Film | Nummer 428 - Februar 2010

Romantisierte Müllberge

Lucy Walkers Dokumentarfilm Waste Land über den brasilianischen Künstler Vik Muniz und sein Projekt „Pictures of Garbage“

Olga Burkert

Die Müllberge scheinen sich endlos auszudehnen. Menschen in vielen Lagen Klamotten steigen die bunten Hügel hinauf und hinunter, große Plastiktonnen auf den Schultern balancierend, und durchsuchen die Massen nach wiederverwertbaren Materialien. Auf einer Halbinsel nahe Rio de Janeiro liegt Jardim Gramacho, die größte Müllkippe Lateinamerikas. 70 Prozent des Mülls aus der brasilianischen Millionenmetropole findet seinen Weg hierhin, aus den umliegenden Vororten sind es sogar 100 Prozent. Für die cartadores, wie die Recycling-SammlerInnen in Brasilien genannt werden, bedeutet das 200 Tonnen recycelbare Materialien pro Tag, mit denen sie ihren Lebensunterhalt bestreiten.
Diese prekären Lebensbedingungen an ihrem Arbeitsplatz zu porträtieren, machte sich Vik Muniz zur Aufgabe. Der in New York lebende brasilianische Künstler verbindet in seiner Arbeit als Fotograf die Kunst gerne mit sozialen Projekten: Er will, wie er sagt, die Menschen aus ihrem Alltag reißen und ihnen, wenn auch nur für kurze Zeit, etwas Neues zeigen. Im Panorama der diesjährigen Berlinale ist nun der Dokumentarfilm Waste Land von Lucy Walker zu sehen, die Muniz bei seinem Projekt begleitete.
In dem Film werden einerseits die bewegenden Lebensgeschichten einiger cartadores erzählt. Da ist zum Beispiel Zumbi, der die weggeworfenen Bücher nicht an die Recyclingfirmen verkauft, sondern sie sammelt und von einer öffentlichen Bibliothek im Armenviertel träumt. Oder Sebastião, der gegen alle Widerstände eine Gewerkschaft der MüllsammlerInnen gegründet hat. Auf der anderen Seite werden Vik Muniz und seine Arbeit vorgestellt und vor allem die Entstehung der „Pictures of Garbage“ dokumentiert.
Jedoch wird sowohl auf Muniz‘ Photographien als auch in Walkers Film die extreme Armut höchst ästhetisiert dargestellt. Ob auf den schwarz-weißen Porträts der cartadores, die von Muniz in arrangierten, alltagsfremden Situationen auf der Müllkippe fotografiert werden, oder in den Luftaufnahmen von den endlosen Müllbergen im roten Licht des Sonnenuntergangs – das Repräsentierte wirkt seltsam entrückt von den widrigen Lebensumständen der cartadores.
Zwar begegnen sich Vik Muniz und sein Team und die porträtierte Gruppe der cartadores zunehmend mit Freundschaft und Respekt. Trotzdem kann die Kluft zwischen denen, die in prekärsten Verhältnissen leben, und denen, die ihnen helfen wollen, aber in einer komplett anderen Welt leben, nicht wirklich überbrückt werden.
Wenn Vik Muniz beispielsweise enthusiastisch beteuert, dass die cartadores „nicht deprimiert oder traurig“ seien und ihrer Arbeit mit Stolz nachgehen würden, klingt das einfach zu sehr nach romantisierender Helfer-Brille. Und wenn er das sagt, während er in seiner luxuriös eingerichteten New Yorker Wohnung sitzt, auch wenn er selbst aus ärmlichen Verhältnissen stammt – der Unterschied zum Alltag der cartadores könnte in diesem Moment größer nicht sein. Nur weil Muniz ansonsten als durch und durch sympathischer, ständig lachender und ehrlicher Typ rüberkommt, klingen solche Sätze aus seinem Mund nicht völlig unglaubwürdig.
Aber ab wann dient das Helfen, aus welch selbstlosen Gründen es auch immer motiviert sein mag, eher dazu, das eigene Gewissen zu beruhigen? Diese Frage wird in Waste Land leider erst ganz am Schluss gestellt. Immerhin wird sie überhaupt aufgeworfen. Doch Szenen wie diese, als Muniz am Ende des Films mit dem Gewerkschafter Tião nach London fliegt, sind so absurd, dass sie in fast perversem Kontrast zur vorher gezeigten Misere der cartadores stehen: Tião wohnt der Versteigerung seines eigenen Porträts für 28.000 Pfund bei und ruft danach, fassungslos über so viel Geld, von Weinkrämpfen geschüttelt, seine Mutter an.
Und dennoch: Die Energie, mit der die cartadores an Muniz‘ Kunstprojekt teilnehmen, ist mitreißend. Und die „Pictures of Garbage“ die aus den anfänglichen Porträtfotos entstehen sind wirklich außerordentlich gut. Auf den extrem vergrößerten Porträts werden die Tiefen und Schatten der Aufnahmen mit Bergen von wieder verwertbaren Materialien ausgefüllt, feine Linien und Konturen beispielsweise mit Kronkorken oder Flaschendeckeln nachgezeichnet. Erst von hoch oben, von einer Empore aus betrachtet, setzten sich die Müllberge zu einem überraschend wirklichkeitsgetreuen Abbild des vorherigen Fotos zusammen.

Waste Land // Dokumentarfilm von Lucy Walker // Brasilien/Großbritannien 2009 // 99 Min. // Portugiesisch & englisch, engl. UT // Berlinale Sektion Panorama

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