El Salvador | Nummer 239 - Mai 1994

“Selbst die Rechte mißtraut dem Wahlergebnis…”

“Selbst die Rechte mißtraut dem Wahlergebnis…”

Dada Hirezi war Außenminister der ersten “Revolutionären Regierungsjunta” nach dem Militärputsch vom 15. Oktober 1979. Nach dem Austritt der linken Regierungs- und Juntamitglieder Anfang 1980, trat der Christdemokrat am 5.1.80 – als eines von drei zivilen Mitgliedern -in die zweite Junta ein. Als die Re­pression des Militärs jedoch immer stärker wurde, verließ er am 3.3.80 die Junta sowie die Christdemokratische Partei (PDC). Da er bereits auf den Listen der Todesschwadronen stand, ging er ins Exil. Erst Anfang der 90er Jahre kehrte er nach El Salvador zurückund ist seitdem Leiter des sozialwissenschaft­lichen Forschungsinstitus FLACSO in San Salvador. Im Sommer 1993 wollte die FMLN ihn zur Präsidentschaftskandidatur bewegen, er lehnte jedoch ab. Heute gilt Dada Hirezi als einer der anerkanntesten und renommiertesten Sozialwissen­schaftler des Landes. Die Lateinamerika-Nachrichten sprachen mit ihm nach dem ersten Wahlgang in San Salvador.

Interview: Michael Krämer

LN: Hat Sie das Ergebnis der Wahlen erstaunt?
Dada Hirezi: Ja, aber nicht wegen des ho­hen Stimmenanteils von fast 50 Prozent für ARENA, den ich niedriger erwartet hatte, sondern wegen der hohen Zahl von Menschen, die nicht wählten. Ich ver­meide bewußt den Begriff “Wahlenthaltung”, da viele, die wählen wollten, nicht wählen durften. Ich hätte nie geglaubt, daß es so viele Fehler im Wählerverzeichnis gibt. Selbst einige Funktionäre der Vereinten Nationen sind erstaunt über die hohe Zahl derer, die am Wahlsonntag nicht im Wählerverzeichnis aufgetaucht sind. Ich habe nicht damit ge­rechnet, daß die Wahlen so ungeordnet ablaufen…

Aber wenn die Menschen nicht im Wählerverzeichnis waren und keinen Wahlausweis hatten, erscheint dies auch nicht als Wahlenthaltung…
Richtig, genau davon wollte ich sprechen. Ich habe große Zweifel, ob die Zahlen, die der Oberste Wahlrat (TSE) veröffentlicht hat, richtig sind. Der TSE sprach von 2,7 Millionen Wählern, aber da waren eine Unmenge von Toten dabei. Ich habe am Wahlsonntag im Wählerverzeichnis die Namen mehrerer Verwandter entdeckt, die bereits tot sind. Es gibt unglaublich viele dieser Fälle. Oder die Leute durften nicht wählen, weil ihr Name nicht im Verzeich­nis auftauchte, jedoch ein Name der sehr ähnlich war. Das ist schon komisch, wo doch das Wählerverzeichnis und die Wahlausweise aufgrund der selben Daten erstellt worden sind. Also: ist das nur ein Fehler? Aber wie soll dieser Fehler ent­stehen? Und wenn es Absicht war? Was wurde damit bezweckt? Ich beschuldige niemanden, einen Wahlbetrug ausgeführt zu haben; ich habe auch keine Beweise. Aber die Zahlen beweisen, daß der TSE unglaublich schlecht und unverantwortlich gehandelt hat. Das hat selbst Armando Calderón Sol betätigt.

Gab es nun einen Wahlbetrug oder le­diglich – wie die FMLN dies ausdrückt – große Unregelmäßigkeiten?
Wenn die Unregelmäßigkeiten Absicht waren, war es Betrug. Wenn sie unab­sichtlich zustande gekommen sind, zeigen sie die Unfähigkeit des TSE, Wahlen zu organisieren. Aber dies ist letzlich gar nicht entscheidend. Was zählt ist, daß die Leute denken, daß das Ergebnis der Wahlen nicht legitim ist. Und dabei ist ganz gleich, wer gewonnen hat. Die Wahlen waren ein wichtiger Schritt in der Kon­struktion der Demokratie in unserem Land, und jetzt denken viele, daß dies in El Salvador nicht möglich ist.

Wird dadurch die Unzufriedenheit mit dem Friedensprozeß in El Salvador wei­ter anwachsen?
Das Vertrauen in die Möglichkeit, in El Salvador eine Demokratie zu errichten, war eine entscheidende Grundlage des Friedensprozesses. Dieses Vertrauen ist jetzt enttäuscht. Selbst die Rechte mißtraut dem Wahlergebnis und glaubt, daß sie Wahlen gewonnen hat, die nicht sauber waren. Es waren mindestens 15 Prozent, die von den Wahlen ausgeschlossen wur­den, wie ONUSAL-Chef Ramírez Ocampo sagt. 15 Prozent ist aber einfach zu viel. Gerade bei den Gemeindewahlen hätten die Ergebnisse sonst tatsächlich ganz anders ausgesehen. Das Ge­sprächsthema sind die Unregelmäßigkei­ten bei den Wahlen und nicht, wer ge­wonnen hat. Das ist sehr gefährlich.

Gerade in den Orten, in denen die “Wahlenthaltung” am niedrigsten war, hat die FMLN gewonnen, wie in Cin­quera oder in El Rosario. Sind das nicht deutliche Zeichen für einen Wahlbe­trug?
Das sind deutliche Zeichen. Ich wollte von diesen Fällen nicht sprechen, um nicht den Eindruck zu erwecken, daß ich es für schlecht hielte, daß ARENA ge­wonnen hat. Ich denke, es ist nicht ent­scheidend, wer gewonnen hat. Das größte Problem ist meiner Meinung, daß die Wahlen nicht sauber waren.

Was halten Sie von der Position von ONUSAL in diesem Zusammenhang? ONUSAL hat sofort nach den Wahlen gesagt, daß es zwar einige Probleme gab, die Wahlen insgesamt aber akzep­tabel seien.
Die offizielle Position von ONUSAL wi­derspricht der Haltung einiger ihrer Funk­tionäre, die von schweren Behinderungen in einigen Orten sprechen. Aber man muß sich auch in die Lage von ONUSAL ver­setzen. El Salvador ist für die gesamten Vereinten Nationen ein Vorzeigeland. Sie nennen es den erfolgreichsten Friedens­prozeß auf der ganzen Welt. Da ist es für die Vereinten Nationen fast unmöglich, Bereiche zuzugeben, in denen der Frie­densprozeß gescheitert ist. Das gab es schon öfter. Beim Amnestiegesetz, das es letztes Jahr gleich nach der Veröffentli­chung des Berichts der Wahrheitskommis­sion gab, war es so ähnlich. Die Vereinten Nationen protestierten nur sehr zurück­haltend, obwohl die Amnestie ein Skandal und ein Affront gegen die Vereinten Na­tionen ist. Aber ich kann die Zurückhal­tung der Vereinten Nationen fast verste­hen: El Salvador ist ihr Friedensprozeß. Und insgesamt kann sich das Ergebnis von ONUSAL sehen lassen, ihre Beteili­gung am Friedensprozeß war sehr wichtig.

Hätte ONUSAL aber nicht noch mehr erreichen können?
Auf jeden Fall, viel mehr. Manchmal hat ihnen die Konsequenz gefehlt, manchmal waren sie zu zurückhaltend.

Über 600.000 Menschen haben für ARENA gestimmt. Wie kommt es, daß ARENA eine so große soziale Basis ge­rade auch bei den Armen hat?
Dazu gibt es in ganz Lateinamerika viele Analysen. Das oberste Ziel der armen Be­völkerung ist zu überleben. Und irgend­wann fangen diese Menschen in ihrer Mi­sere an zu glauben, daß die Tatsache, daß sie überhaupt überleben können, ein Zu­geständnis der Mächtigen ist. Dann wäh­len sie auch noch deren Parteien und ge­ben sich mit dem Status Quo zufrieden. Sie fürchten sich vor dem Neuen. Jetzt können sie zumindest überleben. Wenn sich die Situation ändert, könnte es ja noch schlimmer werden. Au­ßerdem hat ARENA in ihrem Wahlkampf sehr ge­schickt Angst und Terror verbrei­tet: “Im Falle eines Wahlsieges der Lin­ken, gibt es wieder Krieg”, war eine häu­fige Parole von ARENA auf Wahlveran­staltungen.

Und wie war der Wahlkampf der Op­position?
Die Opposition hat nicht deutlich ge­macht, welche Alternative sie anzubieten hat. Damit meine ich vor allem die Christ­demokraten, die hätten deutlich machen müssen, daß auch sie ein Projekt für El Salvador haben. Dann wäre die Polarisie­rung im Wahlkampf vermutlich auch nicht so stark gewesen. Der Wahlkampf lief sehr US-amerikanisch ab. Es ging zu we­nig um Inhalte.

Und die Linke?
Die Wahlkampagne der Linken war sehr diffus. Und sie haben auf die Anschuldi­gungen von ARENA viel zu defensiv rea­giert. Rubén Zamora, der Präsident­schaftskandidat der Opposition, hat immer wieder betont, auch er stehe in Verhandlun­gen mit den Unternehmern, bei seinem Wahlsieg werde es keine wirtschaftli­chen Probleme geben. Aber wieso sollten die Menschen denn die Op­position wählen, wenn sie sich vor allem um die Unternehmer bemüht, das kann die Regie­rungspartei viel besser. Ich denke, daß die Opposition mit einer etwas offen­siveren Kampagne besser abgeschnitten hätte, vor allem bei den Mittelschichten der Städte und den öffentlichen Ange­stellten. Die Linke wollte die Polarisie­rung, wie sie im Krieg bestand, vermei­den. Aber als ARENA zu polarisieren be­gann, blieb die Oppositionskoalition de­fensiv. Das war ein Fehler. Mit einem de­fensiven Wahl­kampf kann man nicht auf die Attacken des Gegners reagieren.

Wie sehen Sie die Zukunft des Landes, vor allem falls ARENA, wie es zu er­warten ist, den zweiten Wahlgang ge­winnt und Calderón Sol Präsident wird?
Durch den Wahlsieg von Calderón Sol – ich bin mir sicher, daß er in der zweiten Runde gewinnen wird – wird es weitere Probleme im Friedensprozeß geben. ARENA wird versuchen, die Elemente des Friedensabkommens, die noch nicht er­füllt sind, weiter zu verzögern oder zu verhindern, zum Beispiel die Reform des Justizsystems. Bei der Polizei werden sie versuchen, die alte Nationalpolizei mit der neuen Zivilen Nationalpolizei zu ver­schmelzen. Aber das, was bereits erreicht ist, können sie nicht mehr umkehren.

Welche Auswirkungen hat das auf die salvadorianische Gesellschaft?
Das Problem ist, daß sich in El Salvador noch keine starke Zivilgesellschaft her­ausgebildet hat. Es ist wichtig, daß sich die Organisationen der Zivilgesellschaft, also etwa Gewerkschaften und Berufsver­bände, eine gewisse Autonomie von den politischen Parteien erkämpfen. Nur dann können sie auch zur Demokratisierung der Gesellschaft beitragen. Bislang sind diese Organisationen noch nicht stark genug, um die Demokratie in El Salvador zu tra­gen. Ich denke aber, wir werden hier bald eine sehr starke soziale Bewegung haben, die klare Forderungen an die staatlichen Institutionen stellt. Die Parteien sollten ih­rerseits versuchen, die soziale Bewegung zu unterstützen.

Und wie wird es mit der FMLN nach den Wahlen weitergehen? Wird sie einen Platz in der Gesellschaft finden? Und vor allem, kann sie ihre Einheit aufrechterhalten?
Die FMLN hat es von allen Parteien am schwierigsten, da sie ja noch nicht einmal zwei Jahre als politische Partei existiert. Die FMLN entstand aus gesellschaftlichen Organisationen, die subversiv tätig waren. Danach trat die FMLN in einen Krieg ge­gen das Regime ein, wurde dabei aber von der Zivilgesellschaft isoliert. Jetzt fällt es ihr am schwersten, sich in der Zivilgesell­schaft wieder zurechtfinden. Niemand hat das Recht, sie für ihre Probleme zu kriti­sieren. Die Transformation, die sie zu lei­sten hat, ist gewaltig.

Wird die FMLN sich spalten?
Ich denke, die FMLN sollte sich als Front oder Bündnis von fünf unabhängigen Parteien definieren. Dann wird es auch einfacher, die Unterschiede, die zwischen den fünf Parteien existieren, zu akzeptie­ren. Das ist die Transformation, die die FMLN leisten muß. Ob es eine Spaltung geben wird, weiß ich nicht. Es wird aber sicher etwas neues entstehen.

Werden alle fünf Organisationen wei­terbestehen, oder kann es sein, daß ei­nige verschwinden?
Langfristig werden höchstens drei Par­teien bestehen bleiben: das ERP, die FPL und die PCS. Die beiden anderen sind zu klein, um langfristig als unabhängige Parteien weiterzubestehen. Die RN wird wieder zu ihrem Ursprung, zum ERP, zu­rückkehren. Schwierig wird es für die PRTC, die schließlich aus keiner der an­deren Parteien entstanden ist, sondern als Projekt einer gemeinsamen zentralameri­kanischen Partei. Nur daß diese Versuche in den anderen zentralamerikansichen Ländern gescheitert sind.

Was wird aus dem ERP werden? Das ERP ist bereits gespalten, die Tendencia Democrática hat das ERP verlassen, ist aber weiterhin in der FMLN, ohne Mit­glied irgendeiner der fünf Organisatio­nen zu sein. Joaquín Villalobos hat be­reits seit einem Jahr intensive Kontakte zur Christdemokratischen Partei. Könnte daraus etwas Neues entstehen?
Die FMLN hat in den östlichen Landes­teilen, dort wo das ERP stark ist, am schlechtesten abgeschnitten. Dies wird auf die zukünftigen Diskussionen sicherlich Einfluß haben. Das ERP muß aufpassen, daß es seine soziale Basis nicht verliert. Eine Allianz mit den Christdemokraten möchte ich natürlich nicht ausschließen. Im Parlament wird die gesamte FMLN bemüht sein, mit den Christdemokraten eine gemeinsame Linie für Abstimmungen zu erreichen.

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