Argentinien | Nummer 348 - Juni 2003

Recht auf Arbeit gegen Recht auf Eigentum

Der lange Kampf der Brukman-Frauen

Seit Dezember 2001 führten 50 Arbeiterinnen eine argentinischen Kleiderfabrik in Eigenregie. Vor drei Wochen wurde sie zum dritten Mal geräumt. Eine Verhandlungslösung scheitert an mangelnder Kompromissbereitschaft.

Gerhard Dilger

Es ist Herbst in Buenos Aires. Elvira Ocampo hat sich eine warme Wolljacke über den hellblauen Arbeitskittel gezogen. Mit zwei Kolleginnen sitzt sie an einem Tisch auf einer gesperrten Fahrspur der Avenida Jujuy mitten in der argentinischen Hauptstadt. Direkt gegenüber sichern 20 Polizisten in Kampfmontur den Eingang zur Kleiderfirma Brukman.

Symbol Brukman

Das sechsstöckige Gebäude und seine Umgebung sind zum Schauplatz des wohl symbolträchtigsten Arbeitskonflikts in Argentinien geworden. Zwei Tage, bevor Präsident Fernando de la Rúa mit seinem Hubschrauber das Weite suchte, am 18. Dezember 2001, blieben auch die Eigentümer Jacobo, Enrique und Mario Brukman ihrer Firma fern, die damals wegen der landesweiten Rezession und Missmanagement kurz vor der Pleite stand. Die Lohnzahlungen waren im Dezember praktisch zum Stillstand gekommen – parallel zum berüchtigten corralito, der Sperrung der Sparkonten von Millionen ArgentinierInnen. Der Slogan jener Tage – „Que se vayan todos!“ (Alle sollen sie verschwinden!) – schien bei Brukman völlig überraschend Wirklichkeit geworden zu sein. Bei Elvira Ocampo, die seit 1990 in der Firma arbeitet, schwingt ein vorwurfsvoller Unterton mit, wenn sie sagt: „Sie haben uns einfach verlassen.“
Über den weiteren Fortgang gibt es zwei Versionen. Die 115-köpfige Belegschaft war ratlos. 51 Frauen und Männer blieben in der Fabrik und warteten, die Übrigen zogen sich zurück. Nach zwei Wochen und drei überforderten Übergangsstaatschefs war im Präsidentenpalast der Peronist Eduardo Duhalde installiert, doch die Brukman-Brüder blieben verschollen. „Ende Januar 2002 entschlossen wir uns, die ausstehenden Rechnungen zu bezahlen und die Produktion in eigener Regie wieder aufzunehmen“, erzählt Elvira Ocampo. Im Arbeitsministerium fragten die Arbeiterinnen nach, ob sie dafür Anzüge aus dem Lagerbestand verkaufen durften – und bekamen grünes Licht.

Entführung einer Fabrik?

Die Brukmans sehen das anders. Am Telefon sagt einer der Brüder, über den Konflikt wollten sie selbst nicht reden, „der ist zu sehr emotional besetzt.“ Doch für ihren Anwalt Jaime Muszkat handelt es sich schlicht um eine „Entführung der Fabrik“, eine „Ausbeutung der Besitzer“. Auf seine Strafanzeigen hin kam es im März und im November 2002 zu zwei Räumungen. Jeweils nach wenigen Stunden gaben die Richter jedoch den Weg für die Belegschaft wieder frei, um eine gewalttätige Konfrontation zu vermeiden.
Über ein Jahr lang belieferte der selbstverwaltete Betrieb einen Großteil der alten Kunden. Im Erdgeschoss wurde eine Verkaufstheke eingerichtet. „Unseren Wochenlohn haben wir sogar von 100 auf 150 Pesos erhöhen können“, berichtet Elvira Ocampo. „Ohne die Unterstützung der Nachbarn, aber auch der piqueteros (Arbeitslosenaktivisten), der Studenten und der Stadtteilversammlungen wären wir aber nicht so weit gekommen.“ Brukman wurde zum Vorzeigebeispiel der gut 100 besetzten und von den ArbeiterInnen verwalteten Betriebe im Lande und somit der „neuen“ ArbeiterInnenbewegung, die in den letzten Jahren entstanden ist.
In der Firma wehte ein neuer Wind. Keine Aufseher mehr, die den Arbeiterinnen untersagten, in ein anderes Stockwerk zu gehen. Auch kein stures Durcharbeiten von sieben Uhr früh bis nachmittags um fünf. Allerdings auch: Unzählige Versammlungen nach Feierabend, kaum noch Privatleben. Elvira Ocampo: „Wir haben viele Opfer gebracht, und mein Mann war alles andere als begeistert.“
Das achtköpfige Führungsgremium um die Sprecherin Celia Martínez politisierte sich zusehends und forderte von der Stadt Buenos Aires die Enteignung von Maschinen und Gebäuden. Der Stadtrat schlug im Gegenzug eine auf zwei Jahre begrenzte Enteignung vor, um die Bildung einer Genossenschaft zu ermöglichen. Die Arbeiterinnen beharrten jedoch auf der definitiven Verstaatlichung: „Die Bildung einer Kooperative ist uns zu riskant“, meinte Celia Martínez vor einem Jahr, „wir trauen uns nicht zu, im Wettbewerb zu bestehen. Außerdem wollen wir bei einer Vergrößerung der Belegschaft nicht zu Arbeitgebern werden“.
„Das Recht auf Arbeit steht gegen das Recht auf Eigentum“, bringt Mariana Salomón, eine der Anwältinnen der Brukman-Frauen, den juristischen Grundkonflikt auf den Punkt. Im Krisenland Argentinien, wo mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter die Armutsgrenze gesackt ist, bekommt er eine zusätzliche Brisanz. Dass die „Eigentumsinteressen“ dabei nicht immer der oberste Wert sein müssen, räumte im letzten Jahr ein Richter sogar ausdrücklich ein, als er einen der Räumungsbefehle wieder aufhob.
Doch die Brukmans ließen nicht locker. Und Richter Jorge Rimondi, der den Fall im April übertragen bekam, nahm sich vor, den mittlerweile erlassenen dritten Räumungsbefehl konsequent durchzusetzen: In der Nacht zum Karfreitag drangen erneut vermummte und schwer bewaffnete Einheiten der Bundespolizei völlig überraschend in die Fabrik ein, gegen die Räumung war an den Feiertagen kein Einspruch möglich. Vermittlungsversuche von Anwälten und Politikern gingen ins Leere, die Regierung versteckte sich hinter der „Unabhängigkeit der Justiz“.
Am Ostermontag stellten sich die Arbeiterinnen um Celia Martínez an die Spitze einer Demonstration, hakten sich unter und schubsten die Absperrungen um. Es folgte der brutalste Polizeieinsatz des Jahres. Mit Schlagstöcken, Gummigeschossen und Tränengas veranstaltete die Polizei eine stundenlange Menschenjagd, verletzte 30 DemonstrantInnen und nahm über 100 verübergehend fest. „Ich hatte noch tagelang Kopfschmerzen und Schwindelgefühle“, sagt Elvira Ocampo, die von einer Gummikugel an der Schläfe getroffen wurde. „Wir wurden behandelt wie Verbrecher, dabei wollten wir doch nur zurück an unsere Arbeitsplätze.“
100 Meter von der Fabrik haben die Frauen ihr Hauptquartier in einem Zelt und eine Gemeinschaftsküche eingerichtet. Dutzende von Unterstützern campen daneben. Am ersten Mai versammelten sich Tausende vor der Textilfabrik und zogen anschließend vor den Präsidentenpalast an der Plaza de Mayo.

Sektiererisch in die Sackgasse?

Juristisch ist die Auseinandersetzung in einer Sackgasse gelandet. Scheinbar sitzt die Brukman-Belegschaft am kürzeren Hebel, zumal sich ihre ehemaligen Kolleginnen, die sich nicht an der Besetzung beteiligt hatten, auf die Seite der Eigentümer geschlagen haben. Zudem hat der Betrieb, anders als die meisten anderen besetzten Fabriken, noch keinen Konkurs angemeldet.
So plädiert selbst Richter Rimondi für „alternative Lösungen“, die mit dem Arbeitsministerium und der Stadtregierung ausgehandelt werden müssten. Doch auf dieser Ebene sind die Fronten ebenfalls verhärtet. „Wir bestehen auf dem Rückzug der Polizei und der Verstaatlichung“, sagt Celia Martínez. Darüber hinaus fordert sie ein Startkapital von 47.000 Euro, branchenübliche Mindestlöhne sowie Aufträge von Krankenhäusern und anderen staatlichen Einrichtungen. Das peronistische Arbeitsministerium und die Mitte-Links-Stadtregierung bieten hingegen nur die Gründung einer neuen Firma mit finanzieller und technischer Hilfestellung an.
„Wir wollen einfach nur arbeiten, mit Politik haben wir nichts am Hut“, versichern mehrere Brukman-Arbeiterinnen hinter vorgehaltener Hand. Dass die Ablehnung von Kompromisslösungen vor allem im vergangenen Frühling, als das politische Klima günstig war, ein Fehler gewesen sein könnte, will allerdings kaum jemand wahrhaben.
Hinter den Kulissen buhlen die tief zerstrittenen trotzkistischen Splittergruppen „Partei der Arbeiter für den Sozialismus“ (PTS) und „Arbeiterpol“ (OP) seit Jahr und Tag um die Meinungsführerschaft. Im PTS-Blatt „Arbeiterwahrheit“ wittert man eine „unmittelbar bevorstehende Arbeiterhegemonie“. Vor dem Betrieb hört sich das so an: „Wir haben gezeigt, dass wir eine Fabrik leiten können, also können wir auch ein Land leiten.“ Hinter dem Mikrofon sitzt Elisa Díaz von der Sprecherinnengruppe, die ZuhörerInnen klatschen begeistert.

Argentinischer Mikrokosmos

So droht der Kampf der 50 Frauen und sechs Männer, die seit drei Wochen auf der Straße sitzen, an eben jenen Schwächen zu scheitern, die die argentinische Linke insgesamt auszeichnet: an Uneinigkeit, Kompromisslosigkeit und Realitätsverlust. Im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen erlebte die traditionelle Politikerkaste, allen voran die Peronisten, ein erstaunliches Comeback. Der von den meisten Basisaktivisten propagierte Wahlboykott fand nicht statt, und die angetretenen Linken blieben zusammengerechnet unter fünf Prozent.
Verstaatlichungen passen da schlecht in die Landschaft, zumal am 24. August die Bürgermeisterwahlen in Buenos Aires stattfinden. Bis dahin dürfte sich der linksliberale Amtsinhaber Aníbal Ibarra, der wiedergewählt werden will, noch mehr vor jeder Maßnahme scheuen, die ihm als Angriff auf das Privateigentum ausgelegt werden könnte.
Die Brukman-Frauen sind allerdings auch ein Beispiel an Ausdauer und Kampfeslust, der Mut macht. „Wenn Rosa Luxemburg hier wäre, würde sie sich Celeste Luxemburg nennen“, heißt es in Anspielung auf die hellblaue Arbeitskleidung auf einem Transparent, das Feministinnen vor dem Hauptzelt aufgepflanzt haben. Immer wieder kommen Nachbarn oder Unbekannte vorbei, um Geld oder Lebensmittel zu spenden.
Und mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen bleiben die Textilarbeiterinnen im Gespräch: So nähten sie vor ein paar Tagen auf offener Straße Bettlaken und Kleider für die Opfer der Flutkatastrophe in der Provinzhauptstadt Santa Fe. „Auch wenn mein Mann und meine Kinder sagen, ich soll nicht mehr herkommen – den Kampf hier gebe ich nicht auf,“ sagt Elvira Ocampo. „Ich hoffe, dass ich bald wieder arbeiten kann.“

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