Brasilien | Nummer 339/340 - Sept./Okt. 2002

Sei gegrüßt Bush, die Totgeweihten grüßen dich^

Die brasilianische Agrarfrage im Wahljahr 2002

Zieht man eine Bilanz der Agrarpolitik der achtjährigen Amtszeit des brasilianischen Staatspräsidenten Cardoso, sieht es nicht gerade nach Umverteilung und effizienter Ansiedlungspolitik aus. Stattdessen hat die Landkonzentration in den Händen weniger weiter zugenommem. Brasilien ist vom Ziel einer gerechten Landverteilung weiter entfernt als zuvor.

Wolfgang Hees

Der noch vor den Wahlen erschienene Agrarzensus des Brasilianischen Instituts für Geographie und Statistik zeichnet ein Bild weiterer Konzentration von Landbesitz. Und das in einem Land, dem ohnehin bereits nachgesagt wird, im internationalen Vergleich in Bezug auf ungleiche nationale Besitzverhältnisse ganz vorne zu rangieren.
Der Studie des Brasilianischen Instituts für Geographie und Statistik (IBGE) zufolge, stieg die Zahl der GroßgrundbesitzerInnen, welche Fazendas über 2.000 Hektar besitzen, seit 1992 von 19.000 auf 27.000. 1998 hatten sie 178 Millionen Hektar in ihrem Besitz – gegenüber 121 Millionen Hektar 1992. Die noch amtierende brasilianische Regierung hingegen ist von ihrer Art der Agrarreform überzeugt. Sie verteilte 11 Millionen Hektar Land an ca. 350.000 Familien. Jedoch mussten zwischen 1985 und 1996 – neuere Zahlen liegen nicht vor – 920.000 Betriebe von weniger als 100 Hektar auf Grund der verfehlten Agrarpolitik aufgeben. Die Landreform der brasilianischen Regierung scheint also eher eine Umverteilung von unten nach oben zu sein.

„Bei uns gibt es keine Landlosen mehr“

In der Außendarstellung der Regierung sieht dies freilich anders aus. Agrarreformminister Jungmann verbreitete zum Jahresanfang seine positive Bilanz: 600.000 neu angesiedelte Bauernfamilien zwischen 1995 und 2001. Der Präsident verkündete während seines Spanienbesuchs: „Bei uns gibt es keine Landlosen mehr. Unser Problem ist es nur noch, die drei Millionen angesiedelten Bauern nun möglichst schnell in effiziente bäuerliche Familienbetriebe umzuwandeln“.
Versprochen hat die Regierung viel, getan jedoch sehr wenig. Bis zum Jahr 2000 seien etwa 480.000 Familien angesiedelt worden und damit sei die Zielvorgabe erreicht, heißt es in einer anderen staatlichen Quelle. Die angesehene Organisation Brasilianische Agrarreformvereinigung (ABRA) hat die offiziellen Daten nachgerechnet und kommt bestenfalls auf 230.000 Familien. Von diesen wurden 60 Prozent jedoch nicht auf Agrarreformflächen sondern an den Pionier- und Kolonisationsfronten in den drei Staaten Pará, Maranhão und Mato Grosso angesiedelt. Für 2001 waren 100.000 Ansiedlungen versprochen, dies wurde auf 60.000 herunter korrigiert, um dann lediglich 28.000 Familien anzusiedeln.
Schließlich blieb auch die angekündigte Hilfe aus, mit der die angesiedelten Familien zu „effizienten Produzenten“ umgewandelt werden sollten. Das Agrarkreditprogramm Procera für die Agrarreformflächen wurde eingestellt. Luminar, das Beratungsprogramm für Agrarreformgebiete, wurde beendet. Als Folge davon blieben über 50 Prozent der ohnehin beschränkten Mittel für die Agrarreform bei den Banken – da die Ausarbeitung der Projekte nicht mehr beraten wurde.

Geld und Freiräume nicht genutzt

Dem Ministerium für Agrarentwicklung wurden für das Jahr 2002 insgesamt 526 Millionen Reais zur Verfügung gestellt. Bis zum 10. Mai dieses Jahres hatte es davon ganze 991.000 Reais verausgabt. Der größte Teil der Summe, nämlich 791 Millionen Reais, wurden zur Amtsführung und nicht etwa für konkrete Maßnahmen verwendet. Bei der Agrarreformbehörde INCRA sah es ähnlich aus: von 893 Millionen Reais wurden ganze 33 Millionen genutzt. Dabei lagen prozentual wiederum die Amtsführung mit 5,4 Prozent und das Management mit 7,5 Prozent vorne. Auch für das umstrittene Programm Novo Mundo Rural, die „Speerspitze der Regierung für die Agrarreform“ wurden nur 4,5 Prozent des Budgets innerhalb von etwa vier Monaten umgesetzt.
Wie hingegen die Mittel auch genutzt werden können, zeigt das Beispiel der „Agrarreform per Post“, die die Regierung Cardosos letztes Jahr ‘inszenierte’: wer sich bei den Postämtern als landsuchend einschreibe, erhalte innerhalb von 90 Tagen sein Stück Land – so die Propaganda. Doch die Realität sieht anders aus: allein aus den Reihen der Landlosenbewegung Movimento Sem Terra (MST) gingen über 575.000 Familien zur Post und beantragten ihr Stück Land – bis heute erhielt niemand eine Antwort. Dabei hätte es an Geld nicht gemangelt: für die Agrarreform- und Agrarentwicklungsbehörde INCRA waren auf Grund öffentlichen Drucks 1997 umgerechnet über 1,25 Milliarden Euro budgetiert worden. Letztes Jahr waren es zwar nur noch etwa 0,6 Milliarden – aber auch davon wurde nur weniger als eine halbe Milliarde ausgegeben. Der einzige Bereich, in dem das Geld sprudelte, war die Propagandaabteilung. Über die Firma Art Plan – die dem Sohn eines befreundeten PFL–Politikers gehört – ließ Agrarreformminister Jungmann seine Version der Agrarreform für umgerechnet vier Millionen Euro verbreiten.
Die Vereinten Nationen (UN) haben über ihren Botschafter Jean Ziegler eine Inspektionsreise durchführen lassen, um zu sehen, was an der Darstellung der Regierung wahr ist. Das Zeugnis fiel für die brasilianische Regierung katastrophal aus. Das Recht auf Nahrung ist auch unter der Regierung Cardoso fast einem Drittel der brasilianischen Bevölkerung versagt: sie sind unter- und fehlernährt. Dabei ließen sich auf der heute genutzten landwirtschaftlichen Fläche ohne weitere Rodungen nachhaltig über 500 Millionen Menschen (die dreifache Bevölkerung Brasiliens) ernähren. Von 7,5 Millionen Kleinbauernfamilien haben 58,6 Prozent ein Familieneinkommen von unter 100 US-Dollar im Monat, weniger als der offizielle Mindestlohn. Erwiesen ist jedoch, dass eine Familie zum menschenwürdigen Leben mindestens 4,5 Mindestlöhne (320 US-Dollar/Monat) benötigt.
Die Schulbildung im ländlichen Raum ist mangelhaft. Von brasilianischen Jugendlichen ab 10 Jahren sind heute auf dem Land noch 27 Prozent AnalphabetInnen und auch bei den Erwachsenen liegt die Rate mit 37 Prozent unverändert hoch. Die hygienischen Bedingungen sind auf dem Land katastrophal: nur 18 Prozent der 7,4 Millionen Haushalte sind an eine Trinkwasserversorgung angeschlossen und nur 9,5 Prozent verfügen über ein geeignetes Abwassersystem. Außerdem sind Gewalt und Straflosigkeit auf dem Land nach wie vor weit verbreitet (vgl. LN-Berichte über die Gerichtsverhandlungen nach dem Massaker an Landlosen bei Eldorado dos Carajás, LN Nr. 335)

Nordamerikanische und europäische Strategien

Dabei nutzt die brasilianische Regierung eigentlich nur den US-amerikanischen und europäischen Erfahrungsschatz in Sachen Agrarpolitik. In der Agrarentwicklungsplanung setzte die Regierung FHC voll auf den nordamerikanischen Weg, den bisher auch die EU gegangen ist: Subvention und Wachstum für exportierende Großbetriebe. Dies führt über Kurz oder Lang zum Sterben („Weichen“) der kleinen und mittleren Familienbetriebe. Eine Zukunftsstudie der Regierung verweist auf die Möglichkeit, mit nur 600.000 statt derzeit 4,5 Millionen Betrieben die brasilianische Landwirtschaft zu betreiben: „effizient und billig auf Niveau des Weltmarktes“, aber ohne die ökologischen, sozialen und letztlich volkswirtschaftlichen Kosten einzubeziehen. Will man ‘weltmarktfähig’ werden und Skalenerträge nutzen, ist die Frage, was mit den „weichenden“ Bauernfamilien passiert, zweitrangig. Die kämen zu den 44 Millionen schon heute unter der Armutsgrenze lebenden BrasilianerInnen hinzu.

„Landlosen-Guerilla“?

Im Wahljahr 2002 versucht die Regierung nun, die Landlosenbewegung für ihre Zwecke zu nutzen: Sie wird kriminalisiert und ihre Mitglieder als staatsfeindliche ChaotInnen oder gar als Guerilla dargestellt. In diesem Kontext wird die Bewegung dann immer mit der Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores (PT) gleichgestellt, die in den Wahlprognosen mit ihrem Kandidaten Lula deutlich gegenüber den Parteien der Regierungskoalition führt.
Seit dem Amtsantritt Cardosos waren die Landlosen als größte soziale Bewegung Brasiliens auch die stärkste Opposition und konnten die Schwäche der PT in dieser Rolle weitgehend ausgleichen. War die PT zu schwach um zu mobilisieren oder konkrete Oppositionspolitik zu artikulieren, so sprang das MST ein und mobilisierte gegen die Regierung. Als eine Art Retourkutsche verunglimpft die brasilianische Regierung jetzt das MST und versucht zugleich, die PT wegen ihrer Kooperation mit dem MST in Misskredit bei den WählerInnen zu bringen.
Eine der Strategien war dabei die „Operation Fisch“, bei der unter Decknamen von Amazonasfischen (Tucanaré, Pacu etc.) Spitzel in die Bewegung geschickt wurden, um Führungspersönlichkeiten zu identifizieren und zu kriminalisieren. Das ging von einfachen Erhebungen bis hin zur Anstiftung zu Straftaten. Dabei war es immer ein Anliegen, der Bewegung den Status einer kriminellen Vereinigung unterzuschieben – obwohl das Oberste Gericht das MST von dieser Anklage in einem Grundsatz- und Musterurteil freigesprochen hat und es als soziale Bewegung mit legitimen Zielen anerkannte.

Wer entscheidet die Wahl?

Man muss sich jedoch fragen, ob nicht die 4,5 Millionen brasilianischen Bauernfamilien, zusammen mit den Landlosen und anderen ausgeschlossenen Gruppen den Ausschlag bei den anstehenden Wahlen im Oktober geben werden. Sie machen immerhin ein Drittel der Bevölkerung aus.
Die PT mit ihrem Kandidaten Lula ist auf Grund seines reformierten Programms und der auf vielen Ebenen bewiesenen Regierungsfähigkeit der Arbeiterpartei weithin vom Mittelstand akzeptiert und durchaus mehrheitsfähig.
Allerdings lassen die internationalen Finanzmärkte angesichts eines aussichtsreichen und in den Umfragen führenden Kandidaten Lula schon jetzt die Muskeln spielen. Es wurden und werden zunehmend Investitionen aus Brasilien abgezogen: die Wirtschaft begann zunächst zu trudeln, und die Inflation ist auf neuen Höhenflügen. Die jüngste Zusage eines Riesenkredits des Internationalen Währungsfonds (IWF) über 30 Milliarden Euro soll das wirtschaftlich bedeutendste Land auf dem südamerikanischen Kontinent vor einem allzu tiefen Fall retten. Der Megaspekulant George Soros sagte vor diesem Hintergrund zu den Wahlen: „Im Römischen Reich wählten die Römer, die Provinzen wurden nicht gefragt und im globalen Kapitalismus wählen die Amerikaner, die BrasilianerInnen werden nicht gefragt!“ Was die Brasilianer wählen wollten sei völlig egal, so Soros weiter. „Ihre Rolle ist es, das zu bestätigen, was das Großkapital bereits entschieden hat.“ Dom Demetrio, der Bischof von Jales im Bundesstaat São Paulo, vergleicht in dem für die Landlosenbewegung geschriebenem Artikel „Wahlen und Unabhängigkeit“ das brasilianische Volk mit den Sklaven im römischen Zirkus, die, bevor sie von den Raubtieren zerrissen wurden, noch an Cäsar vorbeidefilieren und grüßen mussten. Er übersetzte dabei das „Ave, Caesar, morituri te salutant“ mit einem zeitgemäßen „Sei gegrüßt, Bush, die Totgeweihten grüßen dich“.

Die Strategien des Movimento Sem Terra

Das MST besitzt aus vielen Gründen – historisch, sozial, intellektuell – eine Nähe zur Arbeiterpartei, doch zeigt sich auch überall wo die PT an der Macht ist, dass das MST sich von ihr nicht vereinnahmen lässt, und die Sache der Agrarreform auch ohne Rücksicht auf parteiinterne Entscheidungen vehement vorantreibt.
Absolute Priorität für die Bewegung hat die Situation der landlosen und kleinbäuerlichen Familien sowie die Versorgung der brasilianischen Bevölkerung mit preiswerten, gesunden und ökologisch nachhaltig produzierten Nahrungsmitteln. Dafür fordern sie Land, eine Anschubfinanzierung, Beratung und Produktionskredite, auch speziell im agroökologischen Bereich. Protektionistische Politik der Industrieländer findet zwar keine Zustimmung des MST, tangiert jedoch seine eigene Arbeit weniger. Die Kritik wendet sich stärker gegen die Exportsubventionen Brasiliens, die GroßgrundbesitzerInnen und die fehlenden Programme für die Nahrungsmittelerzeugung für den Binnenmarkt, der von billigen Massenimporten vom Weltmarkt bedrängt wird.

Hühner aus Brasilien

Als Nische oder Chance wird der Weltmarkt für ökologische Produkte mit möglichst hoher Wertschöpfung innerhalb Brasiliens erkannt. Beispielsweise der Export aus artgerechter Tierhaltung stammender Hühner ist eine Nische, für die bei deutschen Geflügelmästern im Rahmen von Joint-Ventures großes Interesse besteht und die als Chance im Öko-Landbau gesehen wird. Langfristig besteht der Traum eines eigenen Zertifizierungsorgans mit Anerkennung durch die IFOAM (Weltverband der Verbände des ökologischen Landbaus) in den Händen der Internationalen Kleinbauernbewegung Via Campesina.

Wolfgang Hees betreibt die Koordination der europäischen Organisation MST-Amigos in Deutschland und arbeitet bei KoBra (Koordination Brasilien).

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