Nummer 455 - Mai 2012 | Sachbuch

Schattenmacht der Kartelle

Der Sammelband NarcoZones – Entgrenzte Märkte und Gewalt in Lateinamerika beleuchtet den Drogenhandel und die organisierte Kriminalität

Seitdem Mexikos Präsident Felipe Calderón im Jahr 2006 das Militär mobilisiert hat, tobt in der Region der sogenannte „Drogenkrieg“. Bilder von Gewaltexzessen, Waffenarsenalen, Schreckensmeldungen über Massengräber und skandalheischende Reflexionen über die extreme Gewaltbereitschaft der Drogenkartelle prägen seither den medialen Diskurs. Selten werden die mit dem Krieg verbundenen Probleme für die Zivilgesellschaft thematisiert, noch seltener die militaristische Politik Calderóns und die Rolle der USA kritisiert. Völlig ausgeblendet wird die transnationale Vernetzung der mexikanischen Kartelle, die auf die instabilen Zustände an ihren Ursprungsorten genauso angewiesen sind wie auf die stabilen Wirtschaftszonen des globalen Nordens.

Jan-Holger Hennies

Diesem Bild des narcotráfico in Mexiko begegnet das im Verlag Assoziation A erschienene Buch NarcoZones – Entgrenzte Märkte und Gewalt in Lateinamerika entschieden. Bereits im Vorwort wird deutlich, dass die Sicht auf die Kartelle als klassische „Drogenmafia“ zu kurz greift und der Handel mit Rauschmitteln nur noch einen Teil ihrer Gewinne der Organisationen ausmacht. So ist der Drogenkrieg zum Ringen um Kontrolle und Macht auf den Gebieten des Drogen-, Waffen-, Menschen- sowie Raubkopienhandels geworden, verbunden mit weiteren illegalen sowie legalen Geschäften, in denen die Kartelle als transnationale Unternehmen operieren.
Der Band versammelt eine Vielzahl von Autor_innen und Herausgeber_innen und bietet dem Leser eine hintergründige, kritische und perspektivenreiche Analyse der Geschichte und des Handelns der Drogenkartelle sowie deren Auswirkungen auf Kultur und Lebensweise der Menschen in der Region. Der Fokus der Interviews, Reportagen und Aufsätze liegt nicht nur auf Mexiko, sondern beinhaltet ebenso Guatemala und Brasilien. Auch die transnationalen Netzwerke der Kartelle sind dargestellt. Analysen der Situation und mögliche Lösungsansätze treffen auf Fallbeispiele und persönliche Schicksale.
Immer wieder entlarvt das Buch schonungslos das derzeitige Handeln der Politik und des Militärs gegenüber der Kriminalität als ineffektiv. Effektiv hingegen ist der bewaffnete Kampf bei der Schaffung neuer Gewaltökonomien. Die großflächige Zerstörung von Kokafeldern in Kolumbien im Rahmen des „Plan Colombia“ unter Führung der USA beispielsweise kriminalisiert Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, die sich oft ohne Lebensgrundlage wiederfinden. Die großen Profiteure des Drogengeschäftes tastet das Programm nicht an.
Zugleich baut die Militarisierung der lateinamerikanischen Gesellschaften durch staatliche und private Sicherheitskräfte demokratische Elemente weiter ab. Korruption und Straflosigkeit sind an der Tagesordnung, gewaltsames Vorgehen gegen Oppositionelle und Zivilbevölkerung sind die Folge. Am sichtbarsten ist dieser Prozess zurzeit sicherlich in Mexiko, wo der Krieg gegen die Kartelle seit 2006 rund 60.000 Opfer forderte. In gleichem Maße gibt es eine hohe Rate an verschwundenen Personen. Kaum ein Todesfall wird von den Behörden aufgeklärt. Das Militär selbst hingegen gilt als derzeit größter Aggressor gegen die Zivilbevölkerung. So zeigt das Buch als Erfolge präsentierte Verhaftungen und Erschießungen von Drogenbossen und -dealern als PR-Aktionen, während „die politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Strukturen des Geschäfts völlig intakt“ bleiben.
Ein roter Faden, der sich durch alle Analysen zieht, ist die Korruption in demokratischen Institutionen in den untersuchten Ländern. Die Beiträge des Buches verdeutlichen: Wo Wahlkämpfe durch Kartelle finanziert werden, Polizisten erst durch illegale Zusatzverdienste ihre Familien ernähren können und das Geld der Kartelle die Wirtschaft stützt, ist die militärische Bekämpfung dieser aussichtslos. Gleichzeitig brauchen die Kartelle stabile Ökonomien, wie z.B. Deutschland, um ihre gewaschenen Gewinne sicher anzulegen. Ein sinnvoller Kampf gegen das Verbrechen muss demnach nicht lediglich in Lateinamerika erfolgen, sondern weltweit. Aufmerksamkeit bekommt dieses Problem jedoch kaum. Dass dies hier doch geschieht, ist ein wichtiges Verdienst des Buches.
Neben der Kritik an der bestehenden angebotsorientierten, also auf die Vernichtung der Drogen produktion zielenden militärischen Bekämpfung des Drogenhandels, bieten viele Autor_innen denn auch andere Lösungsansätze an. Dazu gehören die Säuberung der Parteien und Institutionen von korrupten Funktionär_innen genauso wie die Schaffung einer sozial ausgeglicheneren Gesellschaft. Solange kriminelle Organisationen die einzigen sind, die in Armenvierteln für Infrastruktur und Verdienstmöglichkeiten sorgen, haben die Kartelle eine fast unerschöpfliche Quelle, um ihren Nachwuchs zu rekrutieren. Der ethnographische Bericht über das Selbstverständnis eines Drogenchefs in einer brasilianischen Favela zeigt diese Funktion der lokalen Gruppierungen sehr plastisch. So hat dieser beispielsweise den Bau eines Schwimmbads organisiert. In Mexiko ist es die Família Michoacana, die in ihrem Territorium für Recht und Ordnung sorgt, jedenfalls nach ihrem Rechtsverständnis.
Der im Titel des Buches verwendete Begriff „NarcoZones“ beschreibt nicht ausschließlich die von Kartellen kontrollierten transnationalen Gebiete, sondern auch die sozialen und kulturellen Folgen des narcotráfico. In diesem Zusammenhang enthält das Buch mehrere Kolumnen von Alfredo Molano Bozano aus Kolumbien, der die Realität seines Landes aus Sicht der Zivilbevölkerung schildert. Ebenso sind Beiträge zu öffentlichen Diskursen in Mexiko und Verwertungsformen des Drogenkonfliktes innerhalb der erzählenden Literatur Lateinamerikas vorhanden. Gerade diese Beiträge machen den Leser_innen die gesamtgesellschaftliche Dimension des narcotráfico bewusst und ein genaueres Verständnis der Geschehnisse möglich. Erst so wird eine Beschäftigung mit dem Thema jenseits von Opferzahlen und Gewinnstrategien der Kartelle möglich und die Bedeutung des Drogengeschäftes für den Alltag der Bevölkerung in Lateinamerika erfassbar.
Der zivile Widerstand dieser Bevölkerung gegen den gewaltsamen Alltag ist ein weiterer Bestandteil der sorgfältig ausgewählten Beiträge des Buches. Berichte behandeln beispielsweise die Einrichtung sicherer Häuser für Migrant_innen, die von Verschleppung bedroht sind. Kunstaktionen bis hin zu den großen Karawanen durch Mexiko unter dem Motto „Estamos hasta la madre“ – „Wir haben die Schnauze voll“ lassen die Zivilbevölkerung der betroffenen Regionen nicht länger als inaktive Opfer wirken. Sie zeigen, dass die Missstände nicht mehr länger hingenommen werden.Vielleicht sind ihre Anstrengungen einen Schritt zur Lösung der Probleme.
Die Lektüre des Buches lässt den weiten Weg dorthin jedoch erschreckend klar werden. Zu tief sind die Vermengungen von staatlichen und privaten Institutionen und den narcos. Zu wenig nachhaltige und mutige Lösungsversuche gibt es seitens der Politik. Die eindrucksvoll geschriebenen und gut recherchierten Beiträge des Buches zeigen, dass die als „Politik der harten Hand“ bezeichnete Strategie der Drogenbekämpfung ein Händeschütteln zwischen Politikern, Eliten und Profiteuren des Drogengeschäfts bleibt.

Anne Huffschmid / Wolf-Dieter Vogel / Nana Heidhues / Michael Krämer / Christiana Schulte (Hg.) // NarcoZones. Entgrenzte Märkte und Gewalt in Lateinamerika // Assoziation A // Berlin 2012 // 272 Seiten // 18 Euro // www.assoziation-a.de

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