“Selbst die Rechte mißtraut dem Wahlergebnis…”
“Selbst die Rechte mißtraut dem Wahlergebnis…”
LN: Hat Sie das Ergebnis der Wahlen erstaunt?
Dada Hirezi: Ja, aber nicht wegen des hohen Stimmenanteils von fast 50 Prozent für ARENA, den ich niedriger erwartet hatte, sondern wegen der hohen Zahl von Menschen, die nicht wählten. Ich vermeide bewußt den Begriff “Wahlenthaltung”, da viele, die wählen wollten, nicht wählen durften. Ich hätte nie geglaubt, daß es so viele Fehler im Wählerverzeichnis gibt. Selbst einige Funktionäre der Vereinten Nationen sind erstaunt über die hohe Zahl derer, die am Wahlsonntag nicht im Wählerverzeichnis aufgetaucht sind. Ich habe nicht damit gerechnet, daß die Wahlen so ungeordnet ablaufen…
Aber wenn die Menschen nicht im Wählerverzeichnis waren und keinen Wahlausweis hatten, erscheint dies auch nicht als Wahlenthaltung…
Richtig, genau davon wollte ich sprechen. Ich habe große Zweifel, ob die Zahlen, die der Oberste Wahlrat (TSE) veröffentlicht hat, richtig sind. Der TSE sprach von 2,7 Millionen Wählern, aber da waren eine Unmenge von Toten dabei. Ich habe am Wahlsonntag im Wählerverzeichnis die Namen mehrerer Verwandter entdeckt, die bereits tot sind. Es gibt unglaublich viele dieser Fälle. Oder die Leute durften nicht wählen, weil ihr Name nicht im Verzeichnis auftauchte, jedoch ein Name der sehr ähnlich war. Das ist schon komisch, wo doch das Wählerverzeichnis und die Wahlausweise aufgrund der selben Daten erstellt worden sind. Also: ist das nur ein Fehler? Aber wie soll dieser Fehler entstehen? Und wenn es Absicht war? Was wurde damit bezweckt? Ich beschuldige niemanden, einen Wahlbetrug ausgeführt zu haben; ich habe auch keine Beweise. Aber die Zahlen beweisen, daß der TSE unglaublich schlecht und unverantwortlich gehandelt hat. Das hat selbst Armando Calderón Sol betätigt.
Gab es nun einen Wahlbetrug oder lediglich – wie die FMLN dies ausdrückt – große Unregelmäßigkeiten?
Wenn die Unregelmäßigkeiten Absicht waren, war es Betrug. Wenn sie unabsichtlich zustande gekommen sind, zeigen sie die Unfähigkeit des TSE, Wahlen zu organisieren. Aber dies ist letzlich gar nicht entscheidend. Was zählt ist, daß die Leute denken, daß das Ergebnis der Wahlen nicht legitim ist. Und dabei ist ganz gleich, wer gewonnen hat. Die Wahlen waren ein wichtiger Schritt in der Konstruktion der Demokratie in unserem Land, und jetzt denken viele, daß dies in El Salvador nicht möglich ist.
Wird dadurch die Unzufriedenheit mit dem Friedensprozeß in El Salvador weiter anwachsen?
Das Vertrauen in die Möglichkeit, in El Salvador eine Demokratie zu errichten, war eine entscheidende Grundlage des Friedensprozesses. Dieses Vertrauen ist jetzt enttäuscht. Selbst die Rechte mißtraut dem Wahlergebnis und glaubt, daß sie Wahlen gewonnen hat, die nicht sauber waren. Es waren mindestens 15 Prozent, die von den Wahlen ausgeschlossen wurden, wie ONUSAL-Chef Ramírez Ocampo sagt. 15 Prozent ist aber einfach zu viel. Gerade bei den Gemeindewahlen hätten die Ergebnisse sonst tatsächlich ganz anders ausgesehen. Das Gesprächsthema sind die Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen und nicht, wer gewonnen hat. Das ist sehr gefährlich.
Gerade in den Orten, in denen die “Wahlenthaltung” am niedrigsten war, hat die FMLN gewonnen, wie in Cinquera oder in El Rosario. Sind das nicht deutliche Zeichen für einen Wahlbetrug?
Das sind deutliche Zeichen. Ich wollte von diesen Fällen nicht sprechen, um nicht den Eindruck zu erwecken, daß ich es für schlecht hielte, daß ARENA gewonnen hat. Ich denke, es ist nicht entscheidend, wer gewonnen hat. Das größte Problem ist meiner Meinung, daß die Wahlen nicht sauber waren.
Was halten Sie von der Position von ONUSAL in diesem Zusammenhang? ONUSAL hat sofort nach den Wahlen gesagt, daß es zwar einige Probleme gab, die Wahlen insgesamt aber akzeptabel seien.
Die offizielle Position von ONUSAL widerspricht der Haltung einiger ihrer Funktionäre, die von schweren Behinderungen in einigen Orten sprechen. Aber man muß sich auch in die Lage von ONUSAL versetzen. El Salvador ist für die gesamten Vereinten Nationen ein Vorzeigeland. Sie nennen es den erfolgreichsten Friedensprozeß auf der ganzen Welt. Da ist es für die Vereinten Nationen fast unmöglich, Bereiche zuzugeben, in denen der Friedensprozeß gescheitert ist. Das gab es schon öfter. Beim Amnestiegesetz, das es letztes Jahr gleich nach der Veröffentlichung des Berichts der Wahrheitskommission gab, war es so ähnlich. Die Vereinten Nationen protestierten nur sehr zurückhaltend, obwohl die Amnestie ein Skandal und ein Affront gegen die Vereinten Nationen ist. Aber ich kann die Zurückhaltung der Vereinten Nationen fast verstehen: El Salvador ist ihr Friedensprozeß. Und insgesamt kann sich das Ergebnis von ONUSAL sehen lassen, ihre Beteiligung am Friedensprozeß war sehr wichtig.
Hätte ONUSAL aber nicht noch mehr erreichen können?
Auf jeden Fall, viel mehr. Manchmal hat ihnen die Konsequenz gefehlt, manchmal waren sie zu zurückhaltend.
Über 600.000 Menschen haben für ARENA gestimmt. Wie kommt es, daß ARENA eine so große soziale Basis gerade auch bei den Armen hat?
Dazu gibt es in ganz Lateinamerika viele Analysen. Das oberste Ziel der armen Bevölkerung ist zu überleben. Und irgendwann fangen diese Menschen in ihrer Misere an zu glauben, daß die Tatsache, daß sie überhaupt überleben können, ein Zugeständnis der Mächtigen ist. Dann wählen sie auch noch deren Parteien und geben sich mit dem Status Quo zufrieden. Sie fürchten sich vor dem Neuen. Jetzt können sie zumindest überleben. Wenn sich die Situation ändert, könnte es ja noch schlimmer werden. Außerdem hat ARENA in ihrem Wahlkampf sehr geschickt Angst und Terror verbreitet: “Im Falle eines Wahlsieges der Linken, gibt es wieder Krieg”, war eine häufige Parole von ARENA auf Wahlveranstaltungen.
Und wie war der Wahlkampf der Opposition?
Die Opposition hat nicht deutlich gemacht, welche Alternative sie anzubieten hat. Damit meine ich vor allem die Christdemokraten, die hätten deutlich machen müssen, daß auch sie ein Projekt für El Salvador haben. Dann wäre die Polarisierung im Wahlkampf vermutlich auch nicht so stark gewesen. Der Wahlkampf lief sehr US-amerikanisch ab. Es ging zu wenig um Inhalte.
Und die Linke?
Die Wahlkampagne der Linken war sehr diffus. Und sie haben auf die Anschuldigungen von ARENA viel zu defensiv reagiert. Rubén Zamora, der Präsidentschaftskandidat der Opposition, hat immer wieder betont, auch er stehe in Verhandlungen mit den Unternehmern, bei seinem Wahlsieg werde es keine wirtschaftlichen Probleme geben. Aber wieso sollten die Menschen denn die Opposition wählen, wenn sie sich vor allem um die Unternehmer bemüht, das kann die Regierungspartei viel besser. Ich denke, daß die Opposition mit einer etwas offensiveren Kampagne besser abgeschnitten hätte, vor allem bei den Mittelschichten der Städte und den öffentlichen Angestellten. Die Linke wollte die Polarisierung, wie sie im Krieg bestand, vermeiden. Aber als ARENA zu polarisieren begann, blieb die Oppositionskoalition defensiv. Das war ein Fehler. Mit einem defensiven Wahlkampf kann man nicht auf die Attacken des Gegners reagieren.
Wie sehen Sie die Zukunft des Landes, vor allem falls ARENA, wie es zu erwarten ist, den zweiten Wahlgang gewinnt und Calderón Sol Präsident wird?
Durch den Wahlsieg von Calderón Sol – ich bin mir sicher, daß er in der zweiten Runde gewinnen wird – wird es weitere Probleme im Friedensprozeß geben. ARENA wird versuchen, die Elemente des Friedensabkommens, die noch nicht erfüllt sind, weiter zu verzögern oder zu verhindern, zum Beispiel die Reform des Justizsystems. Bei der Polizei werden sie versuchen, die alte Nationalpolizei mit der neuen Zivilen Nationalpolizei zu verschmelzen. Aber das, was bereits erreicht ist, können sie nicht mehr umkehren.
Welche Auswirkungen hat das auf die salvadorianische Gesellschaft?
Das Problem ist, daß sich in El Salvador noch keine starke Zivilgesellschaft herausgebildet hat. Es ist wichtig, daß sich die Organisationen der Zivilgesellschaft, also etwa Gewerkschaften und Berufsverbände, eine gewisse Autonomie von den politischen Parteien erkämpfen. Nur dann können sie auch zur Demokratisierung der Gesellschaft beitragen. Bislang sind diese Organisationen noch nicht stark genug, um die Demokratie in El Salvador zu tragen. Ich denke aber, wir werden hier bald eine sehr starke soziale Bewegung haben, die klare Forderungen an die staatlichen Institutionen stellt. Die Parteien sollten ihrerseits versuchen, die soziale Bewegung zu unterstützen.
Und wie wird es mit der FMLN nach den Wahlen weitergehen? Wird sie einen Platz in der Gesellschaft finden? Und vor allem, kann sie ihre Einheit aufrechterhalten?
Die FMLN hat es von allen Parteien am schwierigsten, da sie ja noch nicht einmal zwei Jahre als politische Partei existiert. Die FMLN entstand aus gesellschaftlichen Organisationen, die subversiv tätig waren. Danach trat die FMLN in einen Krieg gegen das Regime ein, wurde dabei aber von der Zivilgesellschaft isoliert. Jetzt fällt es ihr am schwersten, sich in der Zivilgesellschaft wieder zurechtfinden. Niemand hat das Recht, sie für ihre Probleme zu kritisieren. Die Transformation, die sie zu leisten hat, ist gewaltig.
Wird die FMLN sich spalten?
Ich denke, die FMLN sollte sich als Front oder Bündnis von fünf unabhängigen Parteien definieren. Dann wird es auch einfacher, die Unterschiede, die zwischen den fünf Parteien existieren, zu akzeptieren. Das ist die Transformation, die die FMLN leisten muß. Ob es eine Spaltung geben wird, weiß ich nicht. Es wird aber sicher etwas neues entstehen.
Werden alle fünf Organisationen weiterbestehen, oder kann es sein, daß einige verschwinden?
Langfristig werden höchstens drei Parteien bestehen bleiben: das ERP, die FPL und die PCS. Die beiden anderen sind zu klein, um langfristig als unabhängige Parteien weiterzubestehen. Die RN wird wieder zu ihrem Ursprung, zum ERP, zurückkehren. Schwierig wird es für die PRTC, die schließlich aus keiner der anderen Parteien entstanden ist, sondern als Projekt einer gemeinsamen zentralamerikanischen Partei. Nur daß diese Versuche in den anderen zentralamerikansichen Ländern gescheitert sind.
Was wird aus dem ERP werden? Das ERP ist bereits gespalten, die Tendencia Democrática hat das ERP verlassen, ist aber weiterhin in der FMLN, ohne Mitglied irgendeiner der fünf Organisationen zu sein. Joaquín Villalobos hat bereits seit einem Jahr intensive Kontakte zur Christdemokratischen Partei. Könnte daraus etwas Neues entstehen?
Die FMLN hat in den östlichen Landesteilen, dort wo das ERP stark ist, am schlechtesten abgeschnitten. Dies wird auf die zukünftigen Diskussionen sicherlich Einfluß haben. Das ERP muß aufpassen, daß es seine soziale Basis nicht verliert. Eine Allianz mit den Christdemokraten möchte ich natürlich nicht ausschließen. Im Parlament wird die gesamte FMLN bemüht sein, mit den Christdemokraten eine gemeinsame Linie für Abstimmungen zu erreichen.