Nummer 443 - Mai 2011 | Uruguay

Paradies der Straflosigkeit vor dem Aus

Nach Entscheidung von Repräsentantenhaus und Senat in Uruguay soll das Amnestiegesetz von 1986 seine Gültigkeit verlieren

Jahrzehnte der Straflosigkeit könnten bald vorbei sein: Beide Kammern des uruguayischen Parlaments haben für eine Annullierung des Amnestiegesetzes von 1986 gestimmt. Doch die Entscheidung wurde für das Regierungsbündnis Frente Amplio zur Zerreißprobe, weil drei Senatoren gegen die Abschaffung stimmen wollten.

Stefan Thimmel

Seit 26 Jahren ziehen an jedem 20. Mai tausende Menschen schweigend durch die Innenstadt von Montevideo. Sie erinnern an die während der Militärdiktatur von 1973 bis 1985 Ermordeten und „Verschwundenen“. Bisher schützte ein Amnestiegesetz die TäterInnen weitestgehend. 2011 soll jedoch an diesem für viele UruguayerInnen symbolträchtigen Tag das „Gesetz über die Hinfälligkeit des Strafanspruchs des Staates“ seine Gültigkeit verlieren. So haben es die ParlamentarierInnen der regierenden Mitte-Links-Koalition Frente Amplio in Uruguay entschieden.
Zunächst hatte das Repräsentantenhaus am 20. Oktober 2010 mit seiner linken Mehrheit das 1986 von der damaligen konservativen Regierung unter Julio María Sanguinetti verabschiedete so genannte „Ley de Caducidad“ („Hinfälligkeits-Gesetz“) in seinen wesentlichen Artikeln für ungültig erklärt. Am 12. April 2011 wurde es auch im Senat, der zweiten Parlamentskammer, mit einer Stimme Mehrheit aufgehoben. Wegen formaler Änderungen müssen jetzt noch einmal abschließend die Abgeordneten abstimmen, dann ist der Weg frei für die Unterzeichnung durch den Staatspräsidenten José Mujica. Obwohl sich der ehemalige Tupamaro-Guerrillero immer noch nicht zweifelsfrei dazu geäußert hat, wird jedoch davon ausgegangen, dass der Präsident den Beschluss unterzeichnet und das Amnestiegesetz damit seine Gültigkeit verlieren wird. Damit wäre auch Uruguay, das Land in Lateinamerika, in dem während der Militärdiktatur in Bezug auf seine Einwohnerzahl die meisten Menschen inhaftiert wurden, kein Paradies der Straflosigkeit mehr.
Während im Abgeordnetenhaus die Frente Amplio-Mehrheit geschlossen abstimmte, führte das Votum im Senat zu einer Zerreißprobe für das 1971 gegründete älteste Linksbündnis Lateinamerikas. Nach einer mehr als zwölf Stunden andauernden hitzigen Debatte stimmte der uruguayische Senat mit 16 Stimmen der Linkskoalition gegen das Gesetz, das die strafrechtliche Verfolgung von Verbrechen, die während der Militärdiktatur von Angehörigen des Militärs und der Polizei begangen wurden, untersagt hatte. 15 SenatorInnen der geschlossen auftretenden konservativen Opposition stimmten für die Beibehaltung des Amnestiegesetzes.
Für heftige Diskussionen hatten im Vorfeld der Abstimmung die Positionen von drei Senatoren der Frente Amplio gesorgt, die sich – entgegen allen Beschlüssen der obersten Gremien des Parteien- und Bewegungsbündnisses und gegen den expliziten Willen der Basiskomitees – entschieden hatten, gegen die Aufhebung des Gesetzes zu stimmen. Gefunden wurde letztlich ein „fauler“ Kompromiss, der von den Menschenrechtsorganisationen und der Vereinigung der Familienangehörigen der Verschwundenen und Ermordeten trotz aller Freude über das abzusehende Ende der straffreien Zeit heftig kritisiert wurde.
Am meisten Aufmerksamkeit erregte dabei die Haltung des Senators Eleuterio Fernández Huidobro. Huidobro, genannt „El Ñato“, war einer der GründerInnen der Tupamaros und ebenso wie José „Pepe“ Mujica dreizehn Jahre lang unter extremsten Bedingungen während der Militärdiktatur inhaftiert. Seit 2004 ist er Senator für die Frente Amplio. Er stimmte letztlich aus Parteidisziplin der Aufhebung des Gesetzes zu, trat aber am folgenden Tag von seinem Senatsposten zurück. Der Senator Jorge Saravia hingegen blieb bei seinem Nein – und wurde direkt im Anschluss an die Abstimmung aus der Partei verstoßen. Senator Rodolfo Nin Novoa, unter Tabaré Vázquez Vizepräsident, ließ sich beurlauben und überließ das Stimmrecht seinem Stellvertreter.
Saravia und Novoa argumentierten vor allem damit, dass der Wille des Volkes zu respektieren sei. Sie bezogen sich hierbei auf die beiden Volksabstimmungen zur Abschaffung des Gesetzes über die Straflosigkeit von 1989 und 2009. Sowohl im April 1989, noch unter dem Eindruck des Schreckens der vier Jahre vorher abgetretenen Militärregierung, als auch im Oktober 2009 wurde die notwendige Mehrheit von 50 Prozent plus eine Stimme, die zur Annullierung des Gesetzes notwendig gewesen wäre, nicht erreicht. Am 25. Oktober 2009, dem Tag als die ehemalige Geisel des Staates „Pepe“ Mujica den ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen deutlich gewann, fehlten dafür nur gut knapp zwei Prozent der Stimmen.
Sowohl innerhalb der Frente Amplio als auch von den Menschenrechtsorganisationen wurde diese formale Position, die sich die Opposition bei ihrer Kampagne gegen die Abstimmung im Parlament als Hauptargument zu Eigen machte, scharf kritisiert. „Das Ley de Caducidad war für uns immer null und nichtig, und es hat immer allen internationalen Abkommen über die Achtung und den Schutz der Menschenrechte, die Uruguay seit Mitte der 1980er Jahre unterschrieben hat, widersprochen“, so Luisa Cuesta, Sprecherin der Mütter und Familienangehörigen der „Verschwundenen“. Aus diesen Gründen hatten auch schon beide Kammern des Parlamentes im Februar 2009 das Amnestiegesetz im Falle der Ermordung der 24jährigen Nibia Sabalsagaray für verfassungswidrig erklärt. In der Folge wurden mehrere Militärangehörige, die für die Ermordung der jungen Kommunistin verantwortlich gemacht werden, zu Haftstrafen verurteilt. Eine Entscheidung, die kurz darauf vom obersten Gerichtshof Uruguays nicht nur bestätigt, sondern noch erweitert wurde.
Das Gericht wertete damals das Gesetz insgesamt als verfassungswidrig, vor allem mit der Begründung, dass die Legislative es 1986 gar nicht hätte beschließen dürfen. Zuvor hatten die Obersten Richter mehrere weitere Fälle für verfassungswidrig erklärt und so während der Regierungszeit des ersten Linkspräsidenten Tabaré Vázquez von März 2005 bis März 2010 den Weg für Nachforschungen und Gerichtsverfahren in insgesamt 57 Fällen geebnet. Vázquez, der einerseits das Amnestiegesetz immer als „nationale Schande“ bezeichnet hatte, während seiner Amtszeit aber keine Initiativen zur Abschaffung unterstützte, stellte sich dieses Mal klar hinter die Haltung der Mehrheit seiner Partei. Dies auch aus wahltaktischem Kalkül. Der immer noch sehr beliebte Ex-Staatspräsident plant schon seine erneute Kandidatur für die Legislaturperiode von 2015 bis 2020.
Für Huidobro hingegen ist die Annullierung des Amnestiegesetzes auch aus anderen Gründen falsch. „Die Frente Amplio begeht einen schweren Fehler”, so sein letztes Wort als Senator. Für ihn waren die Militärs ebenso wie die Tupamaros „Kämpfer“. Beide Gruppen, so Huidobro, haben Fehler begangen, für die sie heute nicht mehr verantwortlich gemacht werden können. Eine aus den 1960er Jahren stammende Logik des 69jährigen, die selbst die meisten seiner ehemaligen Mitkämpfer, geschweige denn die übergroße Mehrheit der Mitglieder der heutigen Frente Amplio nicht nachvollziehen kann: Die Linke im Jahre 2011 müsse grundsätzlich ein anderes Verständnis von Menschenrechten haben als in den 1960er und 1970er Jahren, lautet die Kritik an Huidobros Haltung. Zudem würde durch die Gleichsetzung von Militärs und Stadtguerilla auch verkannt, dass der Staatsterrorismus das Ziel hatte, ein neoliberales ökonomisches Modell zum Wohl weniger auf Kosten vieler durchzusetzen, es also keine militärische Auseinandersetzung war, sondern es vor allem um wirtschaftliche Interessen ging.

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