Literatur | Nummer 344 - Februar 2003

Schreiben, wenn es verboten ist

Ricardo Piglias Roman führt durch die jüngere Geschichte Argentiniens

Ricardo Piglias neuer Roman „Künstliche Atmung“ erzählt von dem Aufeinandertreffen dreier Intellektueller und beschreibt auf charmanteste Art, wie notwendig es ist, den Geist zu bewegen – gerade in Zeiten, in denen es nicht möglich scheint.

Jérome Cholet

Vor fünf Jahren machte der argentinische Autor Piglia seine Leser mit dem Roman „Brennender Zaster“ zu Kumpanen einer verrückten Verbrecherbande. In seinem Roman „Künstliche Atmung“ nimmt er uns nun mit in das geistige Exil des Argentiniens der Militärdiktatur.
Der junge, argentinische Schriftsteller Emilio Renzi veröffentlicht einen Roman über seinen Onkel Professor Marcelo Maggi. Dieser hatte in seiner Jugend eine wohlhabende Frau geheiratet und sich sogleich mit ihrem Vermögen wieder verabschiedet. Denn sein Interesse galt dem einflussreichen Vater der zukünftigen Braut, den er als Anhänger eines Flügels der Radikalen Bürgerunion (UCR) werben wollte. Mit dessen Unterschrift bekam er auch die Tochter, tauchte jedoch nach der Hochzeit alsbald unter und verpasste schließlich neben der Ehe auch das Finale der politischen Auseinandersetzungen 1945. Er landete nämlich im Gefängnis.
Und selbst nachdem der Onkel seine Strafe abgesessen hatte, hörte die Familie nichts mehr von ihm. Mythen und Märchen entstanden über ihn und veranlassten seinen Neffen schließlich, ein Buch über ihn zu schreiben. Dieses findet der Onkel dann mehr als zwanzig Jahre später, wieder im Exil – und räumt mit dieser Version seines Lebens gründlich auf.
Neben der Klarstellung der Legenden über sein Leben berichtet er seinem Neffen von seiner Arbeit an einer Biografie Enrique Ossorios. Dieser war 1837 Privatsekretär des Diktators Juan Manuel de Rosas und mit Onkel Maggi verwandt. Obwohl Rosas ihm wohl gesonnen war, nahm Ossorio alsbald Kontakt zu einer Gruppe von Verschwörern auf. Um einer Haftstrafe zu entgehen, musste er schließlich ins Exil.

Vom Schreiben der Utopie

Dort begann auch er an einem Buch zu schreiben: „Ich werde also über die Zukunft schreiben, weil ich mich nicht an die Vergangenheit erinnern will. Ich habe daran gedacht, eine Utopie zu schreiben. Ich werde darin erzählen, wie ich mir die Zukunft der Nation vorstelle. Ich bin in einer Position wie sie besser nicht sein könnte: von allem abgeschnitten, außerhalb der Zeit, ein aus dem Stoff der Verbannung gewebter Ausländer. Wie wird das Vaterland in 100 Jahren sein? Wer wird sich an uns erinnern? Wer? Über diese Träume schreibe ich.“
Und genau diese Schriften sind es, die Onkel Maggi faszinieren, „als wären es Spuren, die es ermöglichen, das Unglück seines Lebens zu verstehen.“ Und vielleicht auch das eigene Schicksal. Damit weckt er das Interesse seines Neffen, der sich schließlich aufmacht, seinen Onkel zu treffen. Drei Generationen, jeweils eine auf den Spuren der anderen.
„Künstliche Atmung“ ist eine Achterbahnfahrt durch Themen wie Idealismus, Zensur und Exil. Anhand verschiedenster Briefe der Protagonisten führt der wohl renommierteste argentinische Schriftsteller der Gegenwart im ersten Kapitel durch die junge Geschichte Argentiniens und lässt dabei keine Militärdiktatur aus.
Im zweiten Kapitel schließlich folgen wir den langen philosophischen Gesprächen des exilierten Polen Tardewski, eine literarische Spiegelung des Dichters Witold Gombrowicz, und Renzis, der bei seinem Onkel angekommen ist und doch nur auf dessen besten Freund stößt. Maggi ist abgereist. Zurückgelassen hat er nur die fertig gestellte Biografie Ossorios, deren Bedeutung ihm schließlich von Tardewski erklärt wird: „In einem gewissen Sinn, sagte er dann, war dieses Buch die Autobiografie des Professors. Das war seine Art über sich selbst zu schreiben. Deshalb denke ich, dass sie in diesen Papieren alles finden, was Sie über ihn wissen müssen, vor allem das, was ich Ihnen nicht sagen kann.“ Alle Fäden laufen also am Ende zusammen.
Geschichte wiederholt sich und es verwundert nicht, dass Marcelo Maggi fasziniert war von der Person Ossorios, ihrer Wandlung, ihrem Geheimnis. Beide verband die innere Ruhelosigkeit, im Geiste und auf ihrer Odyssee durch Lateinamerika.
Der Autor Ricardo Piglia verlangt dem Leser einige Mühen ab. Der Roman ist äußerst anspruchsvoll. Dies macht jedoch Sinn. Denn der Roman ist 1980 erschienen und musste drei Jahre vor Ende der letzten Militärdiktatur noch dem Verbot entkommen. Der in dem Roman auftauchende Zensor, der die Briefe nach geheimen Nachrichten durchsucht, ist sicherlich auch eine Aufforderung, die versteckten Botschaften des Romans zu entschlüsseln.
Die Rätselhaftigkeit des Romans ist es schließlich, die seine Faszination ausmacht. Einerseits in der Form, in der der Roman Dimensionen überspringt und andererseits in der Tiefe des Gespräches zwischen dem Literaten Renzi und dem exilierten Polen Tardewski.
Dass sie ihren Geist bewegen müssen, allein das entscheidet. Besonders deutlich wird dies bei einer weiteren Idee Onkel Maggis und Tardewskis. Es ist der Vorschlag, das Schachspiel zu revolutionieren: „Man muss ein Spiel entwickeln, sagte er, bei dem die Positionen nicht immer gleich bleiben, bei dem die Funktion der Figuren sich ändert, nachdem sie sich eine Weile am selben Platz befinden, so dass sie stärker oder schwächer werden. Bei den aktuellen Regeln, schreibt Maggi, entwickelt sich das nicht, es bleibt immer mit sich selbst identisch. Sinn hat nur das, sagt Tardewski, was sich ändert, was sich verwandelt.“
Ricardo Piglia, geboren 1941 in Androgué, lehrte in Buenos Aires, Princeton und Harvard Literatur. Angesichts dessen verwundert die Komplexität seines erst jetzt ins Deutsche übersetzten Werkes nicht. Ein herausragendes und herausforderndes Werk. Jedoch, gerade bei Piglia gilt: je tiefer man dringt, desto mehr offenbart sich einem und desto intensiver wird das Lesevergnügen.

Ricardo Piglia: Künstliche Atmung. Roman. Aus dem argentinischen Spanisch von Sabine Giersberg. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2002, 220 Seiten, 19,50 Euro.

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