Chile | Nummer 529/530 - Juli/August 2018 | Politik

“OHNE SPANNUNG GÄBE ES KEINE DYNAMIK”

Interview mit dem ehemaligen Sprecher des Parteienbündnisses Frente Amplio, Lucas Cifuentes

Nach dem guten Wahlergebnis des Frente Amplio (FA) und dessen ehemaliger Präsidentschaftskandidatin Beatriz Sánchez (siehe LN 523) wird das neue linke Parteienbündnis von Kreisen der neuen Mitte-Rechts-Regierung Sebastian Piñeras schon als zukünftiger Hauptgegner angesehen. Gleichzeitig sind die Herausforderungen groß. Im Interview sprachen die LN mit dem ehemaligen Sprecher des FA über die Beziehung zu den sozialen Bewegungen, interne Konflikte und Prioritäten bei der politischen Arbeit.

Interview: Martin Schäfer

Ihre Wähler*innen, viele davon enttäuscht von den früheren Mitte-Links-Regierungen, setzen nun große Hoffnungen in den Frente Amplio. Einige der neuen Abgeordneten des Bündnisses sind jedoch bereits frustriert, weil der Gesetzgebungsprozeß in Chile sehr langsam ist. Läuft der FA Gefahr, die geweckten Erwartungen zu enttäuschen?

Die politischen Institutionen in Chile sind antidemokratisch. Das politische System wurde zum großen Teil in der Militärdiktatur Pinochets geschaffen und seitdem nicht substanziell verändert. Das Wahlsystem wurde geändert, was Kräften wie uns den Einzug ins Parlament ermöglicht hat, aber sehr viele Hürden bleiben und verhindern, dass Mehrheiten sich Gehör verschaffen und entscheiden können. Das führt zu Frustration und Enttäuschung.
Allerdings sind wir überzeugt, dass strukturelle Veränderungen vor allem von den sozialen Bewegungen her kommen, auch wenn sie eine Stimme in den Institutionen brauchen. Wir können den chilenischen Neoliberalismus nicht nur aus dem Parlament heraus überwinden.

Wie sieht denn die Beziehung zwischen dem FA und den sozialen Bewegungen aus, um diese Veränderungen zu erreichen?

Der FA kommt aus diesen Bewegungen. Wir sind Studierende, Aktivisten, Arbeiter und Feministinnen, und diese Diversität wollen wir so gut wie möglich in die Institutionen tragen, ohne die Fehler der chilenischen Linken in der Vergangenheit zu wiederholen, die nach dem Ende der Diktatur die sozialen Organisationen an ihrer Basis oft vor allem unter dem Gesichtspunkt des Klientelismus betrachtet hat. Wir als FA müssen verstehen, dass die sozialen Bewegungen Autonomie brauchen. Unsere Herausforderung ist, wie wir uns mit ihnen verknüpfen und dabei ein institutioneller Orientierungspunkt sein können.

Können Sie uns das an einem konkreten Beispiel erläutern?

Ja, das allererste politische Treffen unserer neuen Parlamentsfraktion ein oder zwei Tage nach der Wahl war mit der Bewegung „No + AFP“, die die Abschaffung des derzeitigen fondsbasierten Rentensystems fordert (siehe LN 507/508). Viele von uns aus dem FA sind Teil dieser Bewegung, zum Teil auch in führenden Funktionen. Weitere Beispiele wären die kontinuierliche Zusammenarbeit mit dem Studierendendachverband Confech oder mit den Gewerkschaften. Abgesehen davon gibt es eine eigene Basisarbeit des FA auf lokaler Ebene. Neben den Mitgliedern beteiligen sich dort auch viele Unabhängige.

Das FA besteht aus vielen Gruppierungen und wurde erst letztes Jahr gegründet. Es gab zuletzt mehrere interne Meinungsverschiedenheiten, beispielweise zur Frage, ob der FA in von der Mitte-Rechts-Regierung einberufenen Kommissionen mitarbeiten soll oder nicht, und sogar handfeste Konflikte zwischen Parteien des FA. Dennoch lehnen einige im Bündnis ein höheres Maß an Koordination ab. Wie sehen Sie diese internen Prozesse, und was bedeuten sie etwa für den Fortschritt in der parlamentarischen Arbeit?

Wie bei jeder neuen Kraft gibt es im FA verschiedene Vorstellungen und Spannungen, die ich für gesund, ja sogar notwendig halte. Ohne Spannung gäbe es auch keine Dynamik und wir wären wie eine der alten Parteien. Wir möchten, dass die einzelnen Gruppierungen im FA Raum und Entfaltungsmöglichkeiten haben. Der FA macht eine andere Art Politik – demokratischer, partizipativer, horizontaler – und das ist immer eine komplexe Herausforderung, weil die Politik dich am Ende zwingt, täglich Entscheidungen zu treffen. Sehr wichtig ist, dass der FA dieses Jahr noch einen Kongreß veranstalten wird, auf dem wir uns mit grundlegenden strategischen Fragen wie etwa der internen Koordination beschäftigen werden.

Welche Bedeutung hat der internationale Austausch für den FA?

Wir müssen einen breiten Dialog aufbauen, denn in unseren globalisierten, verbundenen Gesellschaften sind die Herausforderungen oft sehr ähnlich, aber es gibt keine Rezepte dagegen. Wir pflegen daher Beziehungen zu verschiedenen Parteien und politischen Organisationen, Gewerkschaften, Stiftungen und Bewegungen und bauen neue auf, beispielsweise auch in Deutschland.
Es kommt hinzu, dass wir die Situation einer politisch polarisierten Gesellschaft mit einem herzzerreißenden, unmenschlichen Neoliberalismus auf der einen Seite und einer vielleicht etwas diffusen, aber anti-neoliberalen Alternative auf der anderen Seite nicht nur in Chile sehen, sondern auch anderswo in Lateinamerika, in Spanien mit Podemos, in Frankreich mit La France Insoumise oder in England mit der Bewegung von Corbyn.
Konkret gibt es viele europäische Unternehmen, die unsere Ressourcen, unsere Arbeiter und Arbeiterinnen ausbeuten. Als Arbeiter brauchen wir Kontakt zu den Gewerkschaften, die in diesen Unternehmen aktiv sind. Ich sprach in Berlin gerade über die vermeintliche Robotisierung der Arbeit. Unsere deutschen Partner sagen uns, dass dahinter viele Lügen und falsche Drohungen stecken, um Arbeitsbedingungen zu verschlech­tern, und wir lernen daraus für Chile. Diejenigen im FA, die sich – wie meine Partei, die Freiheitliche Linke – als sozialistisch verstehen, tauschen sich darüber aus, welchen Sozialismus wir anstreben, einen post-extraktivistischen, lernenden Sozialismus.

Welche Rolle will der FA in der Opposition spielen und mit welchen anderen Parteien kann er sich etwa Allianzen vorstellen?

Das oberste Ziel des FA ist es, um jeden Preis zu erreichen, dass der Zyklus der Protestbewegungen in Chile seit dem Jahr 2006 und die Unzufriedenheit mit dem Neoliberalismus nicht beendet werden, sondern bestehen bleiben und wachsen – in Bezug auf Programm, Mobilisierung und Konfliktfähigkeit. Der FA ist heute der einzige Akteur in Chile, der eine Alternative zum neoliberalen Modell aufzeigen kann. Die ehemalige Mitte-Links-Koalition Nueva Mayoría (NM) hat in mehreren Regierungen die Essenz dieses Modells nicht angerührt, in der letzten Bachelet-Regierung hat sie ihre progressive Reformagenda stark betont und trotzdem aus Mangel an politischem Willen und Überzeugung nicht umgesetzt. Wir als FA müssen im Rahmen eines Dialogs und gemeinsamen Vorschlägen diejenigen progressiven Kräfte in der Linken und der NM anführen, die dazu bereit sind.

Welche Prioritäten gibt es für die politische Arbeit in den nächsten vier Jahren?

Zunächst hat jede der Parteien im FA ihre eigenen Prioritäten. Viele von uns denken, dass es in der aktuellen Situation – weder die rechte Regierung, noch die ehemalige NM, noch wir haben eine Parlamentsmehrheit – am wichtigsten ist, demokratische Minimalstandards zu erreichen. Einige Kompetenzen des Verfassungungsgerichts sind zutiefst undemokratisch und unerträglich. Der autoritäre Charakter der Verfassung mit den für viele Gesetze geforderten, sehr hohen, über eine absolute Mehrheit hinausgehenden Zustimmungsquoren muss überwunden werden. Diese Agenda halten wir für umsetzbar, aber nur mit einer großen Anstrengung.
Daneben kämpfen wir für einige spezifische Forderungen wie zum Beispiel das erwähnte „No + AFP“, für das freie Recht auf Wassernutzung (siehe LN 527) oder für die Kontrolle über die Lithium-Vorkommen, allerdings werden sie mit den aktuellen Institutionen schwer umzusetzen sein. Manchmal bestimmen auch die sozialen Entwicklungen die Agenda. Ausgehend von der feministischen Bewegung kämpfen wir etwa für die zentrale Forderung nach einer nicht-sexistischen Erziehung (siehe LN 528).
Die Kommunalwahlen im Jahr 2020 sind wichtig für uns, da die Gemeindeverwaltungen in Chile – wie etwa die von Bürgermeister Jorge Sharp in Valparaíso – zeigen, dass sie das Leben der Menschen in konkreten Punkten verbessern können. Der FA wird also eine starke kommunale Kampagne machen müssen, die hoffentlich in verschiedenen Städten und Gemeinden Erfolg haben wird.
Und wir bereiten uns schon auf die nächsten nationalen Wahlen vor, da der FA das nächste Mal die Regierung stellen muss, das ist für uns sehr klar. Um zu gewinnen, müssen wir eine Vision für Chile anbieten, die so weit weg wie möglich von dem kommerzialisierten, privatisierten, ungleichen, aggressiven, machistischen und patriarchalen Land von heute ist. Ein radikal anderes Gesellschaftsmodell mit sozialen Rechten und Gleichberechtigung der Geschlechter, mit einem für die Bürger und die Bewegungen offenen politischen System. Sonst werden wir scheitern.

 

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