Argentinien | Nummer 348 - Juni 2003

Präsident ohne Volkes Gnaden

Der neue Präsident Kirchner wird nicht gewählt, sondern ins Amt manövriert

Die für den 18. Mai geplante Stichwahl um die argentinische Präsidentschaft fiel aus. Vier Tage zuvor hatte der peronistische Ex-Präsident Carlos Menem seine Kandidatur niedergelegt, sodass am 25. Mai automatisch sein peronistischer Rivale Néstor Kirchner als neuer Präsident vereidigt wurde. Sowohl die politische Landschaft im Ganzen als auch der Peronismus weisen tiefe Risse auf und durch Menems Schachzug haftet Kirchners demokratischer Legitimität nun ein Makel an: Er wurde nicht gewählt.

Michael Goebel

Wer in diesen Tagen die Panamericana in Richtung Buenos Aires fährt, den überrascht der Ausgang der argentinischen Präsidentschaftswahl zunächst nicht. „Kirchner Presidente“ steht allenthalben auf beiden Seiten der Autobahn zu lesen. Und tatsächlich: Néstor Kirchner, Peronist und bisher Gouverneur der südlichen Provinz Santa Cruz, wurde am 25. Mai vereidigt. Er war der bevorzugte Kandidat des bisherigen Übergangspräsidenten Eduardo Duhalde, der als ehemaliger Gouverneur der Provinz Buenos Aires immer noch den dortigen peronistischen Apparat und damit viele Wählerstimmen beherrscht. Mit 38 Prozent der Bevölkerung des Landes gilt Buenos Aires als die entscheidende Provinz, um Wahlen zu gewinnen.
Doch Kirchner gelangte auf anderem Wege an die Staatsspitze. Zwar sagten alle Umfragen voraus, dass er die für den 18. Mai geplante Stichwahl gegen den ebenfalls peronistischen Ex-Präsidenten Carlos Menem mit einer deutlichen Mehrheit gewinnen würde. Doch dazu kam es nicht, nachdem Menem nach tagelangen Spekulationen vier Tage vor der Wahl bekannt gab, dass er wegen Duhaldes „Betrügereien“ nicht antrete. „Kirchner soll zusehen, wo er mit seinen 22 Prozent bleibt, ich habe das Volk auf meiner Seite,“ sagte Menem in Anspielung auf Kirchners Stimmenanteil in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl am 27. April.

Einfall eines Besoffenen

Unmittelbar nach dem ersten Wahlgang präsentierte Menem der argentinischen Öffentlichkeit eine bisher unbekannte Seite, offensichtlich überrascht von seinem Stimmenanteil von 24 Prozent, den seine Berater vor der Wahl als deutlich höher eingeschätzt hatten. Der 72-Jährige wirkte verunsichert und senil, in Talkshows verhaspelte er sich immer wieder und brachte Zahlen durcheinander. „Gerade sahen wir den Ex-Präsidenten im Boxring mit der Realität,“ kommentierte ein Journalist Menems ersten Fernsehauftritt in der Wahlnacht. Vergeblich bemühte sich Menem in der Folgezeit politische Allianzen zu schmieden, die ihm weitere Stimmen für die Stichwahl bescheren sollten.
Auch seine politische Strategie hinterließ einen wirren Eindruck. Im eigenen Lager brachen Grabenkämpfe aus, nachdem ihm Berater nahe gelegt hatten, zurückzutreten. Die Rücktrittsgerüchte bezeichnete er da noch als „den Einfall eines Besoffenen.“ Als Nächstes bezichtigte er Duhalde des Wahlbetrugs, ließ dann aber wieder von dem Vorwurf ab, als sich herausstellte, dass er auf keinerlei Resonanz stieß. Schließlich beschwerte er sich darüber, dass die Wahlen nicht demokratisch gewesen seien, weil es drei peronistische Kandidaten gegeben habe und außerdem weil der 53 Jahre alte Kirchner in den siebziger Jahren Mitglied der peronistischen Guerilla Montoneros gewesen sei.
Tatsächlich aber scheint Menem seine letzte Chance wahrgenommen zu haben, aus der misslichen Lage Kapital zu schlagen. Zum einen ist es ihm gelungen, ein Klima der politischen Unsicherheit zu schüren, dass er stets zu seinen Gunsten auszunutzen vermochte. Menems Wahlkampf beruhte bereits auf einem weit verbreiteten Bedürfnis zur Normalität der neunziger Jahre zurückzukehren, als er Präsident war. Zum anderen hat er Kirchner die demokratische Legitimation verwehrt und bereits angekündigt, er werde „den Kampf nicht aufgeben“. Der ansonsten nüchterne Kirchner war denn auch empört über Menems Rücktritt und bezeichnete seinen vermeintlichen Konkurrenten in ungewohnt scharfem Ton als „Feigling“.
Kirchners Amtsantritt am 25. Mai ist somit nicht vom Volke abgesegnet, sondern überschattet von den Manövern der beiden wichtigsten Figuren des Peronismus, der Intimfeinde Menem und Duhalde. Die derzeitige Spaltung des Peronismus geht auf Machtkämpfe zwischen den beiden um Einflusssphären innerhalb des peronistischen Partido Justicialista (PJ) zurück. Zumal seit über sechzig Jahren kein nicht-peronistischer Präsident seine Amtszeit zu Ende bringen konnte, gilt eine Vormachtstellung im PJ als einzige Garantie auf eine erfolgreiche Politkarriere. Menem ist nach wie vor Vorsitzender des PJ.

Keine vernünftige Opposition

Hinzu kommt, dass die traditionell zweite Partei des Landes, die Radikale Bürgerunion (UCR), in den Wahlen mit ihrem Kandidaten Leopoldo Moreau in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht ist. Die meisten anderen KandidatInnen verließen sich hingegen auf eilends aus der Taufe gehobene Wahlvereine, deren weiteres Überleben ungewiss ist. So beklagte sich Kirchner zwar darüber, dass Menem sein Gegner in der Stichwahl sei, denn schließlich wolle er nach seinem vorhergesagten Wahlsieg eine „vernünftige Opposition“. Doch derzeit lässt sich weniger denn je eine Vereinigung ausmachen, die neben dem Peronismus eine langfristige Rolle in der argentinischen Politik beschieden sein könnte.
Zu den Erosionserscheinungen der politischen Landschaft sieht sich Kirchner mit weiteren Problemen konfrontiert. Zwar ist die Talsohle der Wirtschaftskrise durchschritten: Der Peso hat sich im Verhältnis zum US-Dollar bei etwa 35 Cents stabilisiert und der Internationale Währungsfonds (IWF) bestätigte erst kürzlich eine Wachstumsprognose des Bruttosozialprodukts von vier Prozent und eine Inflationsprognose von 15 Prozent für das laufende Jahr. Die grundlegenden Schwächen wie die Auslandsschuld von 154 Milliarden US-Dollar und die katastrophalen sozialen Auswirkungen wie 18 Prozent Arbeitslosigkeit und 20 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze bestehen allerdings fort.
Bereits in seinem Wahlkampf und erneut nach Menems Rücktritt erklärte Kirchner den Kampf gegen die Armut zu seiner obersten Priorität. Die sozialdemokratischen Punkte seines Wirtschafts- und Sozialprogramms unterstrich er bei einem Treffen mit dem brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, bei dem sich beide dafür aussprachen, der regionalen Integration des Mercosur Vorrang gegenüber der amerikanischen Freihandelszone (FTAA) einzuräumen. Außerdem sprach er sich für eine neokeynesianische Politik aus. „Ich werde kein Gefangener der Unternehmen sein“, kündigte er an.

Lavagna bleibt Wirtschaftsminister

Der amtierende und zukünftige Wirtschaftsminister ist Roberto Lavagna, was eine Beibehaltung der bisherigen Wirtschaftspolitik nahe legt. Das würde eine Fortsetzung des von Duhalde eingeführten Notstandsprogramms für Familien unter dem Existenzminimum und eine interventionistische Politik in der Zentralbank bedeuten, um am derzeitigen US-Dollarkurs festzuhalten. Ein weiterer möglicher Schritt ist die Herabsetzung der Mehrwertsteuer für die Produkte des grundlegenden Warenkorbs sowie eine Lohnanhebung im öffentlichen Dienst, um den Konsum anzuregen. In den für Mitte Juni anstehenden Verhandlungen mit dem IWF will Lavagna darüber hinaus erreichen, dass Argentinien den Schuldendienst für die kommenden drei Jahre einstellt.
Somit unterscheiden sich die wirtschaftspolitischen Eckpunkte von Kirchners Programm deutlich vom Neoliberalismus Menems. Auch sein politischer Stil ist ein anderer. So bereitet es dem Mann mit Schweizer Vorfahren stets Probleme, vor großen Versammlungen zu sprechen und sich nach klassisch peronistischem Muster als Patron der Armen zu geben. Im Gegensatz zu Menem, der seinen Sieg in der Stichwahl nach dem ersten Urnengang als „reine Formsache“ bezeichnete, hielt sich Kirchner fern vom Medienrummel und gab zurückhaltend bekannt, er wolle das Ergebnis der Stichwahl abwarten.
In den Kreisen des korrupten politischen Establishments bewegt er sich jedoch ebenfalls. Als Gouverneur der erdölreichen patagonischen Provinz Santa Cruz seit 1991, so heißt es, kaufte er Journalisten, entließ unbequeme Richter, benutzte Hubschrauber des öffentlichen Gesundheitsdienstes für Privatzwecke und verwandelte die Provinzhauptstadt Río Gallegos in ein Netzwerk peronistischer Patronage.
Ein Blick in Kirchners Vergangenheit lässt auch Zweifel daran aufkommen, wie ernst es ihm mit einer sozial verträglichen Politik ist. Zumindest profilierte er sich in seiner Amtszeit als Gouverneur als einer der eifrigsten Befürworter einer Privatisierung der ehemals staatlichen Ölgesellschaft Yacimientos Petrolíferos Fiscales (YPF). Da Santa Cruz zuvor Teileigentümer von YPF war, geht der heutige Reichtum der Provinz, den Kirchner im Wahlkampf immer wieder ins Feld führte, nicht zuletzt auf diese Privatisierung zurück. Ein ehemaliger Kongressabgeordneter sagte, dass es hierbei auch zu Schmiergeldzahlungen gekommen sei. Zudem wurde immer wieder spekuliert, ob es einen Zusammenhang zwischen der Privatisierung und einem Schweizer Bankkonto Kirchners gibt, auf dem sich angeblich über eine Million US-Dollar befindet.
Wen wundert es daher, dass Kirchner in seinem Kabinett auf einige enge Vertraute setzt, darunter seine Schwester Alicia Kirchner, die den einflussreichen Posten des Sozial- und Planungsministeriums besetzen wird. Die größte Überraschung war die Ernennung des namhaften Juristen Rafael Bielsa als Außenminister, der in der Außenpolitik aber als unerfahren gilt. Er kündigte breits an, es werde enge Beziehung zu den USA wie in den neunziger Jahren geben.

Dekrete zum Abschied

Kirchners Kabinett ist neben dem alten und neuen Wirtschaftsminister Lavagna von einigen weiteren Leuten Duhaldes besetzt, wie zum Beispiel Gesundheitsminister Ginés González García oder Verteidigungsminister José Pampuro. Duhalde selbst hat indessen angekündigt keinerlei Einfluss auf die neue Regierung zu nehmen und das Land nach dem 25. Mai für einige Tage zu verlassen. Kurz vor der Amtsübergabe warf er dennoch seinen Schatten über die neue Regierung. Per Präsidentialdekret begnadigte er 17 Verantwortliche für militärische Zusammenstöße in den späten achtziger Jahren, die beiden prominentesten davon einmal auf der extremen Rechten und einmal auf der Linken des politischen Spektrums: Mohamed Alí Seineldín, einer der so genannten Carapintadas, einer autoritären Fraktion des Militärs, die 1987 die demokratisch gewählte Regierung umstürzen und zu den Zeiten der Diktatur zurückkehren wollten.
Der andere ist Enrique Gorriarán Merlo, Chef der Guerilla Movimiento Todos por la Patria (MTP). Merlo saß wegen seiner Beteiligung an einem Angriff auf die Armeekaserne La Tablada in der Provinz Buenos Aires 1989. Die Guerilla-Gruppe wollte mit der Aktion einen drohenden Putschversuch der Militärs verhindern. Bei der Auseinandersetzung kamen 39 Menschen ums Leben, davon 28 Guerilleros.
Mit einem weiteren Dekret veranlasste Duhalde die Verstaatlichung der bankrotten Fluggesellschaft LAPA. Zum ersten Mal seit der Privatisierungswelle der frühen neunziger Jahre übernimmt der argentinische Staat damit wieder eine Rolle in der Wirtschaft. Zwar zeigte sich Kirchner mit diesem Schritt einverstanden, doch ist es unklar, welche Probleme die marode Fluggesellschaft der neuen Regierung in Zukunft bereiten wird. Nach einer Übergangsphase von 180 Tagen soll die erneute Privatisierung eingeleitet werden. Wirtschaftsminister Lavagna äußerte bereits Zweifel an der Verstaatlichung, da sich möglicherweise auf lange Sicht kein neuer Käufer für LAPA finden wird.
So hat sich Duhalde kurz vor seinem Abtritt noch bei der Arbeiterschaft beliebt gemacht, der neuen Regierung aber ein riskantes Erbe hinterlassen. Wenn er zurückkehrt will er es allerdings wieder mit Menem aufnehmen und ihm den Vorsitz des PJ streitig machen. So bleibt weiterhin unklar, in welche Richtung der Peronismus und die verbleibenden politischen Strömungen in der kommenden Legislaturperiode steuern. Den ArgentinierInnen bleibt derweil nichts anderes übrig als abzuwarten, welchen Kurs ein Präsident aufnimmt, den sie nicht einmal gewählt haben.

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