Berlinale | Nummer 501 - März 2016

PLANLOS AM AMAZONAS

Dem Spielfilm Antes o tempo não acabava misslingt die Verbindung von Tradition und Moderne gründlich

Von Dominik Zimmer

Manaus ist bislang nicht als Mekka für Kinofilme bekannt. Insofern ist es zunächst einmal begrüßenswert, dass Antes o tempo não acabava („Früher war die Zeit endlos“) die Millionenmetropole inmitten des brasilianischen Amazonasgebietes auf die cineastische Landkarte bringt. Beim Betrachten des Films weicht die Freude aber schon bald großer Enttäuschung und am Schluss sogar Verärgerung. Denn die Darstellung des Zusammenstoßes von traditionellen und modernen Lebensweisen, die in Manaus so präsent ist wie an nur wenigen anderen Orten der Welt, haben die beiden Filmemacher Sérgio Andrade und Fábio Baldo gründlich in den tropischen Sand gesetzt.
Dabei gäbe die Ausgangssituation einiges für eine interessante Geschichte her. Der Protagonist des Films ist Anderson, ein junger Fabrikarbeiter, der gemeinsam mit seiner Schwester und deren kranker Tochter in einfachsten Verhältnissen in der Vorstadt von Manaus wohnt. Geboren wurden Beide in einer indigenen Gemeinschaft im Regenwald. Anderson hat deren schamanische Initiationsriten durchlaufen, an die er sich nur ungern erinnert. Doch auch in der Stadt suchen Mitglieder der Gemeinschaft ihn und seine Schwester noch auf: Die kranke Nichte wird als Belastung angesehen und soll geopfert werden. Widerwillig stimmt Anderson dem Ritual schließlich zu, verflucht danach aber wütend die Götter und entsagt seiner Herkunft, um sein Glück im Stadtzentrum von Manaus zu suchen. Doch auch dort lassen der Schamane und sein Gehilfe ihn nicht ihn Ruhe: Sie sehen Anderson als verirrten Wanderer, der auf den rechten Weg zurückgebracht werden muss und bereiten ein weiteres Ritual vor, um ihm zu helfen.
Andersons Weg zwischen den beiden Welten gerät im Film zu einem planlosen Herumstolpern. Seine Aktivitäten in der Großstadt wirken oft beliebig, die Szenen zusammenhanglos, sein Verhalten widersprüchlich. Letzteres wäre bei einem Menschen auf Sinnsuche noch verständlich. Weil der Plot aber in sich nicht schlüssig ist und außerdem vor Lücken und abgebrochenen Erzählsträngen nur so strotzt, verläuft die Geschichte schon bald im Nichts. Zum Beispiel arbeitet Anderson als Friseur für eine NGO, obwohl er nach eigener Aussage NGOs nicht mag, da sie „sein Dorf betrogen“ haben (wie und warum, wird nicht näher erklärt). Seine Eltern ignoriert der Film völlig, obwohl es zum Beispiel durchaus interessant wäre, zu erfahren, wie die Familie über die Opferung der Enkeltochter denkt. Auch Andersons Schwester entschwindet nach der schmerzhaft-bewegenden Opferszene ins filmische Nirwana. Stattdessen wird ausführlich gezeigt, wie sich der Protagonist von einem schwulen One-Night-Stand ausnutzen lässt, was aber ebenfalls ohne Konsequenzen für die weitere Handlung bleibt. Außerdem ist der Film entgegen der Beschreibung alles andere als wertfrei. Weiße Personen werden überwiegend als positiv porträtiert (die mythische Gestalt Mapinguari erscheint Anderson beispielsweise als weißer Mann), die indigene Welt als einengend und bedrohlich. Zum echten Ärgernis wird das bei den Figuren des Schamanen und seines Helfers: Zwei verrückte Scharlatane, die auf Teufel komm raus allen Mitgliedern der Gemeinschaft ohne Not ihren seltsamen Hokuspokus überstülpen wollen und dabei selbst vor Gewalt nicht zurückschrecken. Man könnte sich über diese lächerliche Darstellung gut lustig machen, würden dadurch nicht abgeschmackteste rassistische Stereotype transportiert. Mit denen geht es auch bis zum Ende munter weiter. Als Krönung des Films lässt die hübsche weiße Entwicklungshelferin den Indigenen zu sich ins Bett hüpfen: Hurra, die kulturelle Fusion ist geglückt! Gefeiert wird das dann mit sinnfreiem Geschrei auf dem Amazonas, was wohl die Verbindung zur Natur symbolisieren soll. Soziale Kämpfe, die Zerstörung und Ausbeutung von indigenen Gemeinschaften und ihrer Werte werden nur am Rande angesprochen und dadurch bagatellisiert. Die einzig sehenswerte Szene von Antes o tempo não acabava zeigt zu Beginn des Films zwei junge Rapper, die sich mit weißen und indigenen Sichtweisen duellieren. „Wenn du Stress machst, ruf ich die FUNAI!“, rappt der Indigene. Und man wünscht sich, er hätte den Gang zur staatlichen Indigenenorganisation Brasiliens auch den Machern dieses Films vor seiner Veröffentlichung angedroht.

Antes o tempo não acabava // Fábio Baldo, Sérgio Andrade // Brasilien, Deutschland 2016 // 85 min // Berlinale Panorama Special


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren