Literatur | Nummer 283 - Januar 1998

Schwerpunkt: Lateinamerika

Literaturzeitschriften erhellen Nischen des Subkontinents

Erzählungen aus Puerto Rico enthält die eine, neue lateinamerikanische Lyrik die andere Zeitschrift. Beide Editionen belegen überzeugend, warum und wozu Anthologien gut sind: sie regen an und machen unglücklich.

Valentin Schönherr

Eine Ausgabe der traditionsreichen “horen” veröffentlicht 24 kürzere Prosatexte aus Puerto Rico, versehen mit einem einführenden Essay der Heidelberger Karibikspezialistin Frauke Gewecke. Daß gerade Puerto Rico erwählt wurde, ist vielleicht einem Jahrestag geschuldet:
Es ist 100 Jahre her, daß Spanien mit Kuba und Puerto Rico seine letzten lateinamerikanischen Kolonien verlor. Gerade betreffs Puerto Rico ist dieses Datum Anlaß zu widerstreitenden Meinungen, denn seit eben diesen hundert Jahren gehört die kleinste der Großen Antillen zum direkten Machtbereich der USA. Weder die relativ schwache Unabhängigkeitsbewegung zu Anfang des Jahrhunderts noch die weltweite Phase der Entkolonialisierung in den 50er und 60er Jahren hat daran etwas zu ändern vermocht.
Diese und andere Tatsachen – wie beispielsweise die, daß derzeit 2,7 Millionen PuertoricanerInnen in den USA leben, 3,8 Millionen auf der Insel selbst – werfen beinahe unumgehbar Fragen nach Identität auf, nach topographischen wie geistigen Herkunftsorten und Lebenswelten, Fragen nach Reibungen und Brüchen. In Puerto Rico und für Puertoricaner besteht zudem noch die Spannung zwischen spanischer und englischer Sprache. Der vielfältige Niederschlag, den diese Themen und Konflikte in der Literatur gefunden haben, braucht also nicht zu verwundern.
Verwunderlich ist bei der Lektüre des “horen”-Bandes dennoch zweierlei. Zum einen erstaunt, daß so viele Stücke Literatur zusammengetragen werden konnten, allermeist von ganz unbekannten Namen, dennoch aber Texte, bei denen der wunderbare literarische Funke überspringt: als würde mir jemand die Augen öffnen. Zum anderen ist auffällig, wie wenig es in den vierundzwanzig Erzählungen explizit um die großen politischen Zusammenhänge geht. Die Konflikte spielen sich vielmehr häufig im ganz Persönlichen ab, und durch die individuellen Geschichten lassen sich die Zusammenhänge erahnen. Umfassende Weltentwürfe finden sich kaum.
Der Band wird von zwei in den sechziger Jahren publizierten Beiträgen eingeleitet; der zweite davon – Emilio Díaz Valcárcel: “Der Sohn” – greift sehr wohl engagiert ein Thema mit politischem Bezug auf. Darin gelingt es Díaz Valcárcel, anhand von Begebenheiten einer einzigen schlaflosen Nacht, in der ein Ehepaar um den Sohn fürchtet, der im Krieg ist, die Grauenhaftigkeit von sinnlosem Morden darzustellen – und zugleich zu zeigen, wie dieses Paar die Grauenhaftigkeit zu leugnen, zu ignorieren versucht. Eine Geschichte, die scharf unter die Haut geht.
Andere Texte sind weniger politisch; mag sein, daß das daran liegt, daß sie aus späteren Jahren stammen und diese Anthologie auch ein Dokument thematischen Wandels ist, eines Wandels von weitreichender Sozialkritik hin zur Konzentration auf das scheinbar Beiläufige, alltäglich-Untergründige, das in vielen Erzählungen ausgeleuchtet wird.

Skepsis gegenüber großen Entwürfen

Am Schluß des Bandes steht eine längere Erzählung: “Weißes Blatt Papier in staccato” von Manuel Ramos Otero aus dem Jahre 1987. Für mich war sie die eigentliche Überraschung. Ramos Otero (1948-1990) beschreibt in diesem hochaufgeladenen, komprimierten Text die Begegnung zweier Männer in New York. Der eine, Sam Fat, ist Sohn eines Chinesen und einer Puertoricanerin, hinter dem anderen läßt sich durch einige autobiographische Andeutungen der Autor selbst vermuten. Es ist die Geschichte einer fast unbemerkten, raschen Berührung, einer “augenblicklangen Empfindung einer körperlichen Teilung in der Zeit”, in der sich die vermeintlich klare Unterscheidung zwischen Ich und Du einen Moment lang aufhebt. Aber in dieser Berührung liegt zugleich der Schmerz über eben diese Unterscheidung, der Schmerz über die Frage nach Identität.
Die Odyssee der Herkunft steht dabei zu beschreiben, die für Sam Fat eine kaum entwirrbare Mischung aus chinesischen, puertoricanisch-hispanischen, schwarzkaribisch-afrikanischen und US-amerikanischen Herkünften ist. Den anderen, Ramos, bedrängt eher die Ungewißheit des Wohin: er ist sterbenskrank, und lebt unter dem Zwang – so ließe sich der Titel “Weißes Blatt Papier in staccato” verstehen –, in sehr begrenzter Zeit das zu schreiben, was aus ihm heraus muß.
Nicht jede Passage erschließt sich leicht, aber dem Text tut das keinen Abbruch. Die Fundamente von Lebensläufen werden in atemberaubender Weise sichtbar, zeitliche und räumliche Distanzen verlieren in einem konkreten Menschen alle Unüberwindbarkeit. Manuel Ramos Otero verzichtet weitgehend auf beschauliche Töne, um dem drohenden Tod Worte abzutrotzen.
Wenn eine Anthologie erreicht, daß man sie unglücklich aus der Hand legt, weil man mehr von den einzelnen AutorInnen lesen möchte, dann ist es eine gute Anthologie. Der “horen”-Band erreicht das mühelos. Edgardo Sanabria Santaliz, einer der im Heft vertretenen puertoricanischen Autoren, wird wohl bald umfangreicher auf Deutsch zu lesen sein: Der Züricher Rotpunkt-Verlag hat für Frühjahr 1998 die Übersetzung eines seiner Erzählungsbände angekündigt.
Aber auch derartige Zeitschriften-Anthologien machen Lust auf mehr. Nach einem Heft über Mexiko (Nr. 164, 4/91) und einem über Peru (Nr. 176, 4/94) nun über Puerto Rico – es dürfte auch in anderen Ländern viel zu entdecken geben.
“Das Gedicht”, eine junge, einmal im Jahr erscheinende “Zeitschrift für Lyrik, Essay und Kritik”, nahm sich neuer lateinamerikanischer Poesie als Schwerpunktthema an. Die sorgfältige Edition der Zeitschrift insgesamt ist genauso vorbildlich, wie die Edition des Schwerpunktes anregend ist, nur: Er ist so kurz und knapp, daß man statt von Schwerpunkt eher von leichtem Anriß sprechen müßte.

Wenn weniger nicht mehr ist

Acht LyrikerInnen sind mit je einem oder höchstens zwei Gedichten vertreten. Ihre Auswahl begründet Mitherausgeber Tobias Burghardt damit, daß sie 1997 auf Poesie festivals in Lateinamerika aufgefallen sind, sie erlauben so einem Blick auf jüngste Produktionen, die in Lateinamerika auch tatsächlich in größerem Maße gelesen werden. Dennoch ist die Auswahl zu klein, um sich einen Überblick verschaffen zu können. Auch der Kommentar von Burghardt formuliert den Anspruch, daß der Rückstand, in dem sich lateinamerikanische Poesie in der hiesigen Wahrnehmung befindet, verringert werden müßte. Die im “Gedicht” publizierten zehn DIN-A5-Seiten Lyrik sind jedenfalls lesenswert und ein Schritt in die richtige Richtung, wenn auch nur ein kleiner.

die horen, Nr. 187, 3/1997, “Das besetzte Erinnern”: Vierundzwanzig Erzählungen aus Puerto Rico, hg. von Wilfried Böhringer. Mit Fotos aus Puerto Rico von Bernd Böhner.
Das Gedicht, Nr. 5, Oktober 1997, darin: Poesie aus Lateinamerika, hg. und übersetzt von Juana und Tobias Burghardt.


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