prozent steigende Zinsrate verteuerte die Kreditaufnahme, so daß die Investitionen in die produzierende Industrie stetig zurückgingen. Die wirtschaftliche Stagnation mit gleichzeitig steigender Investition in nicht-produktives Sachvermögen erhöhte ständig das spekulative Finanzkapital, und die Banken konnten ihre Zinszahlungen an die EinlegerInnen immer weniger bedienen, da sie nur aus spekulativen Bewegungen Einnahmen bekamen.
Die Lawine ins Rollen brachte jedoch die politische Seite. Noch vor dem Antritt der neugewählten Regierung Caldera beschloß die Regierung Velázquez im Januar, die drittgrößte Bank des Landes, die Banco Latino, unter dem Vorwurf schweren Betrugs und der Zahlungsunfähigkeit unter staatliche Kontrolle zu stellen. Als politisch wurde dieser Schritt angesehen, weil die Banco Latino des verstorbenen Ex-Finanzministers Pedro Tinoco einer der Standpfeiler des abgesetzten Präsidenten Carlos Andrés Pérez war, der trotz des gegen ihn laufenden Prozesses und seiner Entmachtung noch weiterhin aktiv am politischen Spiel teilnahm. Die führenden Manager der Bank und einer Reihe angeschlossener Banken wurden per Haftbefehl gesucht und flohen teilweise ins Ausland. Die Schließung der Bank während mehr als einem Monat sorgte in manchen Orten, in denen sie die wichtigste lokale Bankniederlassung gewesen war, dafür, daß die Wirtschaft ins Stocken geriet. Viele alte Menschen, denen man besonders hohe Zinsen angeboten hatte, sahen ihre Ersparnisse und somit den Unterhalt für ihren Lebensabend gefährdet.
Flucht in den Dollar
Um die Folgen dieser Intervention zu mildern, wurden die Ersparnisse und kleineren Guthaben garantiert und nach und nach voll ausbezahlt. Sogar Inhaber gut gefüllter Konten erhielten bis zu 10 Millionen Bolívares (ca. 100.000 DM) ausbezahlt, was darüber ging, wurde als Anteil kapitalisiert. Die Bank wurde unter staatlicher Regie wieder eröffnet, und der Präsident rief wiederholt die Bürger zu Vertrauen auf. Die große Gefahr schien nun zu sein, daß ein Vertrauensverlust gegenüber der nationalen Währung die Dollarisierung in Gang bringen würde und viele versuchen würden, noch schnell alles Geld in Devisen zu tauschen und aus dem Land zu schaffen. Da mit der Banco Latino auch die Schwäche der meisten anderen mittleren Banken bekannt wurde, begann die Regierung mittels einer Bankenstützung, den wackligen Instituten wachsende Zuschüsse zu geben, um ihr Funktionieren aufrechtzuerhalten. Die dazu verwendeten Mittel beliefen sich zuletzt auf etwa die Hälfte des gesamten Staatshaushalts von 1994 und waren letzten Endes nur durch Geldschöpfung der Zentralbank aufzubringen.
Als die noch unter Carlos Andrés Pérez ernannte Präsidentin der Zentralbank, Ruth de Crivoy, Anfang April ihren Rücktritt erklärte, führte dieser Schritt zu einer Welle von Kapitalflucht und einem dramatischen Absinken der Devisenreserven. Grund für den Rücktritt de Crivoys war, daß sie die Absicht der Regierung, den Mechanismus des crawling peg aufzugeben, die Zinsen zu senken und die Zero-Bonds durch konventionelle Staatsanleihen zu ersetzen, als eine unzulässige Einschränkung der Hoheit der Zentralbank ansah. Alle Versuche der Regierung, das Vertrauen der KapitalbesitzerInnen wiederzugewinnen, blieben erfolglos. Auch die Entlassung aller MinisterInnen, die den Privatisierungen, der neuen Erdölpolitik und der grenzenlosen Stützung der Banken ablehnend gegenüberstanden, half nichts. Als dann im Juni weitere acht Banken unter staatliche Aufsicht gestellt wurden und die verbliebenen Banken nicht mehr aus der Gerüchteküche herauskamen, stieg der Dollar auf über 200 Bolívares, und die Regierung entschloß sich zu dem zu Anfang erwähnten drastischen Schritt.
Mit Küchenschaben
an die Macht
Nach zwei gescheiterten Putschversuchen verschiedener Armee-Fraktionen 1992 war es schließlich ein Prozeß wegen Korruption im Amt, der Präsident Carlos Andrés Pérez (CAP) Mitte 1993 aus dem Amt entfernte. Dabei spielte der Oberste Staatsanwalt Ramón Escobar Salóm die Rolle des Anklägers, der Oberste Gerichtshof gab der Klage statt, der Nationalkongreß, in dem CAP die Unterstützung seiner eigenen Partei verloren hatte, ersetzte ihn durch den Senator und Geschichtsprofessor Ramón J. Velázquez, ein altes Kongreßmitglied der sozialdemokratischen Pérez-Partei AD, mit dem Auftrag, die Regierungsgeschäfte solange zu verwalten, bis am 5.Dezember ein neuer Präsident gewählt sein würde.
Schon vor der Absetzung von Pérez hatte sich der Zerfall der Vertrauensbasis der traditionellen Parteien gezeigt: Die AD verlor viele AnhängerInnen und stellte einen intern durch Fraktionskämpfe geschwächten Kandidaten auf; Die christdemokratische Oppositionspartei COPEI spaltete sich durch die Kandidatur ihres Gründers Rafael Caldera gegen den offiziellen Parteikandidaten Osvaldo Alvarez Paz, dem Landeschef des Bundesstaats Zulia (Maracaibo). Caldera baute erfolgreich auf sein durch seine klare Haltung gegenüber dem Staatsstreich vom 4. Februar 1992 erworbenes Charisma, nahm eine Minderheit von COPEI-Mitgliedern in seiner kleinen Partei “Convergencia” auf und fand Unterstützung bei den kleinen linken Parteien MAS, MEP, PCV, URD und wie sie sonst alle heißen. Seiner Bewegung trug dies den Namen “El Chiripero” ein, den sie mit Stolz als Wahlpropaganda aufnahm (chiripas sind kleine Küchenschaben, die man nachts beim Lichtmachen als nach allen Richtungen davonrennendes Gewimmel überrascht).
Als vierte wichtige Partei hatte sich bereits seit den Gouverneurswahlen im Vorjahr die Causa R mit ihrem Kandidaten Andrés Velázquez (nicht zu verwechseln mit Ramón J. Velázquez!) profiliert. Aus der Gewerkschaftsbewegung der Stahlarbeiter hervorgegangen besitzt sie ihre regionale Basis im Osten des Landes im Bundesstaat Bolívar. Nach ihrem Wahlsieg im Herzen von Caracas trat die Partei als die eigentliche Alternative zu den alten Parteien auf, gegen BürokratInnen und korrupte PolitikerInnen. Andrés Velázquez gab sich sehr siegesgewiß, aber er überzog etwas sein Image gegenüber den WählerInnen aus den Mittelschichten. Außerdem mußte er in anderen Regionen mit KandidatInnen antreten, die nicht seiner eigenen Partei entstammten, sondern oft als politiqueros, als auf ihren eigenen Vorteil bedachte OpportunistInnen, unangenehm bekannt waren.
In den Wahlkampf griff auch der neue Verteidigungsminister General Rafael Muñoz León massiv ein, dem später vorgeworfen wurde, einen Putsch vorbereitet zu haben. Er nahm mit forschen Reden offen Partei gegen Caldera und vor allem gegen die Causa R und ihren Sprecher in Caracas, Pablo Medina, den er sogar unter dem Vorwand von Waffenbesitz aus früheren Putschversuchen zu verhaften versuchte.
Caldera: 78-jähriger Präsident ohne Mehrheit
Es spricht für die politische Stabilität des Landes, daß trotz allem die Wahlen abgehalten werden konnten. Trotz vieler Anschuldigungen wegen Wahlfälschung wurden die Ergebnisse einschließlich vieler Neuauszählungen akzeptiert. Der Gewinner war Rafael Caldera, der mit seinen 78 Jahren die Rolle des vermittelnden, weisen und doch bestimmten Politikers mit sozialer Rücksichtnahme spielte. Im Parlament jedoch besitzt er keine Mehrheit: Dort fanden sich die beiden Parteien COPEI und AD als Mehrheitsallianz zusammen, während dem chiripero die Fraktionsqualität abgeschlagen wurde, so daß alle Ausschußvorsitzenden den drei großen Parteien AD, COPEI und Causa R angehören. Einerseits hat Caldera damit weitgehend freie Hand gegenüber seinen so ungleichen Gefolgsleuten, muß aber seine gesetzlichen Initiativen mit den beiden Großen abstimmen. Daher wurde von Anfang an von einem möglichen fujimorazo gesprochen, also der Ausschaltung des Kongresses durch den Präsidenten. Die Causa R verlangte sofort die Auflösung des Parlaments, die Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung und die Erarbeitung einer neuen, demokratischen Verfassung.
Bis zur Amtsübergabe am 2. Februar 1994 regierte Ramón J. Velázquez mit seinen Ministern mit Hilfe eines Ermächtigungsgesetzes. Ein neues Bankengesetz wurde auf diesem Weg erlassen, nach dem ausländische Banken in Venezuela direkt zugelassen werden können, die verhaßte Mehrwertsteuer wurde eingeführt, und das Projekt Cristóbal Colón wurde ebenso durchgesetzt wie die staatliche Kontrolle über die Banco Latino. Skandale umwittern das Ende seiner Interimspräsidentschaft: Nur ein Beispiel dafür ist die angeblich durch einen Trick gegen sein Wissen erreichte Unterschrift zur Begnadigung eines hohen kolumbianischen Drogenhändlers.
Vermißt: klare politische Linie
Seit ihrem Amtsantritt am 2. Februar hat die Regierung Caldera im wesentlichen die VenezolanerInnen enttäuscht. Mit der Finanzkrise, dem Rückgang der produktiven Investitionen und der Inflation hat die Arbeitslosigkeit stark zugenommen. Die Zahl der im informellen Sektor außerhalb des erst 1991 in Kraft getretenen neuen, von Caldera durchgesetzten fortschrittlichen, schützenden Arbeitsrechts Tätigen, hat stark zugenommen. Die Sozialversicherung leidet durch Mißwirtschaft an chronischer Geldknappheit, und es gibt immer wieder Demonstrationen der RentnerInnen um ihre Zahlungen.
Statt der erwarteten regulierenden Eingriffe in den Markt zum Schutz der VerbraucherInnen und sozial schwachen Schichten, statt der energischen Lösung der Finanzkrise und des Steuerproblems befaßte sich die Regierung damit, die Folgeprobleme des Eingriffes in die Banco Latino zu lösen, ohne den beteiligten mächtigen Finanzsektoren weh zu tun. Die Mehrwertsteuer auf KonsumentInnen-ebene wurde zwar wieder aufgehoben, aber verschiedene Minister traten immer wieder für ihre Notwendigkeit ein. Die Abwertung der Währung beschleunigte die Inflation, und die Dollarknappheit führte zu Versorgungsproblemen. Die neue Maßnahme der Devisenkontrolle und das Einfrieren der KonsumentInnenpreise finden daher unter der Mehrheit der Bevölkerung großen Anklang.
Ein weiteres offenes Problem ist die Frage der Außenverschuldung. Man hoffte, Caldera werde ein Schuldenmoratorium erreichen, da er immer von der ungerechten Einseitigkeit der Schuldenlast der Entwicklungsländer gesprochen hatte. Bisher sah es jedoch so aus, als wenn die Unterwerfung unter die Regeln des IWF weitergehen würde. Mit Spannung wird zu verfolgen sein, ob die jüngsten Maßnahmen, die mit den Vorgaben des IWF kaum vereinbar sind, zu einer Neuorientierung des Verhältnisses Venezuelas zum IWF führen wird.